Der vertauschte Sohn

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LUIGI, DER VERTAUSCHTE SOHN

Mit dem Eintritt in ein Alter, in dem er nachzudenken beginnt, stellen sich bei dem kleinen Luigi Zweifel an seiner Zugehörigkeit ein. Was hat er, der sich alles wohl überlegt, der überhaupt nicht lausbubenhaft ist, der sich in sich zurückzuziehen versteht, der zwischen kastanienbraunen Locken, die ihm seitlich ins Gesicht fallen, aus großen, aufmerksamen Augen blickt (so porträtiert er sich in der Novelle Die kleine Madonnenstatue; La madonnina), mit dieser brüllenden, unbeherrschten Hünengestalt des Vaters zu tun, der die Mutter so oft zum Weinen bringt?

Doch Vorsicht: Stefano Pirandello war kein grober, ungebildeter Klotz, wie es scheinen könnte, wenn wir ihn nur mit den Augen des kleinen Luigi sähen. Er war beispielsweise Schüler des großen Humanisten Gaetano Daita, der ihm unter anderem Englisch und Französisch beigebracht hatte, damals wie heute unverzichtbare Sprachen für jemanden, der Handelskaufmann werden will. Das Problem lag in seinem Charakter.

Die Geschichte vom vertauschten Sohn, die Maria Stella ihm erzählt hatte, war für ihn eine Art Offenbarung: nicht nur, daß er am falschen Ort und am falschen Tag geboren wurde, sondern möglicherweise war dieses abstürzende Glühwürmchen (als solches hatte er sich ja seine Geburt vorgestellt) auch noch in die falsche Familie gekommen. Ja, ganz sicher ist es so gewesen, denn er fühlt, daß er zu einer anderen Familie gehört, zu einem anderen Schlag.

Über die Verschiedenheit der Sizilianer untereinander hat Vitaliano Brancati Erhellendes geschrieben.

»Hier in Sizilien ist es – wenn man von Signor Luciano zu Signor Maddalena wechselt (was man tut, wenn man einen Treppenabsatz mit nur einer Stufe überquert) – so, wie wenn man von einer Konstellation zur anderen flöge.«

Und Brancati war es auch, der uns von grundlegenden Unterschiedlichkeiten im Hinblick auf Charakter und Temperament innerhalb derselben Familie erzählt hat.

Der Kreislauf von Stefanos heißem Blut ist nicht der gleiche wie der von Luigis kaltem Blut (um in einem Brancati verwandten Sprachgebrauch zu bleiben). Nur, daß die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen, doch Luigi wird sein ganzes Leben damit zubringen, dies zu begreifen, er, der Theoretiker (wie Tilgher ihn nannte) des Unterschieds zwischen Leben und Form.

Wie dem auch sei, die Geschichte, die Maria Stella ihm erzählt hat, hat in gewisser Weise die vielen Unsicherheiten des kleinen Luigi verdichtet und in eine Gewißheit verwandelt: er ist ein vertauschter Sohn.

Und er drängt Maria Stella so sehr, daß sie ihn, ohne Wissen der Eltern, zu einem zwar von den Hexen nicht gestohlenen, sondern nur ›verlegten‹ Neugeborenen bringt, ein vielleicht ins Leere gegangener Versuch des Vertauschens, denn der Säugling wurde nicht in der Wiege wiedergefunden, wo er geschlafen hatte, sondern in der Küche, unter dem Tisch.

Und Maria Stella war es auch, die dem kleinen Luigi eines Tages, so als bedeute das nichts weiter, erzählte, sie sei in der Via San Pietro dem Geist des Ermordeten begegnet, dessen Schreie sie an jenem Abend ignoriert hatte, als sie die Fenster verriegelte. Ganz sicher hatten ein winziges Häufchen Gewissensbisse und sehr viel Aberglaube dieses Gespenst erschaffen, aber auch dieses Thema wird den kleinen Luigino noch tief berühren.

DAS SAKRILEG

Wie schon gesagt, geht die Familie Pirandello nicht in die Kirche San Pietro. Sonntags geht sie nicht einmal zur Messe. Sie sind die wohlhabendsten Bewohner dieser Straße von armen Schluckern und geben, in den Augen des Pfründeneigners, Padre Sparma, ein schlechtes Beispiel für alle ab.

In der Novelle Die kleine Madonnenstatue, die eine wichtige Episode aus der Kindheit des kleinen Luigi erzählt, kann Padre Sparma (der hier Don Fiorìca heißt, während der Name Pirandello in Greli verändert wird) keinen Frieden über dieses Verhalten finden, das irgendwie Anstoß erregt.

Der hochwürdige Pfarrer Fiorìca hatte ja seit Jahren den Stachel im Herzen, daß diese Familie der Heiligen Mutter Kirche ferne stand, nicht weil sie dem Glauben tatsächlich feindlich gesonnen war, sondern deshalb, weil die Kirche nach dem Urteil Herrn Grelis (der ein alter Garibaldiner war, einer der Genueser Carabinieri im Feldzug von 1860, in der Schlacht von Milazzo am Arm verwundet) darauf beharrte, die Feindin des Vaterlands zu bleiben: Und das mußte für einen Patrioten wie Herrn Greli Grund genug sein zu glauben, er könne sie nie wieder betreten.

Padre Sparma versuchte es auf alle nur möglichen Weisen, die Sympathie des Ex-Garibaldiners zu gewinnen: oft postierte er sich eigens, wenn er merkte, daß Stefano Pirandello vorbeikommen würde, und wenn dieser im Visier auftauchte, grüßte er ihn mit einer freundlichen Verbeugung, mit würdevoller Demut und einem breiten Lächeln. Doch der stirn runzelnde Don Stefano wich schon von weitem aus und erwiderte den Gruß kaum merklich, mit brüsker Härte.

Natürlich war es das Hausmädchen Maria Stella, die dem kleinen Luigi von der lieben Madonna, von dem lieben Herrn und von dem lieben Jesuskind erzählte. Aber sie war viel zu ängstlich, den Kleinen mit in die Kirche zu nehmen ohne die Einwilligung ihrer Herrschaften, die sie ihr mit Sicherheit verweigert hätten.

Don Stefanos tägliche Arbeit war hart und ermüdend, oft kehrte er am Rand der Erschöpfung nach Hause zurück. Nach dem Essen war er in der Lage, eine knappe Stunde zu schlafen, um neue Kräfte für den Rest des Tages zu schöpfen.

Einmal, nach dem Mittagessen, als er sich gerade aufs Bett geworfen hat, kann er kein Auge zumachen, weil die Glocken von San Pietro unaufhörlich für ein religiöses Fest bimmeln. Don Stefano wirft sich im Bett von einer Seite auf die andere und wird immer zorniger und nervöser.

Schließlich, als es ihm zuviel wird und er meint, er würde jetzt verrückt werden, springt er aus dem Bett, ergreift das Gewehr, steigt, so wie er ist, in der Unterhose auf die Dachterrasse und feuert von dort zweimal aus seiner Lupara auf die Glocken.

Von den dreien traf er auf der rechten Seite die mit dem grellsten Klang – er hatte eben noch das scharfe Auge des ehemaligen Genueser Carabiniere! Aber die arme Glocke! Sie benahm sich wie eine Hündin, die aus dem Hinterhalt ein Stein trifft, während sie gerade lärmend ihren Herrn begrüßt, und die dann plötzlich von freudigem Gebell in ein schrilles Heulen umschlägt. Die ganze Pfarrgemeinde, die sich zur Feier des Festes vor der Kirche versammelt hatte, geriet in Aufruhr und empörte sich über dieses Sakrileg. Und es war eine wahre Gnade Gottes, daß es dem hochwürdigen Pfarrer Fiorìca gelang, mit seiner Autorität zu verhindern, daß unter seinen Gläubigen vollends Tumult ausbrach und ihr Zorn sich am Haus der Greli entlud.

DIE KIRCHE ALS FAMILIE

Padre Sparma gelingt es, die Ruhe unter den Gläubigen wieder herzustellen, die das Haus der Pirandellos belagern und Don Stefano das Versprechen für eine neue Glocke abtrotzen (und Don Stefano hielt sein Versprechen). Doch die Ruhe kehrt nicht in das Herz des kleinen Luigi zurück, das durch seinen Vaters erneut verletzt ist. Ihn hat das Sakrileg des Vaters bestürzt, und er will mit aller Kraft deutlich machen, daß er und sein Vater nichts miteinander gemeinsam haben. Daher bittet er das Hausmädchen flehentlich, sie solle ihn mit in die Kirche nehmen, wenn sie geht.

»Und wenn das dein Vater nicht will?« sagte die Dienerin.

Doch Guiduccio (so nannte sich Pirandello als kleiner Junge in dieser Novelle) beharrte, und ein Schauder durchfuhr ihn bei jedem Glockenschlag, der verhalten immer wieder durch die Nacht rief.

Am Ende entschließt sich die Dienerin, ihn in die Kirche zu begleiten. Und diesem ersten Besuch folgen weitere.

Als sie dann auf dem Kirchenplatz angelangt waren, hob er die Augen zu dem Glockenturm empor, und auf die rätselhafte Unruhe, die ihm von dorther zu kommen schien, antwortete nicht weniger rätselhaft das Gefühl des Trostes, das ihm, kaum daß er die Kirche betreten hatte, von den freundlichen Kerzen zuströmte, die da am Altar brannten, in der Kühle des feierlichen, weihrauchgetränkten Schattens.

Sicher fängt er an, sich Fragen zu stellen. Ob die Kirche ein Ort ist, den seine Familie nur deshalb nicht besucht, weil er sich, im Gegensatz zu ihnen, dort unendlich wohl fühlt? Ist das nicht ein weiteres Anzeichen dafür, daß er in die falsche Familie gestürzt ist? Und wenn er ein vertauschter Sohn ist, ist es dann nicht möglich, daß sein richtiger Vater hier ist, in dieser Kirche?

Als der Pfarrer den kleinen Luigi vor dem Altar knien sieht, ist er bewegt, streichelt ihn, führt ihn in die Sakristei. Aber er fordert, daß der Kleine es seiner Mutter erzählt und mit ihrer Zustimmung zurückkehrt. Darin kommen sie überein (möglicherweise ohne Wissen von Don Stefano). Der kleine Luigi verfällt in eine ausgesprochen mystische Krise.

Und wenn er so vor sich die weit aufgerissenen, glühenden, aufmerksamen Augen in dem blassen, aufgeweckten Gesicht sah, dann erzitterte der hochwürdige Pfarrer Fiorìca vor Rührung ob der Gnade, die Gott ihm schenkte, weil er das wunderbare Aufblühen des Glaubens in dieser reinen Kinderseele genießen durfte … dann empfand er eine solche Freude und zugleich eine solche Beklemmung, daß ihm beinahe schien, als risse ihm die Seele entzwei. »Oh, mein Kind! Was mag Gott wohl von dir noch wollen?«

Der kleine Luigi vermehrt seine Gebete, lebt fortwährend in einem fiebernden Zustand.

 

Eines Tages erhält er aus Palermo einen eigens für ihn gemachten Matrosenanzug. Luigi zieht ihn an und geht damit aus dem Haus. Er macht ein paar Schritte, trifft auf der Straße einen ebenso kleinen Jungen wie er es ist, den er in der Kirche kennengelernt hat, bettelarm, mit völlig zerschlissenen Sachen an, unter denen man die Haut sieht. Alles geschieht in einem Augenblick. Ohne ein Wort zieht er den neuen Anzug aus, gibt ihn seinem Freund und kehrt nach Hause zurück, bereit, sich den unvermeidlichen Vorwürfen der Mutter zu stellen.

Paradoxerweise wird es eine weitere gute Tat sein, die ihn den Glauben kosten wird.

Allerdings muß vorausgeschickt werden, daß der kleine Luigi bereits zu den Sizilianern gehört, für die die schwerste Schuld, mit der ein Mensch sich beflecken kann, die Täuschung – auch wenn sie für etwas Gutes eingesetzt wurde – gegenüber der Freundschaft, der Familie, einer Vereinbarung, einer Zuneigung ist.

Im Marienmonat Mai pflegte Padre Sparma unter den Gläubigen eine kleine Madonnenstatue aus Wachs zu verlosen, die unter einer Glasglocke stand. Jedes Los kostete einen Soldo, das waren zehn Cents.

Der Sakristan hatte während der Woche den Verkauf über und schrieb auf jedes Los den Namen des Käufers. Am Sonntag wurden dann alle Lose eingerollt in eine Glasschüssel geworfen; der hochwürdige Pfarrer Fiorìca versenkte dann seine Hand da hinein, mischte ein wenig durcheinander, unter dem erwartungsvollen Schweigen all der knienden Gläubigen, zog eines heraus, zeigte es vor, rollte es auf und las durch die auf die Nase gesetzten Augengläser den Namen vor. Dann wurde die Madonna in einer kleinen Prozession mit Gesängen und Trommelbegleitung zum Haus des Gewinners geführt.

Es war zu einem festen Brauch geworden, daß Donna Caterina Luigi jeden Sonntag zehn Cents gab, mit denen er sich Süßigkeiten kaufen durfte: doch diese zehn Cents teilte Luigi mit neun armen Freunden, einen Cent pro Mann, den letzten behielt er für sich. An dem Tag, als er in die Kirche ging, um ein Los mit dem Cent zu kaufen, der ihm verblieben war, wurde er gleich an der Türe von einem völlig zerzausten und barfüßigen Jungen angesprochen, der, seit drei Wochen krank, … Guiduccio jetzt mit dem letzten Geldstück in der Hand sah und ihn fragte, ob das nicht für ihn bestimmt sei. Und Guiduccio gab es ihm.

Mithin konnte Luigi sich kein Los kaufen. Am Tag der Auslosung wartet er still und schweigsam, daß der Pfarrer das Los entrollt und den Namen des glücklichen Gewinners verliest, der mit Sicherheit nicht er sein kann. Doch völlig unerwartet nennt Padre Sparma mit lauter Stimme und sehr deutlich seinen Vor- und seinen Nachnamen: Luigino Pirandello.

Der wirkliche Name ist der eines anderen. Bewußt hat Padre Sparma einen Betrug inszeniert, in der Hoffnung, daß der Einzug der kleinen Madonna ins Haus Pirandello das Wunder vollbringt, diese Familie mit den ›Dingen Gottes‹ zu versöhnen, wie man das nannte und damit den Besuch der heiligen Handlungen der Kirche meinte.

Bei dem Jubel, der daraufhin unter allen Gläubigen ausbrach, wurde Guiduccio zunächst glühend rot, dann kreidebleich, runzelte die Brauen über den großen, erregten Augen, begann verkrampft am ganzen Leibe zu zittern, versteckte das Gesicht zwischen den Händen, huschte hin und her, um sich dem Zugriff der Frauen zu entwinden, die ihn küssen und beglückwünschen wollten, und dann rannte er fort aus der Kirche, fort, nur fort, flüchtete nach Hause, stürzte Mutter in die Arme und brach in ein frenetisches Weinen aus.

Die Aufregung des kleinen Luigi erreicht ihren Höhepunkt, als er die Trommelklänge der Prozession näherkommen hört, die sich eigens gebildet hatte, um die kleine Statue zu ihm nach Hause zu führen.

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Ich will sie nicht! Schickt sie wieder fort! Es ist nicht wahr! Ich will sie nicht!«

Um den Kleinen zu beruhigen, der wie ein vom Wind gepeitschter Baum zittert, gibt Signora Pirandello Anweisung, daß die kleine Statue wieder in die Kirche zurückgebracht werden soll.

Doch der nicht wieder gutzumachende Schaden ist bereits erfolgt.

Unter Schluchzen wird dem kleinen Luigi wieder einmal klar, daß er ins falsche Haus gekommen ist: seine Familie kann keine sein, in der man Lügen und Täuschungen einsetzt, um bestimmte Ergebnisse zu erreichen. Den Glauben hat er für immer verloren.

Und Jahre später wird er in Bonn, auf der Universität, wo er studiert, in den Fragebogen, der die persönlichen Daten aller Immatrikulierten erfaßt, unter der Rubrik ›Religion‹ schreiben: ›Atheist‹.

DIE FRAGE

Während Don Stefano wegen seiner Geschäfte in Palermo festgehalten wird, erkrankt Donna Caterina schwer und bekommt hohes Fieber. Ihre Schwester Concettina, die ebenfalls in Girgenti wohnt, kommt mit einer Kutsche und bringt die Kranke und die kleinen Mädchen zu sich nach Hause. Luigi bleibt mit dem Hausmädchen in der Via San Pietro. Wenn Maria Stella hinausgeht, um einzukaufen, nimmt sie den kleinen Luigi mit.

Eines Morgens, als sie vom Markt zurückkommen, haben, gleich nach der Einbiegung in die Via San Pietro, zwei kleine Jungen Maria Stella schweinisches Zeug gesagt. Sie ging zwar schneller, konnte aber wegen des kleines Luigi, den sie an der Hand hielt, nicht laufen.

Einer der beiden war ein paar Schritte vorausgelaufen, hatte sich dann umgedreht und, während er das Mädchen scharf ansah, eine Hand an den Schritt seiner Hose geführt.

»Na, willste dir meinen Schwanz angucken, Bella?« fragte er sie im Dialekt.

Lachend hatte er die Arme ausgebreitet und angefangen, die Hüften vor- und zurückzubewegen:

»Willste dir meinen nicht reinstecken?«

Jetzt fing Maria Stella an, laut zu schreien, und die beiden Jungs machten sich blitzschnell aus dem Staub.

Jeden Abend, wenn der kleine Luigi schlafen ging, setzte sich das Hausmädchen an sein Bett und erzählte ihm eine Geschichte. Am Abend dieses Ereignisses hatte sie nicht einmal Zeit, den Mund aufzumachen, als der Kleine sie schon fragte:

»Was meinte der mit ›reinstecken‹?«

Trotz des schwachen Lichts, das die Lampe auf dem Nachttisch abgab, konnte der kleine Luigi bemerken, daß Maria Stella schlagartig errötet war.

Und sie antwortete im Dialekt: »Junger Herr, stellen Sie mir keine solchen Fragen.«

»Doch, ich stell’ sie dir aber. Was meinte der mit ›reinstecken‹?«

Maria Stella schlug die Hände vors Gesicht, dann bekreuzigte sie sich und entschloß sich zu antworten.

»Das ist etwas, das ein Mann und eine Frau machen, wenn sie verheiratet sind.«

Der kleine Luigi gab sich nicht zufrieden, er bombardierte sie mit Fragen. Und Maria Stella, die inzwischen zu einer Feuerlohe geworden war und wegen ihrer Errötung fast schon mehr Licht gab als die Lampe, machte weiter mit ihren Erklärungen, so gut sie dazu in der Lage war.

Irgendwann sagte der Junge, jetzt sei er müde. Das Hausmädchen gab ihm einen Kuß auf die Stirn, löschte die Lampe und ging, von dieser Pein endlich befreit, eilig aus dem Zimmer.

Doch der kleine Luigi hatte gelogen, es stimmte nicht, daß er schlafen wollte, er wollte nur alleine sein, um nachzudenken, immer wieder nachzudenken über das, was er gerade eben gehört, was er gerade eben gelernt hatte. Und je öfter er in Gedanken darauf zurückkam, um so deutlicher spürte er in seiner Magengrube eine schwere Last.

Nach einer Stunde, während der es ihm sehr schlecht ging, stand er hurtig auf, ging zur Toilette und übergab sich. Vielleicht waren ja die Meerbarben, die Maria Stella zum Abendessen für ihn zubereitet hatte, nicht frisch gewesen.

DIE ÜBERTRETUNG

Am nächsten Vormittag kam Tante Concettinas Hausmädchen und teilte mit, daß Donna Caterina wieder gesund sei und am folgenden Samstag nach Hause zurückkehren würde. Der kleine Luigi wußte nicht, ob er Freude oder Bedauern über diese Nachricht empfinden sollte: wenn die Mutter zurückkäme, würde er morgens nicht mehr mit Maria Stella zum Markt gehen, andererseits fing die Abwesenheit der Mutter an, ihn zu belasten. Er überlegte schnell: bis zur Rückkehr der Mutter würden ihm noch drei Tage einer relativen Freiheit bleiben.

Während der Abwesenheit ihrer Herrin hatte Maria Stella die Gewohnheit angenommen, sich gleich nach dem Mittagessen hinzulegen und zu schlafen, und der kleine Luigi nahm diese Gelegenheit wahr, um vorsichtig die Fensterläden einen Spalt breit zu öffnen und zu beobachten, was auf der Straße vor sich ging.

Freitagmorgen gingen sie frühzeitig zum Markt, wo das Hausmädchen, angesichts der Rückkehr von Donna Caterina und den anderen Kindern, mehr als sonst einkaufte. Nachdem sie wieder zurück waren, sagte Maria Stella, Luigino solle in seinem Zimmer bleiben: sie müsse gründlich sauber machen, die Möbel abstauben und den Fußboden aufwischen. Sie wollte, daß ihre Herrin bei ihrer Rückkehr das Haus blitzblank vorfand. Luigino gehorchte, und als er hörte, daß das Hausmädchen im Wohnzimmer angefangen hatte zu singen, öffnete er die Fensterläden ein ganz klein wenig und schaute hinaus.

Er sah einen alten Mann vorübergehen, der hinkte und eine Ziege hinter sich herzog, die ebenfalls hinkte, einen Karren mit einem Lenker, der auf einem Auge blind war, einen armen Mann, dem ein Arm fehlte, und einen Hund, der, abgesehen von seiner Räude, der einzige zu sein schien, an dem alles vorhanden war.

Dann sah er eine Art von Prozession, die näherkam.

Zwei Männer trugen eine Bahre, auf der, in ein schwarzes Laken gewickelt, eine menschliche Gestalt lag. Dahinter ging einer, der eine Uniform trug.

Vor der Türe des Turms blieb die Wache stehen, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete. Alle verschwanden dort hinein. Kurze Zeit später kamen die Männer wieder heraus, sie hatten die Bahre bei sich und das Laken. Doch die Wache verschloß die Türe nicht, nachdem er ihre Flügel zugezogen hatte, vielleicht weil er von einem der Bahrenträger abgelenkt wurde, der ihm etwas sagte. Dann gingen sie weg.

Der kleine Luigi spürte, wie sein Herz zu pochen anfing. In dem Turm lag ein Toter. Und er mußte ihn sehen, er mußte wissen, wie ein Toter aussieht. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Er hatte gelernt, vom Sonnenstand über dem Kirchturm die Uhrzeit abzuschätzen: jetzt war es mehr oder weniger zehn Uhr vormittags.

Die einzige Möglichkeit, auf die Straße zu gehen und sich den Toten im Turm anzuschauen, bestand für ihn nach dem Mittagessen, wenn Maria Stella sich hinlegte, von zwei bis drei.

Wie sollte er diese vier Stunden bis dahin nur verbringen? Und wenn sie vorher wiederkämen und den Toten forttrügen, um ihn zu beerdigen? Besser nicht daran denken. Er versuchte, die Hausaufgaben zu machen, die der Hauslehrer ihm gegeben hatte, aber er hatte überhaupt keine Lust, er war nicht bei der Sache. Gegen zwölf Uhr ließ er es bleiben, was sollte es schon, wenn der Lehrer ihm eine Standpauke hielt. Angezogen wie er war, warf er sich auf’s Bett.

Die, die auf schlimme Weise sterben, hatte ihm Maria Stella erklärt, verwandelten sich fast immer in eine arme Seele, einen Geist. Und der, der da im Turm lag, war ganz sicher auf schlimme Weise gestorben. Der kleine Luigi wünschte sich, daß er ihn genau in dem Augenblick sehen könnte, in dem er sich aus einem Toten in einen Geist verwandelte. Würde er rechtzeitig da sein?

Von dem Essen rührte er nichts an, obwohl das Hausmädchen ihm Pasta mit geriebenem Käse und frittierten Gamberi zubereitet hatte, Dinge, die er sehr mochte. Maria Stella war besorgt: ausgerechnet jetzt, wo Donna Caterina heimkehrte, sollte der Kleine krank werden?

»Signorino, geht es Ihnen nicht gut?«

Kaum hatte Maria Stella sich hingelegt, war Luigino auch schon auf der Straße. Alleine war er erst einige Male dort gewesen, und die Male konnte man an den Fingern einer Hand abzählen, und dann auch nur, um den Weg vom Haus zur Kirche zurückzulegen, wobei ihn die Mutter vom Balkon aus beobachtete. Ein bißchen mulmig war ihm schon zumute, aber das war nur ein Augenblick. Er mußte den Toten von Angesicht zu Angesicht sehen, etwas anderes kam nicht in Frage. Die Straße war zu dieser Zeit menschenleer, er überquerte sie und stand vor dem kleinen Tor zum Turm.

 

Er hatte richtig gesehen: die Türe sah verschlossen aus, war es aber nicht, die Türflügel waren nur beigezogen. Er hob einen Arm, legte die Hand auf das warme Holz, auf das die Sonne prall niederschien. Und in dieser Haltung blieb er einen Augenblick stehen. Er wußte es sich nicht zu erklären, doch er fühlte, daß das, was er im Begriff stand zu tun, wichtig für sein Leben sein würde: sobald er das kleine Tor öffnet, wird sich in seinem Leben etwas für immer verändern. Er drückte leicht und wunderte sich, daß das Tor kein Geräusch machte, er öffnete es gerade so viel, wie nötig war, um hindurchzuschlüpfen, und ging hinein.

Zuerst sah er nichts, geblendet von dem Gegensatz zwischen dem Licht draußen und dem Dunkel drinnen. Er blieb mit dem Rücken zum Tor stehen und wartete ab, bis er wieder etwas sehen konnte. Aber das kostete zu viel Zeit, und Zeit war etwas, das er nicht hatte. Was, wenn, nur einmal angenommen, Maria Stella auf der Suche nach ihm war? Er mußte sich beeilen.

Er streckte beim Gehen die Arme aus, wurde aber durch ein Hindernis aufgehalten, das sich in Höhe seines Bauches befand.

Jetzt sah er verhältnismäßig gut. Er war gegen eine Holzbank gestoßen, die lang war und breiter als normal. Auf sie hatte man den Körper gelegt. Doch bevor er ihn noch richtig sah, nahm der kleine Luigi den Gestank wahr, der von dieser Leiche ausging, etwas, das halb nach verfaultem Obst und halb nach Toilette roch, nachdem man sein Bedürfnis verrichtet hatte. Es schlug ihm auf den Magen.

Er strengte sich an und sah genau hin.

Das Licht war schwach, es fiel durch einen Spalt oben in der Turmmauer. Wer weiß warum, aber das erste, was ihm auffiel, waren die Schuhe ohne Schnürsenkel, klobig wie die von Bauern und verschlissen. Dann der Kopf: völlig kahl, ohne auch nur eine Andeutung von Haar. Und der Gesichtsausdruck: reglos, die Augen waren geschlossen, doch der Mund stand offen, war zu einem schrägen Grinsen verzogen und zeigte lange, gelbe Pferdezähne. Der Bart: ein struppiges Schwarz-Weiß. Ein Arm berührte den Boden mit der Hand, der andere war über der Brust verschränkt.

Luigino war enttäuscht: das da war ein Toter? Ein ›Etwas‹, das stank, ein träges Gewicht (ein schauerliches Hindernis wird er viele Jahre später schreiben).

Und genau in diesem Augenblick hörte er ein Flügelrauschen. Eine Taube, ganz sicher. Und fast so, als hätte er das Bedürfnis nach etwas mehr Lebendigem verspürt, richtete er die Augen nach oben, zur Decke, die völlig aus den Fugen war. Er besaß zwar den scharfen Blick eines Jungen von wenig mehr als zehn Jahren, doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Taube nicht sehen. Indessen ging dieses Flügelrauschen nicht nur weiter, sondern nun war auch noch ein Gurren dazugekommen, eines, das ganz dem von Tauben entsprach. Und wenn sich die Taube nun doch nicht dort oben befand, zwischen den Deckenbalken, sondern auf die Erde gestürzt war und einen gebrochenen Flügel hatte? Luigino senkte den Blick und schaut sich nach allen Seiten um.

Da sah er sie. Einen Mann und eine Frau, sie mußte eine Dame sein, denn sie trug einen Hut, und die beiden tanzten einen eigentümlichen Tanz. Sie stand, im dunkelsten Teil des Turms, mit dem Rücken zur Wand und hielt ihren Rock und ihren gestärkten Unterrock hoch. Und das war es, was Luigino mit dem Flügelrauschen verwechselt hatte, das leichte Schleifen, das jedesmal zu vernehmen war, wenn der Mann, der die Frau in seinen Armen hielt, seinen Körper gegen ihren stieß. Und das Taubengurren drang verhalten aus dem Mund der Frau, die ihre Augen schlitzartig verengte, dann schloß, mit einem glückseligen Lächeln auf den Lippen. Und auch der Mann schien bei jedem Stoß, den er während dieses seltsamen Tanzes ausführte, Schmerz zu empfinden, denn mitunter machte er »Ah! Ah!«, einen Klagelaut, als würde er leiden.

Luigino stand da und sah ihnen eine Weile zu, seine Blicke hierhin und dorthin richtend.

Wieso tanzten die beiden da vor einem Toten und waren so in ihr Vergnügen aufgegangen, daß sie nicht einmal merkten, daß jemand da war, auch wenn der nur ein kleiner Junge war, der sah, was sie da machten?

Dann kam es ihm vor, als würde der Fensterspalt plötzlich aufgerissen, als würde ein Erdbeben vorüberziehen, und ein blendendes Licht drang in den Turm. Luigino fühlte seine Knie weich werden, es durchfuhr ihn fröstelnd, als er begriff, daß dieser Mann da und diese Frau gar nicht tanzten, sondern das machten, was Maria Stella ihm vor zwei Abenden erklärt hatte. Und sie waren mit Sicherheit auch nicht verheiratet, denn das Hausmädchen hatte ausdrücklich darauf bestanden, daß ein verheiratetes Paar diese Dinge nur bei Nacht in ihrem Schlafzimmer mache.

Er ging vorsichtig rückwärts, öffnete das Tor, kehrte in sein Zimmer zurück und schlüpfte ins Bett. Er merkte, wie er Fieber bekam, der Gestank des toten Körpers war in seine Haut gedrungen.

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