Der vertauschte Sohn

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PORTO EMPEDOCLE, GIRGENTI

Die Orte seiner frühesten Kindheit sind zwei: Porto Empedocle und Girgenti. Porto Empedocle, dem er unterschiedliche Namen gibt, wird der Ort einiger seiner Novellen.

Doch zunächst: Wie sieht dieser Ort aus? Das beschrieb er in Versen:

Als sich auf diesem öden Glutsand

wenige bescheidene Häuser erhoben,

und mitten im Gedränge so

vieler Karren aus dem alten Turm

zur Tagesmühsal die kahlgeschorenen

Gefangenen traten, schwere Ketten

unter langem Rasseln mit sich schleifend,

und beim Morgengrauen jeden Tags

ein Ausrufer, Stolz im Gesicht, sonnenverbrannt,

an seine mächtigen Kiefer

die haarige Hand hob und dreimal

laut die Bekanntmachung ausrief:

»O Männer des Meeres,

kommt hinunter zum Hafen zur Arbeit!«

Und er beschrieb es in Prosa:

Zwei Dutzend armselige Hütten zuerst, da unten am Strand, zwischen Gischt und Sand vom Wind gepeitscht, mit einem kurzen Anlegesteg aus leichtem Holz, heute Molo Vecchio genannt, und einem quadratischen, düsteren Kastell am Meer, in dem die zu Zwangsarbeiten verurteilten Sträflinge hausten; dieselben, die später, als der Schwefelhandel an Bedeutung gewonnen hatte, die beiden weiten Steinschüttungen des neuen Hafens gelegt hatten, zwischen denen die kleine Mole erhalten blieb, der dank des Damms die Ehre zuteil wurde, zum Sitz der Hafenkommandantur und des weißen Hauptleuchtturms erkoren zu werden. Da sich der Ort wegen einer unmittelbar hinter ihm sich erhebenden Hochebene nicht ausbreiten konnte, dehnte er sich den schmalen Strand entlang aus; bis an den Rand der Hochebene haben sich die Häuser dicht und eng aneinander, ja, fast aufeinander gedrängt. Die Schwefellager stapeln sich eines hinter dem anderen am Ufer entlang; und von morgens bis abends ist ohne Unterlaß das Rasseln der Karren zu hören, die mit Schwefel beladen von der Eisenbahnstation kommen, oder auch direkt von den umliegenden Schwefelgruben; ein nicht enden wollendes Durcheinander von barfüßigen Männern und Tieren, von auf den nassen Boden stampfenden nackten Füßen; das Spektakel streitender, fluchender, schreiender Stimmen zwischen dem Rattern und Pfeifen eines Zugs, der über den Strand rollt, bald auf die eine, bald auf die andere der beiden Molen zu, an denen immerzu etwas ausgebessert wird. Jenseits des östlichen Arms versperren die Lastkähne mit dem Segel auf Halbmast den Strand; am Fuß der Stapel befinden sich die Laufgewichtswaagen, auf denen der Schwefel gewogen und anschl-ießend auf die Schultern der Träger – uomini di mare genannt – geladen wird, die barfuß und mit Leinenhosen bekleidet, mit einem Sack auf dem Rücken, der über den Kopf gestülpt und im Nacken zugebunden wird, bis zur Hüfte ins Wasser eintauchen und ihre Fracht bis zu den Kähnen schleppen; diese bringen dann mit aufgezogenem Segel den Schwefel zu den Handelsschiffen, die im Hafen oder außerhalb des Hafens vor Anker liegen.

»Sklavenarbeit, die einem an manchen Wintertagen das Herz zerreißt. Halb erdrückt von ihrer Last, mit dem Wasser bis zum Kreuz. Menschen? Tiere!«

In Porto Empedocle siedelt Pirandello etwa zehn seiner Novellen an, wobei er den Ort von Fall zu Fall »die Marina«, »Nisia«, »Vignetta«, »Porto Empedocle« nennt oder auch gar nicht benennt, ihn aber gleichwohl durch die wiederkehrende Topographie erkennbar macht, die aus einer Dreiecksbeziehung zwischen dem Meer, dem Friedhof auf dem Mergelhügel und dem Hügel selbst besteht.

Was einen auf Anhieb in diesen Novellen erstaunt, ist die immer wiederkehrende Zusammenstellung von Lauten, Stimmen und Farben.

Aus der Novelle Die Tote und die Lebende (La morta e la viva):

Die Leute … standen herum, schreiend und unbeherrscht mit den Armen fuchtelnd.

Und noch einmal:

Die Menge … fing von der Tartane aus an zu schreien.

Und noch einmal:

Das Gebrüll von einem der Kais und das breite Gelächter.

Und wieder:

Er stürmte heran wie eine Furie, brüllend, und das ganze Volk bewegte sich nach hinten, nach vorne, und kreischte ringsum.

Oder aus der Novelle Annas Weigerung:

Und schon begann das Quietschen der mit Schwefel vollbeladenen Karren.

Oder:

Jeden Morgen, bei Tagesanbruch, weckten sie die dreifachen Rufe des Ausrufers.

Oder:

Nach so viel Höllenlärm.

Schreie, Stimmen, Flüche, Verwünschungen, Beleidigungen, Lachsalven. Aber nicht nur das. Es gibt auch intensive, obsessive Gerüche:

Aus Der böse Geist (Lo spirito maligno):

Und ging herum … voller Lust und Begierde sog er den Duft von Teer und Pech ein. Betäubt vom Lärm der Ruderer und Lastenträger im Hafen … inmitten des muffigen Haufens fauliger, getrockneter Algen.

Aus der Novelle Fräulein Boccarmè (La maestrina Boccarmè):

Sie hatte sich an den scheußlichen Geruch gewöhnt, der von der Öligkeit des eingeschlossenen Wassers ausströmte.

Oder auch:

Die anderen waren schon alle gegangen und ließen sie alleine zurück, und auf dem Strand nahm sie den Geruch des schwarzen Wassers stärker wahr.

Und dann das Meer, seine Klänge und Farben:

Das Meer war unruhig und trübe und schwoll an der einen und anderen Stelle, alles unter der Bedrohung eines von riesigen schwarzen Wolken trächtigen Himmels. Die anschwellenden Wogen begannen, ineinander zu stürzen, und es wollte und wollte ihnen nicht gelingen sich zu brechen.

Nur ein kurzer giftender Schaum kochte an einem Uferstück strichweise hier und dort die Wellenkämme borstig auf … Kurz darauf vertiefte der Himmel sich wie eine Höhle, und für wenige Augenblicke kam eine bestürzende, schreckenerregende Düsterkeit auf. An einzelnen Uferabschnitten jagten nacheinander rasche Windböen an den Strand und wirbelten Sand auf. Endlich brach der erste Donner los, wunderbar, und das war wie ein Signal für das Gewitter.

Unter den in Porto Empedocle angesiedelten Novellen gibt es zwei, die für das Verständnis des Menschen Pirandello von grundlegender Bedeutung sind. Die eine heißt Fern und gehört gewiß zu den dichtesten und gelungensten der gesamten Novellenliteratur. Sie stellt nicht nur eine summa aller Wahrnehmungen dar, die der Ort seiner frühesten Kindheit in ihm ausgelöst hat (in den er als Erwachsener zurückkehrt, in dem unseligen Versuch, an der Seite seines Vaters zu arbeiten), sondern ist vor allem, unter erzählerischem Aspekt, die Exposition für das, was Pirandello seinen unfreiwilligen Aufenthalt auf Erden genannt hat. Es reicht, nur auf den Umstand hinzuweisen, daß der Protagonist, der Schwede Lars Cleen, gezwungen ist, aufgrund einer Reihe von nicht gewollten und nicht gesuchten Ereignissen ein entfremdetes, aufgehobenes Leben an einem Ort zu führen, der nicht der seine ist.

Die andere Novelle heißt Der vertauschte Sohn, auf die wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden. In dieser Novelle wird nicht ausdrücklich gesagt, daß sich die Begebenheit in Porto Empedocle zuträgt. Allerdings kann man dies aus vielfältigen Hinweisen und vor allem aus der absolut ortstypischen Art schließen, mit der die Hexen bezeichnet werden, die nächtens Wickelkinder oder auch wenig ältere vertauschen. Diese heißen »i donni«, was Pirandello mit le donne übersetzt, die Frauen.

Ich habe eine persönliche Erfahrung mit »i donni«: ich erinnere mich, daß, als ich zehn Jahre alt war, Freunde mich unter viel Geheimnistuerei zu einem kleinen, ganz sicher noch keine vier Jahre alten Jungen brachten, dem »i donni« das Schwänzchen umwickelt hatten.

Über Girgenti, über dieses sterbende Städtchen, wird Pirandello allerdings lange und ausführlich schreiben. Dort siedelt er unter anderem den Roman Einer nach dem anderen (Il turno) an, einige Kapitel aus Die Alten und die Jungen (I vecchie i giovani) und zahlreiche Novellen, wobei er Girgenti unterschiedliche Namen gibt, unter anderem »Montelusa«.

Über sein Verhältnis zu Girgenti hat Leonardo Sciascia geschrieben:

»Pirandello wurde dort geboren … Dort verbrachte er seine Kindheit und Jugend; als junger Mann und noch in den ersten Jahren seiner Ehe kehrte er jeden Sommer dorthin zurück; danach seltener. Und bei jeder Rückkehr durchtränkte sich seine Phantasie mit grotesken und bemitleidenswerten Vorkommnissen, die sich dort zugetragen hatten und die seine Angehörigen und Freunde ihm erzählten: und was er hörte, gesellte sich zu dem, was in seiner Erinnerung bereits lebhaft herumwirbelte, und bereicherte es. Bis zum Zweiten Weltkrieg war Girgenti das, was es seit seiner Kindheit war, mit Persönlichkeiten und Figuren, die die übererregte, überspannte Selbstliebe bis an die Grenze des Wahnsinns trieb: luzide, bis in die kleinste Kleinigkeit eindringende Analytiker der eigenen Gefühle und des eigenen Elends, bis zum Delirium von der Leidenschaft des ›Räsonierens‹ erfaßt, die die Leidenschaft für die Frau und für Dinge noch in den Schatten stellte, darauf bedacht, besessen ihren Schein vor ihrem Sein zu verteidigen, und das vor den anderen und bisweilen vor sich selbst.«

Nein, man kann wirklich nicht sagen, daß Pirandello das traurige, im Sterben begriffene Städtchen gern hatte. Aus Die Alten und die Jungen:

 

Die öffentlichen Ämter, die Präfektur, das Finanzamt, die öffentlichen Schulen, die Gerichte, all das brachte in der Stadt noch ein wenig Bewegung hervor, freilich eine fast mechanische Bewegung: mittlerweile brodelte das Leben anderswo. Die Industrie und der Handel, die wahren Aktivitäten also, die waren schon seit geraumer Zeit nach Porto Empedocle übersiedelt, das, gelb vom Schwefel, weiß vom Mergel, staubig und lärmend, in kurzer Zeit zu einem der belebtesten und geschäftigsten Hafenplätze auf der Insel geworden war.

In Girgenti hatten nur die Gerichte und die Verwaltungssenate etwas zu tun, denn sie waren das ganze Jahr über geöffnet. Oben auf dem Culmo delle Forche quoll das Gefängnis von San Vito über von Arrestanten, die manchmal drei oder vier Jahre auf ihren Prozeß warten mußten.

Auf der Piazza Sant’Anna, wo die Gerichtsgebäude lagen, im Zentrum der Stadt, fand sich in Massen die Kundschaft aus der ganzen Provinz ein, grobe, ungeschliffene, sonnenverbrannte Kerle.

Die vielen Müßiggänger der Stadt spazierten unterdessen auf und ab, immer im selben Schritt, überwältigt von der Langeweile, mit den automatischen Bewegungen von Schwachsinnigen, immer die Hauptstraße entlang, die einzige ebene Straße der Stadt, mit dem schönen griechischen Namen Via Atenèa; freilich war sie so eng und gewunden wie die anderen. Via Atenèa, Rupe Atenèa, Empedokle – … – Namen waren das: lichtvolle Namen, die das Elend und die Häßlichkeit der Dinge und der Orte noch trauriger erscheinen ließen.

Träges Schweigen, finsteres Mißtrauen und Eifersucht.

Vom Palazzo Montoro in Porto Empedocle wird der kleine Luigi ungefähr im Alter von sieben Jahren von der Familie nach Girgenti gebracht, wohin Stefano umgezogen ist, weil er wieder einmal die Arbeit gewechselt hat.

Sie wohnen jetzt in einem grauen und ziemlich düsteren Haus in der Via San Pietro, die einen schlechten Ruf hat, einsam liegt und der Ort ist, wo Leute aus dem Milieu zusammenkommen oder sich bekämpfen. Von der Via San Pietro aus sieht man noch heute das Meer in großer Ferne, und damals, als es die neuen, eine düstere Wand bildenden Häuser noch nicht gab, konnte man ganz gewiß ein paar Häuser von Porto Empedocle erkennen, zumindest die des Ortsteils Piano Lanterna: doch im Gedächtnis des erwachsenen Luigi kehrt diese Landschaft nicht wieder, es gibt darin keine Erinnerung an ein meerisches Licht, das die Wohnung wenig düster hätte erscheinen lassen. Vielleicht lag die Rückseite der Wohnung zu einem Innenhof hinaus.

die Straße zeigte noch die alten Umfassungsmauern mit ihren halb zerfallenen Türmen. Im ersten, notdürftig von einer farbverblaßten, kaputten Türe verschlossen, zeigte man die unbekannten Toten, und dorthin wurden auch die Ermordeten für die gerichtsmedizinische Untersuchung gebracht.

In der Nähe der Wohnung liegt die Kirche San Pietro, nach der die Straße benannt ist.

Eines Abends kommt es direkt vor der Haustüre der Pirandellos zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Männern aus dem Milieu. Ein Mann wird durch einige Messerstiche tödlich verletzt. Die Angreifer fliehen, der Verletzte bleibt auf der Straße liegen, ruft um Hilfe und jammert. Das Hausmädchen stürzt herbei und verriegelt Fensterläden und Fenster, damit der kleine Luigi nicht die herzzerreißenden, verzweifelten Schreie des Sterbenden hören muß. Kurz darauf hört man sie nicht mehr, und die Fenster können wieder geöffnet werden. An diesem Abend ist es sehr heiß.

ÜBER DAS VERRIEGELN VON FENSTERN

Wenn man die eben erzählte Begebenheit überdenkt, könnte es so aussehen, als hätten in der Familie Pirandello Gleichgültigkeit, Egoismus und Furcht, in etwas verwickelt werden zu können, geherrscht.

Der Verwundete, das stimmt, wird in seinem Todesschmerz und in seinem Tod sich selbst überlassen. Aber das Nicht-sehen-Wollen, das Nicht-hören-Wollen war das am weitesten verbreitete und durchaus übliche Verhalten der sizilianischen Bourgeoisie, ganz gleich, ob es die große oder die kleine war, und diese Haltung kann man mit den überaus einfachen Worten zusammenfassen: ›Deren Sache.‹ Aber wer sind ›deren‹? Die, die keine zivilisierten Menschen waren, ›ehrenwerte Leute‹, die ihre Angelegenheiten mit Messerstichen, Revolverkugeln oder Schüssen aus einer Lupara erledigten. Zwischen den Kriminellen, ob sie zur Mafia gehörten oder nicht, und den ›zivilisierten‹ Menschen wurde eine Mauer errichtet, eine dem Augenschein nach genau festgesetzte Grenzlinie, und die ›Zivilisierten‹ hüteten sich, darin verwickelt zu werden, sich mit Blut zu besudeln (etwa wenn sie einem Verwundeten zu Hilfe kamen), das Gewalt und Übergriffe so häufig fließen ließen.

In einem Salon ›zivilisierter‹ Menschen über Dinge zu reden, die mit der Mafia zu tun haben, ist so geschmacklos, wie während eines Galadiners über Bauchschmerzen zu reden.

›Deren Sache‹ also, und so sollte es gefälligst auch bleiben.

Zumindest dem Augenschein nach.

Denn wenn sie ein Problem hatten, das auf legalem Weg offensichtlich unlösbar war und mithin nach nicht sehr orthodoxen Wegen verlangte, hatte der größte Teil dieser sogenannten anständigen Leute durchaus keine Skrupel, über Freunde von Freunden um die Unterstützung und Hilfe des einen oder anderen örtlichen Mafiabosses nachzusuchen, der ja bestens bekannt war, weil man ihn als solchen mit Vor- und Nachnamen samt seiner Anschrift kannte.

Die Mafia, in der Öffentlichkeit hartnäckig und scheinheilig ignoriert, wurde bei bestimmten besonderen Privatangelegenheiten zur Kenntnis genommen, aktiviert und benutzt. Es ist durchaus nicht gesagt, daß diese besonderen Vermittlungstätigkeiten immer in Auseinandersetzungen mit Schüssen und Ermordungen endeten: sehr oft ›räsonierte‹ der mafiose Vermittler mit den gegnerischen Parteien, und die Macht, die er hinter sich hatte, führte dazu, daß der Verlierer, also der, der bei der Übereinkunft dazulegte, sich vor diesem ungeschriebenen Gesetz verbeugte, das allerdings strenger geachtet wurde als der Entscheid eines Schiedsmanns.

Natürlich präsentierte die Mafia, wenn die erbetene Hilfeleistung erbracht und zu einem guten Ende geführt worden war, die Rechnung, die ja nie in Geldsummen quantifiziert wurde, sondern in Gefälligkeiten, Wählerstimmen, Privilegien.

Eine perverse Verflechtung.

Aber es ist auffällig, daß Pirandello, der möglicherweise sein ganzes Leben lang dieser Handlung des Hausmädchens eingedenk blieb, in allen seinen Romanen, in allen seinen Novellen und Theaterstücken hartnäckig das Fenster vor der Mafia verriegelt hielt.

MARIA STELLA

Es ist schwierig, mit der Mutter Worte zu wechseln, mit dem Vater ist es unmöglich. Doch glücklicherweise findet der kleine Luigi in der Wohnung in Girgenti eine Freundin.

Das ist das Hausmädchen, die Dienerin Maria Stella. Mit ihr kann er richtig sprechen, offen. Maria Stella ist eine junge Frau aus dem Volk und muß eine hervorragende Geschichtenerzählerin gewesen sein und erfreut sich an dem aufmerksamen, intensiven Blick ihres kleinen Schützlings.

Ein populäres sizilianisches Sprichwort hieß damals: ›La criata fa la criatura – Die Dienerin macht das Menschlein.‹

Dieses Sprichwort war doppelsinnig. Es besagte zunächst einmal, daß die Dienerin, wenn sie jung war, von einem Mann im Haus, dem Hausherrn oder auch dem jungen Herrn, unvermeidlicherweise irgendwann schwanger wurde. Danach besagte es, daß es oft die Dienerin war, die das Kind der Familie aufzog und ›heranbildete‹.

Unter verschiedenen Gesichtspunkten war es Maria Stella, die den kleinen Luigi eigentlich heranbildete.

Der Sizilianer ist nicht religiös, sondern abergläubisch. Verga, Capuana, Brancati, Sciascia haben das ausführlich dargestellt. Und es reicht, wenn wir in unserer Zeit an den Mafiamörder denken, der, obwohl flüchtig, oft den Priester in sein Versteck kommen ließ, das mit Altärchen und Heiligenbildchen ausgestaltet war.

Bestimmte religiöse Feste gehören wegen einiger Aspekte mehr zur heidnischen Seite der Sizilianer als zur katholischen. Wenn wir uns auf Girgenti und sein Gebiet beschränken, erinnern wir uns an mindestens zwei: Das Fest unseres Herrn von den Schiffen (es gibt auch einen Einakter von Pirandello, der diesem Fest gewidmet ist), das vor der kleinen Kirche San Nicola stattfindet und vor allem in einer wüsten Schlachterei von Schweinen besteht; und das Fest des heiligen Calò (das Pirandello in dem Roman Die Ausgestoßene unerklärlicherweise als Fest der Heiligen Cosmas und Damian bezeichnet).

In fast allen sizilianischen Häusern hatte der Klerus (mit dem man in toto die Religion identifizierte) eine Macht, die weit über die geistliche hinausging: sein Rat war in jeder Lebenslage gefragt, angefangen beim Kauf eines Möbelstücks bis hin zur Eheschließung.

Die Familie Pirandello war dagegen ein Stachel im Fleisch von Padre Sparma, Pfründeneigner der in unmittelbarer Nähe gelegenen Kirche San Pietro. Die Pirandellos hatten zwar ihre Kinder taufen lassen, aber sie rannten nicht in die Kirche, sie waren keine praktizierenden Gläubigen, und das reichte aus, daß die Nachbarn sie als gottlose Menschen bezeichneten. Das stimmte zwar nicht, aber die Pirandellos gehörten aufgrund ihrer Erziehung und ihrer Überzeugung zu denen, die sich zu dem Sprichwort bekannten: »Bei Mönch und Pfaffenklos / hör’ nur die Mess’! Dann gib ihm den Nierenstoß« (womit gemeint ist, daß man ihnen das Rückgrad brechen solle).

Das Hausmädchen Maria Stella erzählt dem Kleinen die gleichen Geschichten, die ihr erzählt worden waren, als sie klein war. Es sind Volkserzählungen, wie die vom Haus der Granellas, das von respektlosen Gespenstern bewohnt wird, oder die Geschichte vom Raben von Mìzzaro, auch sie mit Gespenstern als Hauptfiguren, oder die vom Engel Einhunderteins, der nachts eine große Engelschar anführt. Als erwachsener Mann kehrt Pirandello wieder zu diesen Geschichten zurück, die er aus dem Mund von Maria Stella gehört hatte, und macht sie zum Gegenstand seiner Novellen (die Geschichte des Engels Einhunderteins wird einen großartigen Monolog in dem Theaterstück Die Riesen vom Berge; I giganti della montagna bilden). Aber es steht außer Zweifel, daß die Geschichte, die den kleinen Jungen am meisten beeindruckt, die Geschichte vom vertauschten Sohn ist.

DER VERTAUSCHTE SOHN

Das Märchen vom vertauschten Sohn ist im Grunde überall auf der Welt bekannt, mit Varianten, die den verschiedenen Kulturkreisen entsprechen. Die mediterrane Version erzählt von einer armen Mutter, die sich nicht mit der Realität abfinden kann: ihr Kind in der Wiege ist ein mißgestaltetes Wesen, doch sie reagiert, indem sie sich in die Überzeugung flüchtet, daß ihr wirklicher Sohn, ein schönes blondes Kind, von den Donne (den Hexen) geraubt wurde, die an seiner Statt dieses andere, dieses häßliche, verkrüppelte Kind zurückgelassen haben, das nicht einmal sprechen kann. Eines Tages legt im kleinen Hafen ein fremdes Schiff an. An Bord ist ein junger kranker Prinz, der gekommen ist, um in der Sonne des Südens Heilung zu finden. Und gleich ist die Mutter der Überzeugung, daß der Prinz ihr wirklicher Sohn ist, der wie durch ein Wunder zurückkehrt. Der verkrüppelte Sohn (der auf dem Kopf eine Krone aus Papier und Glitzersteinen trägt und spöttisch ›Königssohn‹ genannt wird), will in seiner Eifersucht den Prinzen töten, aber es gelingt ihm nicht. Unterdessen stirbt der Vater des Prinzen und der junge Mann wird zum König ernannt. Doch der Prinz weigert sich, in sein Land zurückzukehren. Und so schlägt er einen Tausch vor: an seiner Stelle soll der Krüppel zum König gekrönt werden. Die Minister weisen diesen Vorschlag zurück. Und der Prinz:

Glaubt mir,

es liegt gar nichts daran,

ob es dieser oder jener sei:

wichtig ist nur die Krone!

Tauscht ihm die aus Papier und Glas

gegen eine aus Gold und Juwelen,

das Pellerinchen gegen den Pupur,

und der Spottkönig wird echt,

ihr könnt ihm huldigen.

 

Und dazu braucht’s nichts anderes

Als daß ihr dran glaubt.

ERSTER MINISTER: Majestät, wie sollten

wir denn aber

PRINZ: Was denn? Daran glauben?

Das kann man immer! Alles kann man!

HAUSHOFMEISTER: Doch daran nicht, weil wir ja wissen,

es ist nicht wahr!

PRINZ: Aber nichts ist wahr,

und alles kann wahr sein,

man braucht’s nur zu glauben für einen Moment,

und dann nicht mehr, und dann wieder,

und dann auf immer oder nie mehr.

Die Wahrheit, die kennt Gott allein.

Der Menschen Wahrheit ist immer

daran geknüpft, daß man

an die glaubt, die man empfindet. Heute so

und morgen anders. Glaubt mir,

glaubt mir, diese

wird euch viel besser passen

als die meine.

Ich kenne sie jetzt,

meine Wahrheit.

Ich bin hier Kind gewesen,

mit dieser Mutter, geboren unter dieser Sonne,

und arm, aber was liegt daran?

Mit dieser Mutterliebe,

und diesem Himmel und diesem Meer

und Gesundheit und Freude

mein Leben zu leben,

»meines«, mein wahres Leben für mich!

Vor diesem Meer, vor diesem Himmel

seh ich auch die Häuser

aufatmen, befreit vom Zwang.

Und jedes Haus, sei es noch so bescheiden,

wird hier zum Sonnenpalast!

Alles zu meinen Füßen sehen?

Lieber fühle ich

etwas über mir!

Nehmt ihn hin, bringt ihn weg,

weit fort von hier, euren König!

Natürlich geht die Geschichte so zu Ende, wie der Prinz es will: auf das Schiff, das gekommen ist, um ihn abzuholen, geht an seiner Stelle der komische, jämmerliche Königsnarr.

Die Treue des Schriftstellers und Dramatikers Pirandello zu dieser volkstümlichen Geschichte, die er als kleines Kind gehört hat, ist über die Jahre fest und stark.

Die Erzählung Der vertauschte Sohn erscheint in der 1925 veröffentlichten Novellensammlung Von der Nase zum Himmel, die im Grunde aber beim ersten Teil des Märchens aufhört, das heißt es fehlt die Ankunft des Prinzen. Die Selbsttäuschung der Mutter wird durch eine Magierin, Vanna Scoma, genährt, die ihr von Zeit zu Zeit Nachrichten über den von den Hexen vertauschten Sohn bringt und ihr erzählt, daß er wie ein Prinz lebt, von allen geliebt wird und glücklich ist.

Die Magierin tut dies zwar in der Absicht, ihr ein bißchen Geld zu entlocken, doch gibt es in ihr auch einen Zug von Mitleid: sie sagt der Mutter nämlich, daß, wenn sie den behinderten Sohn, der ihr von den Hexen dagelassen wurde, gut behandelt, es auch dem anderen, dem wirklichen gut gehen werde.