Das Haus An Der Schleuse

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Schließlich verabschiedeten wir uns, dankten ihnen und zogen uns zurück ins Haus, um ein wenig auszuruhen, in Erwartung der abendlichen Kühle. Nach nur einem Tag hatten wir schon so viele Eindrücke gesammelt, dass wir sie sogar nachts, in unseren Träumen wieder erleben konnten.

KAPITEL 3

Freundschaft ist eine der Gaben des Himmels an die Menschheit

„Berge treffen sich nicht, aber Menschen“ [Samburu, Kenia]

Unter Freunden fallen die Barrieren, die die Individuen gewöhnlich in ihr kleines Gehege einschließen. Unter Freunden gibt es keine Geheimnisse:

Wenn man sich liebt, versteckt man die Nacktheit nicht.“ [Mongo, RD. Congo

Die vollkommene Dunkelheit der Nacht wich den schwachen Lichtern einer schüchternen Morgendämmerung. Die ersten Flecke eines Lichts ohne Quelle, nur aus dem Schimmer entspringend, der die Hügel hinaufstieg, schafften sich mit Müh und Not Platz und durchdrangen die dichten Baumkronen. Wie ein Betttuch überdeckte ein dünner und gleichförmiger Tiefnebelschleier das vom Morgentau leicht angefeuchtete Kornfeld. Es herrschte eine für nordeuropäische Landschaften typische Atmosphäre, wie man sie oft auf Postkarten oder Büchern für Fotografie sehen kann. Es war kein Betrieb an der Schleuse und das Wasser, das durch die Abflussöffnungen floss, war auf ein Minimum reduziert. Die Luft war frisch an jenem Morgen, es wehte eine leichte Brise, die langsam den Nebel wegblies, bis er letztendlich vollends verschwand. Die Strahlen der Sonne, die nunmehr hoch und frei am Himmel stand, beschienen die zarten, goldfarbenen, nun wieder klar sichtbaren Weizenähren. Es war erst sieben Uhr morgens, aber man konnte die Verspätung des Sonnenlichts wahrnehmen, verglichen mit dem, was ich an meinen Mailänder Morgen zu sehen gewohnt war. Ein Wildkaninchen hüpfte unbeholfen auf dem Feldweg vor der Haustür hin und her. Wahrscheinlich, so dachte ich, war es auf der Suche nach Nahrung. Ich nahm eine kleine Karotte aus dem Kühlschrank und legte sie auf die Erde, auf den freien Platz vor der Haustür, auf der Seite des Feldwegs. Ich tat das vorsichtig, damit es sich nicht erschrecken und weglaufen würde. Es starrte mich mit seinen kleinen, schwarzen, runden Augen an. Sein Körper war wie versteinert, bereit aufzuspringen und zu flüchten, falls notwendig. Meine Anwesenheit beunruhigte das Tier, das war offensichtlich. Dennoch blieb es. Ich legte die Karotte hin, langsam, wich zurück; wir standen uns Auge in Auge gegenüber. Als ich weit genug entfernt war, flüchtete es blitzschnell, anstatt sich die Karotte zu nehmen. Zuerst dachte ich, dass es durch etwas anderes gestört worden wäre, vielleicht durch ein Geräusch, das ich nicht bemerkt hatte, oder vielleicht durch ein Tier, das sich auf dem Feld bewegte. Ich war allein und die Karotte auf der Erde, also machte ich kehrt, ging zurück ins Haus und erzählte Sonia, was vorgefallen war. Sie konnte es nicht glauben, sah aus dem Fenster, und als sie die Karotte sah, brach sie in schallendes Gelächter aus.

Wir frühstückten in aller Ruhe, ließen uns Zeit für alles, besprachen, was wir im Laufe des Tages machen wollten: Erkundung der Gegend mit dem Fahrrad, Fotoapparat griffbereit, Essenspaket mitnehmen und draußen inmitten eines der vielen bunten Felder oder in irgendeiner Raststätte in einem der umliegenden Dörfer mittagessen. Wir würden gegebenenfalls die Angler auf unserem Weg um Auskunft bitten. Während ich die Haustür abschloss und wir den Feldweg nehmen wollten, bemerkte ich, dass die Karotte verschwunden war. Zunächst war ich ärgerlich, aber gleich danach rang ich mich zu einem Lächeln durch. Ich konnte mir natürlich von dem Kaninchen keine Dankesworte für die gespendete Karotte erwarten. Es ist seine Freiheit gewohnt und deshalb gehört jede Form der Beziehung wohl kaum zu seinen Gewohnheiten. Manchmal bedanken sich nicht einmal Menschen, wie konnte ich glauben, dass ein Wildtier so etwas tun könnte? Und doch, dachte ich, ist es zurückgekommen und hat meine Gabe vertrauensvoll angenommen. Ich dachte erneut an seine Augen, an die Intensität dieses starren Blicks, und da erkannte ich, dass das seine einfache aber aufrichtige Art war, mir zu danken. Die Menschen drehen einem oft den Rücken zu und gehen weiter.

Wir nahmen unsere Fahrräder und traten ordentlich in die Pedale auf unserer Fahrt auf mehr oder weniger steinigen und gewundenen Pfaden, am Sturzbach entlang, dessen unendlichem Gesang wir wieder lauschen durften. Wir grüßten mit Worten oder Lächeln die Leute, die uns von den Decks der Kähne zusahen und zurückgrüßten, als wir sie überholten. Die Angler beäugten uns argwöhnisch. Vielleicht waren sie durch unsere geräuschvolle Durchfahrt gestört worden, wurde doch ihr einschläferndes Warten dadurch in gewissem Sinne zunichtegemacht. Wir fuhren über jahrhundertealte Brücken, die das nackte, von der Zeit gemeißelte Gestein, dessen Kanten Wind und Regen abgeschmirgelt hatten, zur Schau stellten. Stark aber unnahbar kam uns der Duft der Materialien aus der Vergangenheit entgegen. Kein Auto war weit und breit zu sehen oder auch nur Motorengeräusche wahrzunehmen, so weit entfernt waren wir von den Hauptverkehrsstraßen. Auf unserem Weg sind wir an vielen Schleusen vorbeigefahren; sie sahen sich alle ähnlich. Nachdem wir etwa zwanzig Kilometer zurückgelegt hatten, verspürten wir das Bedürfnis, eine kleine Rast einzulegen. Wir beschlossen also bis zur nächsten Schleuse zu fahren, um uns dort zu erkundigen, wie weit es bis zum nächsten Dorf oder der nächsten Siedlung war, wenn wir auf unserem Feldweg weiterführen. Wir erreichten die Schleuse, die noch fünf Kilometer weiter als die Stelle war, wo wir vorher gehalten hatten, um wieder zu Atem zu kommen. Wie wir erwartet hatten, stand dort das Haus des Schleusenwächters. In seiner Größe, Farbe und Form war es dem, wo wir untergebracht waren, sehr ähnlich. Allerdings war der Garten viel größer und gepflegter, mit vielen verschiedenfarbigen Rosengärten. Die Pflanzen, die bereits in voller Blüte standen, waren wie Farbflecken, die aus der Erde emporwuchsen, bis auf zwei Meter Höhe. Die Farbtöne gingen von schneeweiß bis feuerrot, über zwei verschiedene, fast orangefarbene Gelbtöne bis hin zu Rosa. Die Mauern des Hauses, wie auch die Lauben, waren vollständig mit Glyzinien überwachsen. Ihre Blütentrauben waren von einer schönen, intensiven Fliederfarbe und die Pflanzen standen in voller Blüte, sprossen aus einem pastellzarten, grünen Blätterbett und verliehen dem Haus eine Note unüberbietbarer Frische. Die Fensterbretter der kleinen Fenster waren mit bunten, mit Geranien bepflanzten Blumenkästen geschmückt. Die Blüten, teilweise noch geschlossen, warteten auf den richtigen Zeitpunkt, um sich in ihrer ganzen Schönheit zu zeigen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, genau dort, wo der Rosengarten endete, war ein Gemüsegarten zu sehen. Vielleicht war das nur ein kleiner Teil eines viel größeren Grundstücks, das unseren Augen versteckt blieb, weil das Haus davorstand. Ein Kind lief hin und her, von drinnen nach draußen, und trug mit beiden Händen eine Gießkanne, mit der es die Geranien goss. Die frische Luft um uns herum war mit Düften wie imprägniert, einer Mischung aus Wohlgerüchen, aus der man mit Leichtigkeit Minze und Salbei herausriechen konnte.

Mit kaum hörbarer Stimme, um nicht allzu sehr zu stören, erhaschte ich die Aufmerksamkeit des Jungen. Er war etwas verblüfft, als er bemerkte, dass die Stimme von einem Fremden kam. Er schien keine große Lust auf ein Gespräch mit uns zu haben und demgemäß gab er uns ein klares Zeichen, dass wir warten sollten. Er lief eilig ins Haus und kam kurz darauf in Begleitung seiner Mutter zurück. Sowie er aus der Tür getreten war, völlig ungeachtet unserer Anwesenheit, wendete er sich wieder seinen Geranien zu, während die Mutter auf uns zu kam. Es war eine schöne Frau, mit schwarzem Haar, groß und schlank, aber nicht mager. Während sie sich uns näherte, konnte man langsam ihre Gesichtszüge erkennen und die Spuren der Zeit in ihrem Gesicht. Sie konnte nicht sehr jung sein, aber zweifellos war sie eine gepflegte Erscheinung. Vielleicht hatten die körperlichen Strapazen ihre ewigen Spuren frühzeitig auf ihrem Körper hinterlassen. Das konnte ich nicht wissen und in dem Moment interessierte es mich auch nicht. Also ließ ich diese Überlegungen sein und stellte mich auf den Dialog mit ihr ein. Ein scheues Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

„Guten Tag! Suchen Sie jemanden?“, fragte sie, und auf ihren Lippen dauerte die Frage an, in Erwartung einer Antwort unsererseits.

„Guten Morgen, gnädige Frau. Bitte entschuldigen Sie uns, wenn wir Sie gestört haben. Könnten Sie uns bitte sagen, wie weit es von hier bis zum nächsten Dorf ist und in welche Richtung wir fahren müssen? Sollten wir lieber auf dem Feldweg weiterfahren oder abzweigen? Wissen Sie, wir sind auf der Suche nach einem Ort, wo wir Halt machen können, um ein bisschen auszuruhen, etwas zu essen und ein kühles Getränk zu kaufen. Wenn möglich würden wir auch gerne einen Spaziergang machen, um uns ein bisschen umzusehen. Wir sind durch ein Dorf gefahren, das etwa zehn Kilometer von hier entfernt ist und möchten ungern gleich wieder zurückfahren und diese Entfernung zurücklegen, ohne etwas gesehen zu haben, antwortete ich vertrauenerweckend.

„Ja, es gibt einige, natürlich. Aber ich sehe, Sie sind mit dem Fahrrad hier und scheinen mir auch ziemlich müde zu sein. Der Weg bis zum nächsten Dorf könnte Sie noch zusätzlich ermüden und Sie würden wirklich erschöpft dort ankommen. Müssten Sie dann nicht auch zurückfahren? Woher kommen Sie?, fragte sie. Sie hatte allen Grund.

„Wir sind in Gissey untergebracht, wir kommen von der Schleuse 34s, gnädige Frau“, sagte ich stolz, als ob ich mich fast wie ein sachkundiger Besitzer des Fleckchens Erde fühlte, auf dem meine Füße standen.

 

„Aha, ich verstehe! Das ist das Haus von Urs und Doris. Wirklich anständige Leute“, antwortete sie. „Meiner Meinung nach sind Sie ja schon so viele Kilometer gefahren, dass ich Ihnen rate wenigstens für heute nicht weiterzufahren. Allerdings müssen Sie das selbst entscheiden. Es kommt mir vor, als könnte ich selbst die Schmerzen fühlen, die Sie in Ihren Beinen und Hinterteilen verspüren“, sprach sie weiter; ihr ansteckender Humor brachte auch uns beide dazu genüsslich zu lachen und ihre Vermutung zu bestätigen, indem wir unsere Gesichter zu einer drolligen Schmerzensgrimasse verzogen.

„Hört zu, Leute, kühle Getränke haben auch wir, der einzige Unterschied ist, dass sie nicht für den Verkauf bestimmt sind, also müssten Sie unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen“, sagte sie vergnügt. „Wenn Sie Lust haben, bei uns zu bleiben, sind Sie willkommen. Wir beißen nicht, keine Sorge!“, sagte sie abschließend mit Vertrauen einflößendem, aufrichtigem Gesicht.

„So viel Liebenswürdigkeit auszunutzen, wäre nicht nett, gnädige Frau....“

„Giselle, ich heiße Giselle!“, unterbrach sie mich, streckte die Hand aus, um sich vorzustellen und wartete darauf, dass wir das Gleiche taten.

Wir stellten uns vor und nachdem wir uns bis zum Gehtnichtmehr bedankt hatten, folgten wir ihr. Sie bat uns, an einem wunderschönen Steintisch, auf einer offenen Veranda, Platz zu nehmen, die das Haus auf der rechten Seite ergänzte und fast bis zum Gartenzaun des Anwesens reichte. Auch von dieser Stelle aus konnte man die nicht weit entfernte Schleuse und den Sturzbach erkennen, inmitten des Grüns der Felder und Bäume. Dennoch schränkte kein Hügelchen die Sicht bis zur Horizontlinie ein, sodass das Auge über die Grenzen hinaus schweifen konnte. Nur eine unregelmäßige Bodenwelle entzog dem Gelände jene nichtssagende Monotonie, die flachen Landschaften zu Eigen ist. Wenn man das Auge anstrengte und den Blick über die Horizontlinie schweifen ließ, konnte man bebaute Felder bemerken. Sie waren nur sichtbar, weil sie etwas höher als der Erdboden lagen und von dunklerem Grün waren. Es handelte sich um sehr fruchtbare Weinberge, die den guten Wein von Burgund hervorbringen.

„Wartet hier eine Sekunde, ich gehe Monsieur Jacques holen. Das ist mein Vater. Er nennt sich einen der größten Schwätzer Frankreichs oder sogar Europas. Aber ich halte ihn wirklich für einen sehr weisen Mann, Sie werden ihn verstehen lernen“, sagte sie vergnügt und stolz zugleich.

Ich habe nie erfahren, ob sie sich in dieser Hinsicht dem Vater ähnlich fühlte oder nicht, die „weise“ Tochter eines weisen Mannes. Vielleicht drückte sie eine andere Weisheit als die ihres Vaters aus. Die Zeit würde mir eine Antwort geben. Sonia und ich sahen einander an; so viel Fröhlichkeit vergnügte uns, aber diese unerwartete Gastfreundschaft überraschte uns auch. Die Peinlichkeit der Situation gab uns zu denken, vor allem, was den weisen oder gesprächigen Monsieur Jacques anging.

„Papa, heute haben wir Freunde bei uns zu Tisch!“, verkündete Giselle, als sie durch die Tür trat und in Richtung eines Zimmers ging, das ich mir nur vorstellen konnte.

Ich habe immer geglaubt, Freundschaft und Vertrauen seien eng miteinander verbunden, zwei Gaben, die den Menschen zuteilwerden und die sie nur mit der Zeit gewähren. Jemanden einfach nur zu kennen, bedeutet nicht unbedingt, dass Freundschaft und Vertrauen mit im Spiel sind. Es kann keinen Instinkt in einer Freundschaft geben, weil man das sogenannte „Hautgefühl“ nicht messen kann. Freundschaft muss bewiesen, erwiesen und gemeinsam genutzt werden. Andernfalls handelt es sich lediglich um eine einseitige Beziehung. Ich beziehe mich auf jene Art Freundschaft, die Gemeinsamkeit miteinbezieht und manchmal Uneinigkeit zwischen zwei Menschen entstehen lässt, Freundschaft in seiner wahrsten Form. Zum notwendigen Kraftstoff, damit eine Freundschaft zustande kommt, füge ich das Vertrauen hinzu. Nur so kann sie sich entwickeln, weiter wachsen und viel wichtigere, tiefere Gefühle hervorbringen. Ohne diesen Kraftstoff kommt man nicht vorwärts, man könnte genauso gut aussteigen und zu Fuß weitergehen, aber allein. Den Film meines Lebens betrachtend, habe ich Geschichten von Menschen gesehen und gehört, die ihr Leben für eine Freundschaft gegeben und den Freund mehr als sich selbst geliebt haben. Ich habe Menschen erlebt, die sich ganz und gar verausgabt haben, um Dinge mit ihren Freunden zu teilen, und ich habe mich gefragt, ob auch ich an ihrer Stelle imstande gewesen wäre, dasselbe zu tun. Vielleicht hätte ich die Wette mit mir selbst verloren, ich weiß es nicht, aber ganz sicher ist, dass ich noch keine wirkliche Gelegenheit gehabt habe, mich auf die Probe zu stellen. Ich habe auch von Menschen gehört, die sich betrogen gefühlt haben, vielleicht weil dieses Gefühl der Freundschaft von den unmittelbar Betroffenen anders oder vielleicht nur in einer Richtung erlebt wurde, oder vielleicht war Freundschaft für manch einen eher ein Synonym für eine gute Gelegenheit, die bis zum Überdruss ausgenutzt werden sollte. Aber dennoch wundert mich das alles nicht. Der Kampf um das Überleben der Arten steht im DNA des Tieres geschrieben, sei es nun Mensch oder Tier. Man kämpft, um zu überleben und weiterzukommen, „dein Tod ist mein Leben“. Es ist egal, wer für die Folgen geradestehen muss. Es ist ein Prozess der natürlichen Selektion. Das ist es in den vergangenen Jahrtausenden gewesen und wird auch in den zukünftigen so sein. Wir verstecken uns hinter diesem Alibi und machen uns keine Gedanken mehr über die Auswirkungen, die es haben kann. Schließlich habe ich auch von Fällen erwiderter Freundschaft gehört, wirklich seltene Fälle, meistens aus der Märchenwelt, wenn sie echt, übersteigert und idealisiert sind ebenso wie in legendären Erzählungen. Die Tatsache ist, dass wir angesichts einer schönen Freundschaftsgeschichte dazu neigen, sie romanhaft auszuschmücken, zu verfilmen, Mythen zu erschaffen und ausführlich zu erläutern. Das, um sie nachher, jedes Mal, wenn die Dinge nicht so laufen, wie man es sich erwartet, als Bezug einzusetzen und sich dann in der Abfassung ellenlanger Gedichte oder Prosa zu ergehen, die sodann für den Verkauf bestimmt sind. Mythen, große Lebensvorbilder zum Nachahmen, zum Honorieren. Sollte dies nicht „Normalität“ sein? Wenn ich an einen Menschen denke, halte ich ihn für meinen Freund. Ich möchte sagen, dieser Mensch ist wie ich, genau wie ich. Andernfalls verwende ich einen anderen Begriff, um ihn einzuordnen, und spreche dann lieber von einem „Bekannten“. Und das Vertrauen, wo kommt es also ins Spiel, welche Rolle spielt es? Kann das Vertrauen, das wir zu einem wahren, nicht nur mutmaßlichen Freund haben, gleichsam einem bloßen Bekannten entgegengebracht werden? So wie ich die Dinge sehe und aufgrund meiner Erfahrungen, kann die Antwort nichts anderes als negativ ausfallen.

Freundschaft und Komplizenschaft gibt es seit alters her. Schon seitdem der Mensch auf der Erde herumzulaufen begann, um zu leben, oder besser gesagt, um zu überleben, brauchte er einen Kameraden an seiner Seite. Auf die Jagd musste der Urmensch immer von einem Kameraden oder mehreren Artgenossen begleitet gehen, um das Tier zu hetzen und dann zu töten. Er hatte verstanden, dass er nicht nur seine großen Beutetiere nicht hätte erlegen können, sondern im Gegenteil den Tod riskiert hätte. Der römische Legionär musste sich den Fähigkeiten des gesamten Zuges anvertrauen, um die „Schildkrötenformation“ herzustellen und sich dann im Kampf vor dem Feind zu verteidigen. Sogar im literarischen und künstlerischen Bereich hat Freundschaft den Menschen bei der Schaffung seiner größten Werke inspiriert. Der Mensch kann von Natur aus nicht allein leben, er braucht die Herde. Es gibt Leute, die lieber allein sind, vielleicht wegen des Misstrauens, das sie anderen entgegenbringen, oder weil sie sich absondern möchten, um sich auf spirituelle Suche ihrer selbst zu begeben, ohne sich den Einflüssen von außen auszusetzen. Ich zitiere hier eine Passage aus Cicero, der unseren Augen eine Botschaft überliefert, die obwohl veraltet, noch sehr modern ist:

Freundschaft ist nichts anderes als Verbundenheit des Göttlichen mit dem Menschlichen, kombiniert mit einer tiefen Zuneigung. Mit Ausnahme der Weisheit ist diese vielleicht die größte Gabe der Götter an den Menschen. So mancher bevorzugt Reichtum, Gesundheit, oder Macht, manch anderer öffentliche Ämter und viele auch die Wollust. [...] Dann ist da, wer die Tugend für das höchste Gut hält: Das ist zweifellos eine wunderbare Sache, aber es ist ja gerade die Tugend, die die Freundschaft erzeugt und schützt und ohne Tugend ist Freundschaft absolut unmöglich. [...] Es kann keine Freundschaft geben, außer unter Ehrlichen. In der Tat ist es eine Eigenschaft des ehrlichen Menschen, den man mit Recht weise nennen darf, darauf zu achten, dass nichts Geheucheltes oder Simuliertes dabei ist. In der Tat ist es eine Eigenschaft edler Seelen sogar offenkundig zu hassen, anstatt die eigenen Gedanken scheinheilig zu verbergen. Darüber hinaus weist er nicht nur die ihm von jemandem erhobenen Vorwürfe zurück, sondern ist auch nicht misstrauisch und denkt nicht immer, dass der Freund irgendeinen Fehler begangen habe. Schließlich sollte noch die Sanftheit der Wortwahl und des Benehmens hinzugefügt werden, eine Würze, die nicht aus der Freundschaft wegzudenken ist. [...] Würdig der Freundschaft sind aber diejenigen, bei denen es einen Grund gibt, warum sie geliebt werden. Seltene Sorte! [...] Von allen Gütern des menschlichen Lebens ist die Freundschaft das einzige, über dessen Nützlichkeit sich die Menschen einstimmig einig sind. Jeder weiß, dass Leben ohne Freundschaft kein Leben ist, wenn man zumindest teilweise als freier Mensch leben will. Wie weiß ich nicht, aber Freundschaft dringt in der Tat in jedermanns Leben ein und erlaubt keiner Existenz, ohne sie zu vergehen. Im Gegenteil, selbst wenn ein Mensch einen so schroffen und wilden Charakter hätte und vor jedem menschlichen Kontakt flöhe, könnte er trotzdem nicht darauf verzichten, jemanden zu suchen, den er mit dem Gift seiner Bitterkeit ankotzen könnte. Dann ist also wahr, was Archytas von Tarent, wenn ich nicht irre, bekräftigte:Wenn ein Mann in den Himmel aufstiege und die Natur des Universums und die Schönheit der Sterne betrachtete, würde ihm das Wunder dieses Anblicks nicht die erwartungsgemäße, immense Freude bereiten, sondern ihn fast quälen, weil er niemanden hätte, dem er es erzählen könnte. Die Natur liebt Isolierung also überhaupt nicht und versucht immer, sich sozusagen an eine Stütze zu lehnen, die umso süßer ist als der Freund teuer. [...] In Wirklichkeit sind freundschaftliche Beziehungen verschiedenartig und komplex und es können viele Gründe für Verdacht und Streit aufkommen; sie mal zu meiden, mal zu mildern und mal zu ertragen, ist ein Zeichen der Weisheit. Es sollte kein bestimmter Grund für Groll betont werden; um Vorteile und Treue einer Freundschaft zu bewahren, muss man Freunde oft ermahnen und zurechtweisen und ebenso Ermahnungen ihrerseits mit freundschaftlichem Geist hinnehmen, wenn sich diese auf Zuneigung stützen. Wenn also tadeln und getadelt werden ein Zeichen wahrer Freundschaft ist - und mit Aufrichtigkeit, aber ohne Härte tadeln und Vorwürfe geduldig, aber ohne Groll hinnehmend - dann müssen wir zugeben, dass die verhängnisvollste Pest der Freundschaft aus Schöntuerei, Schmeichelei und Unterwürfigkeit besteht. Nenne es, wie du willst: Es wird immer ein Laster sein, das verurteilt werden muss, das Laster eines Täuschers und Lügners, das Laster von jemand, der immer bereit ist, etwas zu sagen, um zu gefallen, aber niemals die Wahrheit.

Freundschaft ist in erster Linie Kommunikation zwischen zwei Menschen, die ihre Leidenschaften, ihre gemeinsamen Situationen teilen und sich auf der langen Reise des Lebens, im Guten und Bösen, gegenseitig tolerieren. Ich verwende den Begriff „sich tolerieren“, weil es unter den Menschen stets Unterschiede gibt, die zum Nachdenken anregen und gleichzeitig zu Wachstum führen; aber sie können auch ein Zerwürfnis verursachen, das in den schlimmsten Fällen, wenn das Vertrauen verschüttgeht und gegenseitige Verständnislosigkeit entsteht, auch endgültig ist. Leider wird man sich der Bedeutung eines Freundes erst bewusst, wenn er uns beiseitelässt, wenn wir seinen Rückzug aus unserem Leben wahrnehmen. Mit anderen Worten, der Verlust einer Freundschaft schmerzt uns erst, wenn uns klar wird, dass wir sie für immer verloren haben. Um Verzeihung zu bitten, nutzt uns wenig. Es kann den Dialog wiederherstellen oder körperliche Beziehungen werden vielleicht wieder aufgenommen, aber das verlorene Vertrauen wird dadurch nicht zurückgebracht. Wie durch die Klinge eines Dolchs verursachte Wunden, die das ganze Leben lang sichtbar bleiben, auch wenn sie mit der Zeit verheilen. Freundschaft ist ein wertvolles Gut, das Tag für Tag gepflegt werden will. Es verändert sich ständig und ihm haben wir es zu verdanken, dass wir nicht einmal den Lauf der Zeit wahrnehmen. Plautus sagte: „Wo Freunde sind, da ist Reichtum“, und um Freundschaft zu sein, muss sie gelebt und aufgebaut und nicht wie ein Denkmal oder irgendein Wunder der Natur betrachtet werden. Man kann nicht Zuschauer einer Freundschaft sein, man muss in die Kleider des Schauspielers schlüpfen und seiner Rolle auf der Szene gerecht werden, bis zum Ende des Akts, bis der Vorhang fällt. Man muss es immer persönlich tun, sich einbringen, vielleicht manchmal einen Fehler machen oder riskieren betrogen zu werden. Der Anblick einer Aurora Borealis kann begeistern, aber ganz bestimmt kann man nicht gleichgültig bleiben, wenn man einem Welpen und einem Kätzchen zusieht, wie sie sich im Spiel gegenseitig liebkosen, ohne sich ihrer Verschiedenheit und ihrer Zukunft als „feindselig/Feind“ bewusst zu sein. Manchmal suchen wir uns bestimmte Menschen aus, weil wir wissen, dass der Tag mit ihnen unbeschwerter ist und alles fröhlicher erscheint. Wir erkennen vielleicht nicht, dass sie potenzielle Freunde sind. Und so, ganz plötzlich sind sie es einfach, und Schluss, ohne Vorteil weder für uns noch für sie. Gemäß der Gesetze der Wirtschaft ist „schenken“ nur gut, wenn ihm immer ein „sich schenken lassen“ entspricht. In der wahren uneigennützigen Freundschaft gibt es stattdessen ein ständiges Schenken und wie man es tut, ist mehr wert als das, was man gibt.

 

Und dann kommt die Liebe, in allen ihren Formen. Freundschaft und Liebe, ein unauflöslicher Bund? Und die Zuneigung, die sie irgendwie vereint? Das sind grundlegende Empfindungen in unserem täglichen Leben, Überbringer einzigartiger und unvergesslicher Gefühle, triftige Gründe, um uns den unzähligen Schwierigkeiten zu stellen, denen wir täglich auf unserem Weg begegnen. Im Laufe unserer Existenz erleben wir etliche Male solche Situationen. Wir haben so oft mit diesen Gefühlen zu tun, die wir auch im Griff haben, verstehen und manchmal akzeptieren müssen, so wie wir auch uns selbst akzeptieren, allem und allen zum Trotz. Manchmal geraten diese Gefühle durcheinander und es wird schwierig, sie zu unterscheiden, um Klarheit darüber zu bekommen, was wir fühlen. Andere Male ist diese Arbeit nutzlos und wir erkennen das nicht einmal: Der Hunger nach Klarheit fördert nur zusätzlich unseren Zustand innerer Verwirrung. Wenn man einen Freund lieb hat, unabhängig vom Geschlecht, wenn einem etwas an ihm liegt und man sogar integraler Bestandteil seiner Existenz ist, ist es fast überflüssig, die beiden Dinge zu unterscheiden. Liebe als der ultimative Höhepunkt der Freundschaft. Tief in unserem Innern werden wir in Mitleidenschaft gezogen, wenn ein Freund leidet oder Freude empfindet, schöne oder schlimme Momente seines Lebens durchläuft. Mit ihm teilen wir die gleichen Erfahrungen und Gefühle. Ebenso teilt der Freund die unsrigen. So lebt man in Symbiose, indem man genauso großen Wert auf das Wohlergehen des Freundes wie auf das eigene legt. Und weil man sich selbst wohl oder übel liebt, ist es korrekt zu behaupten, dass man auch ihn oder sie auf die gleiche Weise liebt. Lohnt es sich also wirklich zwischen Freundschaft und Liebe zu unterscheiden? Sicherlich, wenn Sex, Familie und Zusammenleben mit in die Beziehung kommen. Tatsache ist, dass es in bestimmten Situationen einfach überflüssig ist, sich diese Frage zu stellen.

Giselle trat aus der Tür, mit einem vornehmen Herrn an ihrer Seite, dessen Körperbau eher groß und mager war. Sie hatte sich bei ihm eingehakt. Jacques hatte dichtes, langes Haar. Seine anscheinend angespannte Gesichtshaut, verlieh ihm trotz seines Alters ein jugendliches Aussehen, auch wenn ein lichter, ungepflegter Bart sein Gesicht teilweise bedeckte und seine Gesichtszüge verbarg. Er trug ein Hemd mit großen grauen und braunen Karos, das im Vergleich zu seinem tatsächlichen Brustumfang etwas zu groß und vorne nur teilweise zugeknöpft war. Er hatte die Ärmel bis über die Ellenbogen hochgekrempelt, was die Bewegungen erleichterte, die zuweilen ungeschickt aussahen. Die braune Baumwollhose hingegen hatte die richtige Größe und schmiegte sich gut an seine Beine. Eine Sonnenbrille verbarg seine Augen. Sein Gang war unsicher und er ging, ohne anzuhalten, aber die Beine hinter sich herziehend, als ob sie an schwere Felsbrocken gebunden wären. Hinter ihnen, auf gewissem Abstand, folgte wie um nicht zu stören und beinahe taktvoll, eine Hündin, eine elegante deutsche Schäferhündin. Jacques setzte sich an die kurze Seite des Tisches, Giselle auf die gegenüberliegende, während sich die Hündin auf den Boden legte, weniger als einen halben Meter von Jacques entfernt.

„Komm her Puh, Platz, hier neben mich!“ befahl Jacques der Hündin. Es ist ein Weibchen, schön, nicht wahr?

„Wirklich sehr schön! Und scheint auch so gelehrig!“, antwortete ich und fragte mich gleichzeitig, warum wohl eine Hündin einen Namen hatte, der eher zu einem Rüden passte. „Haben Sie sie schon lange?“, fragte ich und behielt dabei einen Ton absoluten Respekts den Personen, der Situation und der Liebe gegenüber, die sie für dieses Tier zeigten.

„Seit Jahren teilt sie dieses Haus und seinen Garten mit uns. Und ich bin sicher, sie würde sterben, wenn sie hier wegmüsste“, antwortete Jacques, während er sie mit seiner großen rechten Hand streichelte. Puh ließ sich gerne streicheln und zeigte dabei auch eine gewisse Befriedigung. Sie hielt die Augen vollkommen geschlossen und hob elegant die Schnauze, wenn ihr die Hand ihres Herrchens über den Kopf strich.

„Ich kann sie verstehen. Sie lebt an einem so schönen Ort, in völliger Freiheit und in die Düfte der Umgebung eingehüllt. Und dann die Aufmerksamkeiten ihres Herrn! Nicht alle Hunde auf dieser Erde haben die Ehre von einem weisen Mann am Kopf gekrault zu werden“, räumte ich mit dem Anflug eines freundlichen Lächelns ein. Jacques sah mich nicht an, streichelte weiter Puh mit sanften und regelmäßigen Bewegungen, die jeden, der ihnen zusah, hypnotisieren konnten.

„Was noch hat euch mein junges Mädchen über mich erzählt?“, fragte er mit strengem Gesicht. Ich sah Giselle an und sie gestikulierte lebhaft, lächelte und gab mir zu verstehen, dass sie sich da heraushalten wollte. In ein paar Minuten würde Jacques alles selbst von sich geben.

„Nichts anderes als das ist der Beweis, dass er Sie ungeheuer lieb hat“, konnte ich mir nicht verkneifen. Vielleicht hatte ich es auch als einfachen Versuch einer Entschuldigung für die Bemerkung von soeben gesagt.

„Meine Giselle! Meine Giselle hat kein gutes Gedächtnis oder zumindest gibt sie vor, keines zu haben! Sie hat euch also nicht gesagt, dass ich eine Quasselstrippe bin? Ich bin nicht weise, ich bin nur eine unverbesserliche Quasselstrippe! Jacques, Frankreichs größte Quasselstrippe, so geschwätzig, dass ein Politiker blass würde, sowie er den Mund aufmachte! Er setzte ein ironisches Lächeln auf, weshalb man erahnen konnte, dass sein Monolog noch nicht zu Ende war. „Giselle, hast du unseren Freunden nicht gesagt, dass der weise Monsieur Jacques von Geburt an blind ist? Monsieur Jacques, Frankreichs größte Quasselstrippe, ist noch dazu ein armer Blinder!“, fügte er heftig hinzu, gestikulierte lebhaft, seine Fäuste zum Himmel hebend und erbittert lachend. Ich erstarrte augenblicklich und Sonia mit mir. Wir empfanden ein starkes Gefühl des Unbehagens und begannen uns zu fragen, ob es tatsächlich die richtige Wahl gewesen war hierzubleiben. Jacques Blindheit war an seinem Benehmen nicht zu erkennen; aber gleich danach, sowie es bekannt geworden war, begann ich die Brille mit den dunklen Gläsern und die Unsicherheit seiner Schritte mit seinem eigentlichen Problem an den Augen zu verbinden. Ich dachte, dass es besser wäre zu gehen, sobald der richtige Moment kommen würde.

You have finished the free preview. Would you like to read more?