Handbuch Ius Publicum Europaeum

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cc) Madrid: Das „Tribunal de Garantías Constitucionales“ (1931–1939)

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Wie bei einer imaginären Restaurierung der Herrschaftsgebiete der alten Habsburger Monarchie wird Spanien der dritte Staat sein, der sich Österreich und der Tschechoslowakei bei der Übernahme des kelsenianischen Systems anschließt. In einer Zeit, in der viele der neuen nach 1918 entstandenen Verfassungen, insbesondere die beiden bereits beschriebenen Verfassungsgerichte, in eine aussichtslose Krise geraten, unternahm Spanien den zweiten praktisch bedeutenden Versuch zur Einrichtung der neuen Form der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, und zwar mit einem ebenso anormalen Ende wie die vorherigen.[163] Am 14. April 1931 kam es zum Sturz der 1874 restaurierten Bourbonen Monarchie und der Proklamation der 2. Republik. Eine verfassunggebende Versammlung (Cortes Constituyentes) verkündete am 9. Dezember desselben Jahres die Verfassung der jungen Republik. Es wurde damit eine parlamentarische Demokratie mit fortschrittlich sozialer Ausrichtung eingeführt, die ein offenes Programm für die Dezentralisierung des Staates enthielt, das bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 nur in Katalonien umgesetzt wurde.

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Im Gegensatz zu den beiden vorherigen Fällen fehlte Spanien jede nennenswerte Erfahrung in Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit.[164] Mit der Verfassung von 1931 wurde nun eine eigene Variante des neuen Modells eingeführt, die die drei Grundelemente der Verfassungsgerichtsbarkeit, Normenkontrolle, quasiföderale Kompetenzstreitigkeiten und die Individualbeschwerde zum Schutz der Grundrechte (amparo), beinhaltete.[165] Diese Zuständigkeiten sollten von einem Tribunal de Garantías Constitucionales wahrgenommen werden.[166]

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Die Ausarbeitung des Gesetzes, das die in der Verfassung offen gebliebenen Aspekte des Modells schließen sollte, erwies sich als politisch kompliziert, so dass es nur um den Preis einiger Abweichungen im Vergleich zum ursprünglichen Konzept gelang, das Gericht in Gang zu setzen.[167] So wird insbesondere die Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen letztendlich nur inter partes wirken. Betreffend dieser ersten Erfahrung Spaniens mit der Verfassungsgerichtsbarkeit österreichischer Prägung ist die Frage berechtigt, ob es sich aus organischer Sicht und als Ganzes gesehen wirklich um ein „Gericht“ handelt. Denn es war ein wahrlich bunt zusammengesetztes Organ, in dem sowohl Juristen unterschiedlicher Herkunft sowie ein „Vertreter“ für jede der 15 Regionen des Landes, samt zwei Parlamentsabgeordneten, aber kein Mitglied aus der Justiz, präsent sind. Bis 1933 gelang es nicht, dieses Modell fertigzustellen, und erst im folgenden Jahr begann der Gerichtshof, seine Kompetenzen auszuüben. Es ist jedoch zu verzeichnen, dass dieses Verfassungsgericht in nur zwei Jahren und in einem politischen Kontext enormer Konfrontation, insbesondere zwischen dem Staat und der autonomen Region Katalonien, eine beachtenswerte Rechtsprechung entwickelte.[168] Zwei Jahre später bedeutet der Ausbruch des Bürgerkriegs zwar nicht das Ende der Republik, wohl aber die Lähmung des Gerichtshofs.[169]

dd) Liechtenstein (1925)

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Schließlich ist es ein Kleinstaat, das Fürstentum Liechtenstein, der seit 1925 ununterbrochen ein letztes Beispiel der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit in dieser Periode darbietet. Art. 104 der am 5. Oktober 1921 verabschiedeten Verfassung samt eines Gesetzes vom 14. Dezember 1925 gestalten einen „Staatsgerichtshof“, der seinen Zuständigkeiten zufolge ein Verfassungsgericht im wahren Sinne des Wortes ist. Als solches übt er sowohl eine abstrakte wie eine inzidente Normenkontrolle aus. Wie im Fall Österreichs schon gesehen, nimmt der Gerichtshof die authentische Auslegung der Verfassung bei Unstimmigkeiten zwischen Regierung und Landtag vor. Darüber hinaus ist er zuständig, über Individualbeschwerden zum Schutz der Grundrechte zu entscheiden.[170] Ungeachtet der begrenzten Tätigkeit dieses Gerichtshofs während dieser Periode ist Liechtenstein unter anderem deshalb interessant, weil es erstmals eine inzidente Normenkontrolle generell gestaltet.

d) Bilanz der Zwischenkriegszeit

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Die zwei Jahrzehnte der europäischen Zwischenkriegszeit stellen, was die normative Verfassung und ihre gerichtliche Garantie betrifft, alles andere als einen Siegeszug dar. Doch trotz des unglücklichen Endes dieser ersten Erfahrungen mit der konzentrierten Normenkontrolle, ist die Erinnerung an einen acquis constitutionnel geblieben, die sich zum Zeitpunkt der Rückkehr der Verfassungen im europäischen Raum 1945 als lebendig erweisen wird. Im Jahre 1939, als die Verfassungsstaatlichkeit in weiten Teilen des Kontinents der Gewalt zum Opfer gefallen war, ist die Überzeugung im europäischen Verfassungsdenken weithin verankert, dass keine Alternative zur Normativität der Verfassung und ihrer gerichtlichen Gewährleistung vorhanden sei. Zu dieser Periode gehören viele enttäuschende Erfahrungen auf der Suche nach einem europäischen Weg zur normativen Verfassung, aber es scheint im Unterbewusstsein die Vorstellung lebendig geblieben zu sein, dass der Hüter der Verfassung kelsenianischer Prägung einen erneuten Versuch im europäischen Rechtsraum wert sei.

2. Konstante Ausbreitung der Verfassungsgerichte in Westeuropa (1945–1989)

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Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt eine lange Zeitspanne, die bis Ende 1989 anhält, dem Jahr der Wiederbegegnung der europäischen Staaten in einem gemeinsamen Verfassungsraum. Für die Verfassungsgerichtsbarkeit ist dies die Zeit der Verankerung der konzentrierten Normenkontrolle more austriaco. Vorbei sind die gescheiterten Versuche der vorigen Periode, sei es aus überwiegend exogenen (Österreich), endogenen (Tschechoslowakei) oder einfach beiden (Spanien) Gründen. Das neue System erscheint nun fest in den jeweiligen Verfassungsordnungen verankert, ohne die Rückschläge bzw. Anfälligkeiten der Zwischenkriegszeit. Diese neue Zeit lässt sich leicht in vier Etappen ordnen. Die Schlussbilanz wird, im Vergleich zur vorherigen Periode, vollkommen anders aussehen.

a) Die Nachkriegszeit: Verfassungsrestaurierung und Verfassungsneuschöpfung

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Die verfassunggebende Tätigkeit der zweiten Nachkriegszeit (1945-1956) ist weniger intensiv als die vorherige, vor allem, weil weniger Staaten neu entstehen oder wieder entstehen. Nach einer kurzen Zeit von formell freiheitlichen Verfassungen[171] geht für viele Jahre die östliche Hälfte Europas für die Verfassungsstaatlichkeit verloren. Der europäische Verfassungsraum wird für Jahrzehnte auf die westliche Hälfte des Kontinents beschränkt sein, und auch das nur unvollständig.[172] Die Zeit der Verfassunggebung ist an erster Stelle für die Besiegten gekommen, Deutschland und Italien. Beide Staaten übernehmen zwischen 1948 und 1956 das von Österreich vor 1939 eingeführte System der Verfassungsgerichtsbarkeit.[173] Die Verfassung der Italienischen Republik von 1948 und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 sehen beide ein rechtsprechendes Organ mit dem Namen „Verfassungsgericht“ vor, dem das Verwerfungsmonopol von Gesetzen obliegt. Die effektive Umsetzung des Systems dauert jedoch einige Zeit: bis 1951 in der Bundesrepublik Deutschland, bis 1956 in der Italienischen Republik. Zeitlich davor erfolgt jedoch die Restaurierung des schon bekannten österreichischen Verfassungsgerichtshofs.

aa) Verfassungsrestaurierung: Der österreichische Verfassungsgerichtshof

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Für Österreich bedeutet das Kriegsende die Rückgewinnung seiner Unabhängigkeit als Staat. Die wiederhergestellte Republik Österreich zieht jedoch den Gedanken eines erneuten Prozesses der Verfassunggebung nicht in Betracht. Stattdessen begnügt sie sich damit, die Verfassung von 1920 wieder in Kraft zu setzen, die Verfassungsgerichtsbarkeit selbstverständlich eingeschlossen, und zwar in der Fassung vor der autoritären Wende von 1933 bzw. so wie sie nach der Verfassungsreform von 1929 galt.[174] Für den europäischen Verfassungsraum impliziert dies, dass Italien und Westdeutschland einen operativen Bezugspunkt im österreichischen Verfassungsgericht zur Verfügung haben, unabhängig davon, in wie weit sie sich an diesem Modell im Detail orientieren.

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Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass Österreich nach der Errichtung der neuen Verfassungsgerichte in Deutschland und Italien nicht mehr der Referenzpunkt par excellence auf europäischer Ebene blieb. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer ist das im Vergleich geringere Gewicht des Landes. Aber es gibt auch andere Faktoren, die eher mit der Struktur der österreichischen Verfassung zusammenhängen. Im Bereich der Grundrechte hielt Österreich weiter an der alten Erklärung der Grundrechte von 1867 fest, was gerade nicht zu einer innovativen Rechtsprechung in diesem rasch wachsenden Bereich beitrug. Andererseits verzweigte sich das österreichische Verfassungsrecht seit Beginn in einer ständig wachsenden Zahl von Gesetzen bzw. Gesetzesbestimmungen mit Verfassungsrang, bis es zu einer abstrakten normativen Kategorie wurde, dem Verfassungsrecht, das einer ebenso abstrakten Rechtskategorie, der des Gesetzes, gegenüberstand. Auch die lang anhaltende Zurückhaltung des Verfassungsgerichtshofs angesichts des Gerichtsaktivismus stand einer mächtigen Außenwirkung des österreichischen Modells entgegen. Es ist dennoch nicht zu leugnen, dass das österreichische Modell das Modell geblieben ist, das seit der ersten Formulierung des Systems das höchste Maß an Kontinuität und Stabilität aufzeigt.

 

bb) Hauptstadt Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht[175]

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So wie Wien während der Zwischenkriegszeit die Hauptstadt der Verfassungsgerichtsbarkeit more Europaeo war, so wird es jetzt Karlsruhe sein, als Sitz des neuen Bundesverfassungsgerichts des nicht minder neuen Bonner Grundgesetzes, der provisorischen Verfassung für die westlichen Gebiete des drastisch geteilten deutschen Territoriums.[176] Es ist kein Titel, den Karlsruhe sich vom ersten Moment an aneignen durfte, denn Karlsruhes Anfänge waren nicht weniger bescheiden als die der Verfassung, die zu garantieren das neue Gericht berufen war.[177] Im Laufe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erlebt man jedoch den Aufstieg eines wahren Mythos, nämlich den eines Verfassungsgerichts, das eine Autorität und Anerkennung im In- und Ausland erlangen sollte, wie sie im europäischen Raum für ein Gericht jedweder Art bis dahin unbekannt war.[178]

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Im Grundgesetz mit den Hauptzügen des österreichischen Systems ausgestattet, blieb eine Zahl der – sowohl organischen als funktionalen – Merkmale dieses neuen Verfassungsorgans offen.[179] Erst im Laufe der Zeit erfuhr das Bundesverfassungsgericht, wie wir es heute kennen, vollständige Regelung im Grundgesetz selbst: So z.B. die Verfassungsbeschwerde. Auch für seine Konsolidierung wurde ihm nicht viel Zeit gegeben. Vom ersten Moment an war es mit Fragen von höchster politischer Sensibilität konfrontiert.[180] Wenn dies eine kurz gefasste Erklärung seines Erfolgs sein kann, so entstand das Bundesverfassungsgericht zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Darüber hinaus verstanden es die ersten Verfassungsrichter und die erste Verfassungsrichterin, auf ihre historische Herausforderung entsprechend zu reagieren.[181]

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Die Hauptrolle sollte bald der Verfassungsbeschwerde zukommen, als dem effektivsten Verfahren zum Schutz des neuralgischen Zentrums des Grundgesetzes, den Grundrechten. Das strategische Instrument war die Urteilsverfassungsbeschwerde, d.h. das Rechtsmittel gegen alle letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen. Im Rahmen der Normenkontrolle sollte jedoch das Verhältnismäßigkeitsprinzip der ausschlaggebende Faktor werden. Kurz gesagt: Was Karlsruhe mit Ausstrahlung und Auswirkung auf ganz Europa zur Welt bringt, ist das Bild eines Gemeinwesens, in dem sowohl das öffentliche Handeln wie ein beachtlicher Teil des Handelns Privater an der Verfassung gemessen werden, letzteres deshalb, weil die Verfassung vermag, dazu etwas zu sagen, und das Bundesverfassungsgericht es ist, das darüber befindet, ob das der Fall ist.

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Außer bezüglich seiner Struktur als Zwillingsgericht, d.h. seiner Zweiteilung in zwei Spruchkörper, die Senate, mit jeweils eigenen Kompetenzen, wird das Bundesverfassungsgericht sonst in seinen Hauptzügen im europäischen Raum imitiert. Andere europäische Verfassungsgerichte versuchen, viele seiner grundlegenden formulae (Doppelcharakter und Strahlungswirkung der Grundrechte, Verhältnismäßigkeitsprinzip, usw.) zu übernehmen. Es wurde aber darüber hinaus auch verfolgt, das Beispiel Karlsruhes in seiner Innovationsfähigkeit, in der Kühnheit der Ausübung seiner Kompetenzen und bisweilen sogar in seiner Vorrangstellung im gesamten Verfassungssystem nachzuahmen, und das alles ohne klares Bewusstsein der besonderen Umstände, die dies in Deutschland ermöglicht hatten.[182]

cc) Die Corte costituzionale

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Für viele Jahre erscheint die italienische Corte costituzionale als das andere europäische Verfassungsgericht, in dem Sinne, dass es zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht zukunftsweisend die Verbreitung des europäischen Systems in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts prägt. Zwar liegt die Corte costituzionale als 1948 in der Verfassung vorgesehener Verfassungsgerichtshof zeitlich kurz vor dem Bundesverfassungsgericht. Verschiedene Umstände bringen es jedoch mit sich, dass die vollständige Regelung des Gerichts und damit die Aufnahme seiner Amtsgeschäfte sich um acht Jahre verzögert.[183] Das Gericht fand jedoch von Anfang an einen Vorgänger in der Alta Corte für Sizilien, die über die Beachtung der Kompetenzverteilung zwischen der jungen Republik und der Region Sizilien in diesen ersten Jahren wachte.[184] Die Rolle der Corte costituzionale in der italienischen Rechtsordnung hat sich im Laufe der sieben Jahrzehnte ihres Bestehens entsprechend gewandelt.[185] In ihrer Eigenschaft als eines der ersten Verfassungsgerichte Europas, erscheint heute die Corte costituzionale als das stabilste Element der italienischen Verfassung, womöglich nur mit dem Amt des Präsidenten der Republik zu vergleichen.

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In der Entwicklung des europäischen Systems stellt das italienische Modell eine Variante der Verfassungsgerichtsbarkeit dar, die hauptsächlich auf der inzidenten oder konkreten Normenkontrolle beruht, einer Funktion, die also grundsätzlich von der Zusammenarbeit der Judikative mit der Corte costituzionale abhängig ist: Das erste Urteil (1/56) proklamierte die unmittelbare Geltung der Verfassung gegenüber der Gesamtheit der italienischen Rechtsordnung mit der Konsequenz der eventuellen Nichtigkeit (und nicht einfach der Außerkraftsetzung) des vorkonstitutionellen Rechts, das als solches und anders als in Deutschland auch dem Verwerfungsmonopol der Corte costituzionale unterstand.[186] Das hinderte den Gerichtshof im Laufe der Zeit nicht daran, die ordentlichen Richter zu ermutigen, die verfassungskonforme Auslegung des jeweiligen Gesetzes selbst vorzunehmen, bevor sie die Frage der Corte vorlegen.[187] Ebenso hat die Corte costituzionale angesichts der wachsenden Dezentralisierung des Staates ihre Aufgabe als Garant der territorialen Machtverteilung zunehmend wahrgenommen.[188] Aus vergleichender Perspektive sei zusätzlich nur die Kompetenz der Corte costituzionale noch hervorgehoben, die Durchführung von gesetzesaufhebenden Referenden zu genehmigen und über ihren korrekten Verlauf zu wachen.[189]

b) Übergangsjahre (1956–1974): Erste Schritte in der Umwandlung des französischen Conseil constitutionnel

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Die Nachkriegszeit kann für unsere Belange mit der Aufnahme der Tätigkeit der Corte costituzionale 1956 als abgeschlossen angesehen werden. Seitdem und für anderthalb Jahrzehnte erscheinen die drei erwähnten Verfassungsgerichte als die alleinigen Repräsentanten der konzentrierten Normenkontrolle in Europa. Während dieser Zeit, in der die Verfassungsgerichtsbarkeit more austriaco sich in diesen Staaten festigt, sind sonst wenige Neuerungen zu verzeichnen. So werden Anfang der 1960er Jahren am Rande des europäischen Raums einige Verfassungsgerichte fast gleichzeitig und mit begrenztem Erfolg ins Leben gerufen: Das ist der Fall für Zypern, die Türkei und Jugoslawien. 1960 wurde in der jungen Republik Zypern ein „Constitutional Supreme Court“ geschaffen,[190] so wie auch im folgenden Jahr das Verfassungsgericht der weniger jungen Republik Türkei.[191] 1963 wurde in die jugoslawische Verfassung ein Verfassungsgericht auf Bundesebene in Koexistenz mit Gerichten gleicher Art in den sechs föderativen Republiken[192] aufgenommen. Aus verschiedenen Gründen sind all dies Gerichte, die wenig Einfluss auf die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa hatten, die aber dennoch dazu beitrugen, dass die konzentrierte Normenkontrolle als die normale Variante der Gewährleistung der Verfassung auf dem Kontinent angesehen wurde.

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Die eigentliche Neuerung in der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa bildet allerdings der Conseil constitutionnel der 5. Französischen Republik. Mit ihm wird Europa Zeuge der Einsetzung und Entwicklung eines eigenartigen Verfassungsorgans, dem es im Laufe eines komplizierten und langen Prozesses erstmalig in der Verfassungsgeschichte Frankreichs gelingt, ein in Kraft getretenes parlamentarisches Gesetz für verfassungswidrig und nichtig zu erklären.[193]

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Noch vor ihm und unter dem Namen Comité constitutionnel wurde 1946 ein Organ in der Verfassung der 4. Französischen Republik mit der Aufgabe betraut, der Eventualität eines verfassungswidrigen Gesetzes zu begegnen. Mit einer Zusammensetzung politischer Natur war dieses Comité constitutionnel dazu konzipiert, in kurzer Frist über die Verfassungsmäßigkeit eines noch nicht in Kraft getretenen Gesetzes zu entscheiden. Im Endeffekt und aus der heutigen Perspektive war dieses Comité constitutionnel, das ohne praktische Wirkung blieb, kaum mehr als ein eleganter Ausweg, auf die anhaltende Frage des Umgangs mit verfassungswidrigen Gesetzen eine elementare Antwort zu geben.[194]

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Mit der Verfassung der Fünften Republik vom 4. Oktober 1958 begibt Frankreich sich auf den langen Weg zu einem Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das zwar immer noch eigenartig ist, aber dennoch heutzutage mit anderen Varianten der konzentrierten Normenkontrolle vergleichbar ist.[195] Mit einer markant politischen Zusammensetzung und der Ausübung einer bloß präventiven Normenkontrolle war der Conseil constitutionnel zum Zeitpunkt seines Entstehens kaum als „Verfassungsgericht“ zu bezeichnen. Die Kategorie der Verfassungswandlung ist hier völlig treffend, um den Prozess zu beschreiben, der zu seiner Annäherung an die gewohnten Gerichte mit konzentrierter Gerichtsbarkeit führt.[196] Sechs Jahrzehnte später hat Frankreich immer noch, wenn auch oft geändert, dieselbe Verfassung und – organisch betrachtet – denselben Conseil constitutionnel. Hier interessieren insbesondere die Verfassungsänderungen, die sich auf ein Verfassungsorgan beziehen, das sich – ohne seinen Namen zu ändern – zu einem Akteur der Verfassungsgerichtsbarkeit auf europäischer Ebene entwickelte.

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Die Etappen in der Entwicklung und Wandlung des Conseil constitutionnel lassen sich wie folgt signalisieren: Das grundlegende Urteil vom 16. April 1971 stellte die Unvereinbarkeit eines Gesetzentwurfs mit dem Gesetz zum Vereinsrecht als Teil des sogenannten bloc de constitutionnalité fest. Damit entfernte sich der Conseil constitutionnel von seiner bis dahin – im Rahmen der Normenkontrolle – einzigen Funktion als Garant der Abgrenzung zwischen den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen des Parlaments und der Regierung.[197] Kaum drei Jahre später wird die Verfassung geändert, um die Antragsberechtigung der parlamentarischen Minderheit in Bezug auf die immer noch nur präventive Normenkontrolle zu ermöglichen. So verliert diese Art der Normenkontrolle ihren ursprünglichen Charakter als Schiedsgericht zwischen Verfassungsorganen, um der parlamentarischen Minderheit eine effektive Waffe gegen eventuell verfassungswidrige Gesetze in statu nascendi zu verleihen.[198] Das „Überschreiten des Rubikons“, nämlich die konzeptionelle und praktische Annahme der Möglichkeit der Nichtigerklärung eines in Kraft getretenen verfassungswidrigen Gesetzes, geschieht allerdings erst 2008, als das neue Verfahren der konkreten Normenkontrolle, die question prioritaire de constitutionnalité, in die Hände der höchsten Gerichte, des Conseil d’État und der Cour de cassation, gelegt wird.[199]

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Das letzte Ereignis, das auf kontinentaler Ebene in dieser Periode zu verzeichnen ist, ist die Gründung der „Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte“, die 1972 in der Stadt Dubrovnik unter der heute als unerwartet anmutenden Schirmherrschaft des Verfassungsgerichtshofs des ehemaligen Jugoslawien zusammentraf, und seitdem regelmäßig alle drei Jahre stattfindet. Kaum vier Gerichte nahmen an dem ersten Treffen teil.[200] Heute zählt die Konferenz, mit rotierendem Sitz am Gerichtshof, der die nächste Konferenz organisiert, 40 Gerichte, die zwar nicht alle den Namen „Verfassungsgericht“ tragen, aber doch alle eine Kompetenz zur Gesetzesprüfung der Sache nach ausüben. Die Rolle dieses europäischen Forums als Ort des Dialogs auf höchster Ebene zwischen den Verfassungsgerichten ist nicht zu unterschätzen. Es ist interessant festzustellen, wie sich auch höchste Gerichte, die, ohne den Namen zu tragen, verfassungsgerichtliche Funktionen ausüben, nach und nach der Konferenz angeschlossen haben. Schon 1978 war das schweizerische Bundesgericht als erstes dieser Art in die Konferenz aufgenommen worden, gefolgt seitdem von anderen.[201]