Handbuch Ius Publicum Europaeum

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1. Die Zwischenkriegszeit: Zwischen Kontinuität und Abbruch (1918–1939)

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Was das Verfassungsrecht betrifft, sind die Zeiten so schwierig, dass man geneigt wäre, das Augenmerk auf andere Institute, insbesondere die des Ausnahmezustandes, zu richten. Und doch zeigen sich in diesen beiden Jahrzehnten die ersten Formen eines Modus, die normative Verfassung zu gewährleisten, der im Laufe der Zeit einen unerwarteten Erfolg im europäischen Raum haben wird. Seine Bedeutung ist sowohl praktischer als auch theoretischer Natur.[114] Die Verfassungsgerichtsbarkeit erreicht jetzt das Herz Europas, und zwar von Europa aus, d.h. nur zu einem sehr geringen Teil als Import aus Amerika: es ist ein Phänomen, das viel Optimismus und Autopoiesis ausstrahlt.[115] Es handelt sich zwar um eine Phase der Kreativität, jedoch dürfen die Elemente der Kontinuität nicht vergessen werden. Was den Kontext betrifft, so ist diese Zeit mehr als einfach eine Periode der Verfassunggebung,[116] denn sie ist für eine Reihe von Staaten der Moment ihrer Gründung, die sich aus dem Zerfall der kontinentalen Reiche ergibt. Die Republik in ihrer parlamentarischen Variante wird zur Regel anstatt zur Ausnahme: Europa ist nicht mehr fast ausschließlich monarchisch, was die Modernisierung der Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht. Mit noch begrenzten Fortschritten beim Frauenwahlrecht wird Europa vom gleichen und allgemeinen Wahlrecht erreicht, wiederum mit politischen und rechtlichen Konsequenzen für die Dialektik Verfassung/Gesetz: Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird, wie manchmal betont, grundsätzlich möglich.[117] Im Osten des euroasiatischen Kontinents, in einem Raum ohne erwähnenswerte verfassungsrechtliche Erfahrung, bildet sich eine Regierungsform heraus, die kaum beansprucht, sich als verfassungsgemäß zu geben.[118] Im übrigen ist es auch weiterhin die Zeit der europäischen Kolonialreiche, die als solche rechtliche Räume außerhalb des Kontinents schaffen, die weithin der Verfassung im materiellen Sinne fern bleiben.[119]

a) Der lange Schatten des 19. Jahrhunderts: Kontinuitätslinien

aa) Kontinuität im stabilen Konstitutionalismus

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Kontinuität ist der Schlüsselbegriff sowohl in den europäischen Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs, mit Großbritannien und Frankreich an der Spitze, als auch in den neutralen Ländern, wie unter anderen die Schweiz und die Niederlande. Dies ist der Raum der stabilen Verfassung. Die wegen ihres Einflusses bedeutendste nationale Bezugsgröße dieser Periode bildet die Dritte Französische Republik. Die Verfassung von 1875, mit den bereits bekannten Charakteristika, bleibt bis zum Ende der Periode dem Prinzip des Vorrangs des Gesetzes treu. Doch wird dieses Prinzip zunehmend in Frage gestellt. Während in den ersten Jahren der Republik deutlich Konsens über die Illegitimität der richterlichen Kontrolle herrscht, so mehren sich im Laufe des folgenden Jahrhunderts unaufhaltsam die Stimmen, die ein richterliches Prüfungsrecht unterstützen. Dies zeigt sich etwa in der Positionsänderung eines so repräsentativen Autors wie Charles Eisenmann, und das ist kein Einzelfall.[120] Bedeutend ist, dass die Frage des richterlichen Prüfungsrechts in Frankreich im Kontext verschiedener Forderungen nach einer „Reform des Staates“ in eindeutig antiparlamentarischem oder einfach antidemokratischem Sinn behandelt wird.[121] Besonders hervorzuheben ist im Gegensatz hierzu die Schrift des Rechtsvergleichers Édouart Lambert[122] „Le gouvernement des juges“. Dieses 1921, im genannten Umfeld der wachsenden Politisierung dieser Frage erschienene Werk ist im Wesentlichen, wenn auch nicht nur, eine Kritik an der unsozialen Rechtsprechung des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten während der sogenannten Lochner Ära. Die enorme Wirkung dieses Werks machte es zu einem wahren Manifest gegen das richterliche Prüfungsrecht.

bb) Kontinuität auch im neuen Konstitutionalismus

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Das Jahr 1918 war Zeuge der Gründung einer Reihe neuer Staaten, bzw. der Wiederherstellung ihrer vor langer Zeit verlorenen Unabhängigkeit. Sie sind fast ohne Ausnahme aus dem Zerfall der Kontinentalreiche entstanden.[123] Ohne Frage brauchten diese Staaten Verfassungen, und nachdem einmal die Zeit des Imports ausländischer Dynastien[124] überwunden war, wird ihre Staatsform ohne Ausnahme republikanisch gestaltet. Es sind Verfassungen, die viel Kontinuität und wenig Neues zu unserer Frage enthalten. Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen wird im Wesentlichen auf die Frage par excellence des letzten Jahrhunderts reduziert, nämlich die Befugnis des Richters, ein verfassungswidriges Gesetz unangewendet zu lassen. Die Antworten sind unterschiedlich, haben aber zumindest eines gemeinsam: Das Schweigen der Verfassung nimmt in dieser Hinsicht eindeutig ab.

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Ein Beispiel[125] für ein ausdrückliches Verbot der gerichtlichen Kontrolle ist Polen.[126] Rumänien hingegen, der damaligen französischen Debatte folgend, entscheidet sich für eine in den Händen des Obersten Gerichts liegende inzidente Normenkontrolle mit inter partes Wirkung.[127] Litauen beschränkt sich darauf, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verordnungen ausdrücklich vorzusehen, was als implizites Verbot der Gesetzeskontrolle verstanden werden kann.[128] Die Verfassung der neuen Republik Irland setzt die ausschließliche Zuständigkeit des High Court für die Prüfung der Gesetze fest.[129] Aber das ist im Grunde genommen alles.

b) Der Fall Weimar, zwischen Kontinuität und Abbruch (1919–1933)

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Zwischen alt und neu angesiedelt, verdient Weimar, diesmal als Summe der Reichsverfassung und der sich daraus entwickelnden Verfassungswirklichkeit verstanden, gesonderte Behandlung. Die am 11. August 1919 verabschiedete Reichsverfassung ist vor allem alt, indem sie zur Frage des richterlichen Prüfungsrechts schweigt. Aber sie ist zugleich modern in dem Sinne, dass sie durch verschiedene Vorkehrungen, sowohl de lege lata als de lege ferenda, ständig die konzentrierte und abstrakte Normenkontrolle verfolgt. Zuletzt ist sie eigenartig, indem sie zum Schutz der Verfassung auf einen an sich unerwarteten Protagonisten, den Reichspräsidenten, zurückgreift. Alles in allem bietet die erste deutsche republikanische Verfassung ein sehr komplexes Panorama, in dem alle schon bekannten Faktoren der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammenkommen: Parlamentarische Verfassungsdebatten, Institute der Verfassungskonflikte, Feststellung des richterlichen Prüfungsrechts aus eigener Hand sowie die ganze Zeit hindurch anhaltende Diskussionen auf wissenschaftlicher Ebene.[130]

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Das allgemeine Augenmerk in all diesen Jahren betrifft den Aspekt, zu dem die Verfassung gerade schweigt, das mehrmals erwähnte richterliche Prüfungsrecht.[131] Diesmal handelt es sich um ein völlig bewusstes Schweigen des Verfassunggebers, und zwar als Folge der Schwierigkeiten, sich in dieser Frage zu einigen.[132] Die gesamte Lehre wird im Laufe der Zeit Stellung zu der Frage nehmen.[133] Das Reichsgericht selbst wird es sein, das[134] in der höchst sensiblen Rechtssache des Aufwertungsgesetzes mit Urteil vom 5. November 1925, allerdings bei Aufrechterhaltung des Reichsgesetzes, das richterliche Prüfungsrecht mit klaren Worten proklamierte.[135]

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Das Parlament reagiert auf diesen richterlichen Handstreich mit dem Versuch, eine konzentrierte und abstrakte Kontrolle der Reichsgesetze einzuführen. Der sogenannte Külz-Entwurf sah vor, den Staatsgerichtshof sowohl mit einer präventiven als auch einer repressiven Kontrolle der Reichsgesetze zu beauftragen. Der Entwurf war über drei Jahre lang Gegenstand umfangreicher Diskussionen innerhalb und außerhalb des Reichstags, bis man ihn letzten Endes fallen ließ. Er bildet dennoch den bedeutendsten Versuch Weimars, ein Modell der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit einzuführen.[136]

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Unabhängig davon enthält die Verfassung, wie bereits erwähnt, einige ausdrückliche Bestimmungen zu dieser Problematik. Art. 13 der Reichsverfassung bietet in seinen beiden Absätzen eine Kombination aus diffuser Kontrolle der Landesgesetze[137] und einer konzentrierten und abstrakten Kontrolle derselben vor einem in der Reichsverfassung nicht weiter präzisierten obersten Gericht, das kraft späteren Gesetzes hauptsächlich das Reichsgericht sein wird.[138] Ungeachtet der Schwierigkeiten, die diffuse und konzentrierte Gesetzeskontrolle zu kombinieren, wird die Modernität der zweiten Variante zu Recht hervorgehoben.[139]

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Parallel dazu, in Art. 19 der Reichsverfassung, wird einem Staatsgerichtshof die Zuständigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen dem Reich und einem Land und die Beilegung von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder, in denen kein Gericht zu ihrer Erledigung besteht, zuerkannt. Aus der Perspektive seiner Zusammensetzung, die Mehrheit seiner Mitglieder gehört dem Reichsgericht an, erscheint die Selbstständigkeit dieses neuen obersten Gerichts jedoch fragwürdig. Von unbestrittener Relevanz war die nicht geregelte Frage, ob die Prüfung von Reichsgesetzen im Wege dieses Verfahrens praktikabel war. Wiederum ist es ein Urteil aus dem Jahr 1927, das die Frage in positivem Sinne löst.[140]

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Aber erst der Konflikt zwischen Preußen und dem Reich im Jahre 1932 legt die objektiven Grenzen einer richterlichen Lösung akuter politischer Konflikte offen. Der Konflikt betraf eine vom Präsidenten der Republik auf der Grundlage von Art. 48 der Verfassung erlassene Notverordnung, mit der der Reichskanzler zum Reichskommissar in Preußen mit der allgemeinen Befugnis ernannt wurde, die Regierung Preußens bei der Ausübung ihrer Aufgaben zu ersetzen.[141] Der Staatsgerichtshof antwortete mit einer verfassungskonformen Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die keine der Parteien letztendlich befriedigte.[142]

 

c) Der Kelsenian moment

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„Nimmt der Gesetzgeber die Regelung der Kontrolle der Gesetzgebung in die Hand, so werden für ihn bezüglich der Gestaltung dieser Kontrolle ausschließlich staatspolitische Zweckmäßigkeitsgründe leitend sein müssen, er ist frei über sich selbst und darf sich nicht an eine der oben angegebenen Konstruktionen gebunden fühlen“.[143] Versteht man den Verweis auf den Gesetzgeber als Verweis auf den Verfassungsgesetzgeber, so drückt dieses Zitat die Eigenart der europäischen Option für eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit in exemplarischer Weise aus. Es ist die Option für eine neue Funktion, die der Verfassunggeber frei gestaltet: die des negativen Gesetzgebers. Das ist in der Tat die eigentliche Neuerung, die zwei junge mitteleuropäische Republiken mitbringen: eine neue Verfassungsfunktion für ein neues Verfassungsorgan. Die Normenkontrolle wird also durch einen disziplinierten Modus sowohl im funktionalen wie im organischen Sinne organisiert, und das nicht zuletzt, weil in diesem System der Schutz der Verfassung mit dem Schutz des Parlamentsgesetzes einhergeht.[144] Das alles setzt die Definition des Kontrollorgans und die Bestimmung der in Frage kommenden normativen Größen voraus, d.h., des Prüfungsmaßstabs und des normativen Prüfungsadressaten, die Entscheidung über die Antragsberechtigten und über die Verfahrensvarianten, und last but not least die jeweilige Wirkung der Urteile. Kurz gefasst, es geht darum, ein verfassungsrechtliches System zur Normenkontrolle zu schaffen.[145] Und es wird die Verfassung selbst sein, die, häufig mittels ihrer Ergänzung durch ein ad hoc Gesetz, das System in Gang setzt.[146]

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So werden eine Reihe von Begrifflichkeiten geschaffen, wobei bisweilen alte Begriffe neu besetzt werden: konzentrierte versus diffuse Normenkontrolle, abstrakte versus konkrete Normenkontrolle, präventive (a priori) versus repressive (a posteriori) Normenkontrolle, inter partes versus erga omnes Wirkung des Urteils, pro praeterito versus pro futuro Wirkung desselben. In einer Kombination von substantiellen und prozeduralen Elementen entsteht aus diesen Kategorien ein prozedurales Recht der Normenkontrolle, das später als willkommenes Raster der Rechtsvergleichung dienen wird.

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All dies wäre nicht möglich gewesen, schon gar nicht mit der gleichen Sicherheit in der Ausgestaltung, ohne die Arbeit der Wiener Rechtstheoretischen Schule, insbesondere ohne einen ihrer grundlegenden Ansätze, der Konzeption des Rechtssystems als Stufenbau, in dem Verfassung und Gesetz ihren eigenen Platz finden.[147] Es ist kein Zufall, dass das System in zwei verschiedenen Staaten, deren Rechtskultur jedoch eng verwandt ist, gleichzeitig entsteht. Der „Brutplatz“ ist für Österreich und die Tschechoslowakei derselbe. Und die Professoren sind in beiden Fällen, so wie genii loci, gleichermaßen präsent.

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Knapp und kurz: dies ist der Kelsenian moment. Jedoch nicht so sehr, weil Hans Kelsen der unbestrittene Vater der Erfindung wäre, sondern weil er wie sonst keiner ihre theoretische Seele verkörpert. Seine anfängliche Antipathie für eine Gleichsetzung von Bundes- und Landesrecht bezüglich deren Kontrolle ist dabei zweitrangig: Er ist es, der der Erfindung theoretische Form gibt und der mitunter die praktische Verantwortung dafür trägt.[148] Mit Hans Kelsen hört die Idee der Normenkontrolle auf, eine dem Gesetz auferlegte Existenzbedingung darzustellen, um sich in eine dem Gesetz innewohnende Eigenschaft zu verwandeln.

aa) „Hauptstadt Wien“: Der Verfassungsgerichtshof (1920–1933)

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Die erste Republik Österreich legt in der Zwischenkriegszeit das Hauptmodell eines europäischen Systems zur Normenkontrolle, wie es soeben dargestellt wurde,[149] vor. Der Verfassungsgerichtshof ist für die Hauptkategorien der Verfassungsgerichtsbarkeit, Normenkontrolle, Verfassungsstreitigkeiten und Schutz der Grundrechte, zuständig. Im Folgenden wird es hier in erster Linie um die Normenkontrolle gehen, ohne jedoch die anderen Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofs ganz zu vergessen.[150]

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Was die Normenkontrolle betrifft, so wird das Modell im Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, im Wesentlichen in seinem Artikel 140, festgelegt, wobei der Weg dorthin lang und komplex ist.[151] Die heutige Republik Österreich, als „Deutsch-Österreich“ (1918–1920) zunächst geboren, unternimmt im Januar 1919 die Schaffung eines „Verfassungsgerichtshofs“, dem ersten überhaupt mit diesem Namen, hauptsächlich mit vom ehemaligen Reichsgericht übernommenen Zuständigkeiten, insbesondere die Individualbeschwerde. Seit März desselben Jahres übt er darüber hinaus eine präventive Kontrolle über die Landesgesetze aus. Die Ausarbeitung des Kernelements des normativen Ensembles der österreichischen Verfassung, das Bundesverfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, durchläuft einen komplexen Verhandlungsprozess zwischen Bundesregierung und Landesbehörden, bei dem die Frage nach der jeweiligen Stellung der Bundes- und Ländergesetze besondere Bedeutung erlangt. Das Endergebnis ist die Gleichstellung der beiden, was die Normenkontrolle betrifft.

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In Anbetracht des Vorherigen ist es leicht verständlich, dass das Modell im Wesentlichen im Hinblick auf die Einhaltung der normativen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern konzipiert wurde. Die Grundrechte haben bezüglich der Kontrolle von Gesetzen keine allzu große Rolle gespielt. Nicht von ungefähr hatte man im Bereich der Grundrechte überhaupt nicht innovieren wollen und beschlossen, die im Grundgesetz von 1867 enthaltene Erklärung der Grundrechte als Teil des neuen Verfassungswerks in Kraft zu lassen. Was die Struktur des Verfassungsgerichtshofs anbelangt, so wird er von einem Präsidenten und einem Vizepräsidenten sowie aus 12 Richtern und sechs Stellvertretern zusammengesetzt.[152]

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Funktionell geschieht die Normenkontrolle immer konzentriert und meistens abstrakt. Der Gerichtshof bezieht dabei auch die Kontrolle aller Gesetze mit ein, die im betroffenen Verfahren als entscheidungsrelevant erscheinen. Das Urteil ist allgemeinverbindlich, aber wieder mit einer gewichtigen Nuance: es wirkt immer pro futuro oder ex nunc. Das heißt, dass eventuelle Erklärungen der Verfassungswidrigkeit die Aufhebung und nicht die Nichtigkeit des Gesetzes mit sich bringen. Somit bleiben die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung eingetretenen Wirkungen des verfassungswidrigen Gesetzes erhalten,[153] wobei sogar die Möglichkeit besteht, die Aufhebung des Gesetzes zunächst für sechs Monate und später bis zu zwölf Monate aufzuschieben.[154] Eine österreichische Besonderheit ist die schon beim alten Reichsgericht vorhandene konzentrierte Prüfung der Verordnungen, die letzten Endes so wie die Gesetze dem Verwerfungsmonopol des Verfassungsgerichtshofs unterliegen.[155]

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Was die Entwicklung des Modells betrifft, so ist auf drei Daten hinzuweisen. 1925 wurde es einer ersten Reform unterzogen, indem deklaratorische Feststellungen seitens des Verfassungsgerichtshofs eingeführt wurden mit der Besonderheit, dass die Entscheidung den formalen Charakter eines Rechtssatzes genießt, so dass sie als authentische Auslegung der betroffenen Verfassungsvorschrift fungiert.[156] Eine zweite Reform im Jahr 1929 brachte einen überwiegend technischen und einen eindeutig politischen Aspekt mit sich. Zum einen wurde eine bescheidene Form der konkreten Normenkontrolle eingeführt, deren Impuls nur dem Obersten Gerichtshof und dem Verwaltungsgerichtshof zustand. Zum anderen wurden Wahlmodus und Status der Gerichtsmitglieder dahin gehend geändert, dass sie nicht mehr auf Lebenszeit ernannt und von der Exekutive bestellt wurden. Aus Protest gegen diese Neuerungen trat Hans Kelsen als Gerichtsmitglied zurück. Schließlich erfolgt 1933 im weitergehenden Kontext des Niedergangs der Demokratie und des Rechtsstaates in Österreich die „Ausschaltung“ des Gerichtshofs durch Einmischung der Exekutive im Wege von Notverordnungen, in deren Folge dem Gerichtshof seine Entscheidungsfähigkeit entzogen wurde.[157]

bb) Brno: Das tschechoslowakische Verfassungsgericht (1920–1938)

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Die Verfassung der ersten Tschechoslowakischen Republik vom 29. Februar 1920, aus einem kurzen „Einführungsgesetz“ und einer „Verfassungscharta“ zusammengesetzt,[158] folgt dem österreichischen Modell, indem sie ein „Verfassungsgericht“ vorsieht, dessen Struktur und Befugnisse durch ein gleichzeitig in Kraft getretenes Gesetz geregelt wurden. Es ist, wenn auch nur um einige Monate, die erste europäische Verfassung, die eine Normenkontrolle einführt, die alle Gesetze unbeschränkt betrifft.[159] Als neuer Staat wurde die Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 durch den Zusammenschluss von früher zu beiden Teilen der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden Gebieten geboren, deren nationale Identität auf einem seit dem vorigen Jahrhundert aktiven tschechischen Nationalismus beruhte. Die Verfassung schafft eine unitarische parlamentarische Republik, mit Ausnahme der für das Gebiet Ruthenien vorgesehenen politischen Autonomie.[160] Die Nationalversammlung ist bikameral gestaltet, mit einer Abgeordnetenkammer und einem Senat sowie einer Ständigen Deputation mit gesetzgebenden Zuständigkeiten während der Zeit außerhalb der Sitzungsperioden.

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Die Verfassung überträgt dem Verfassungsgericht eine konzentrierte, strikt regulierte Normenkontrolle. Seine einzige Aufgabe ist die Prüfung der Gesetze der Nationalversammlung und der Gesetze Rutheniens, plus, von Amts wegen, der Notstandsgesetzgebung der Ständigen Deputation. Die Funktionsfähigkeit der ganzen Regelung wurde durch die begrenzte Zahl der Antragsberechtigten von Anfang an beschränkt: Die drei gesetzgebenden Versammlungen sowie das Plenum jedes der drei höchsten Gerichte. Der Gerichtshof, mit Sitz in Brno und seit 1921 tätig, bestand aus sieben, für einen Zeitraum von zehn Jahren ernannten Mitgliedern.

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Was die Entwicklung dieses Gerichtshofs betrifft, so führten ein Ereignis und ein „Nicht-Ereignis“ zu seiner völligen Unwirksamkeit. Das Nicht-Ereignis war der Umstand, dass die von der Verfassung vorgesehene Autonomie Rutheniens nie zustande kam. Damit war auch prinzipiell ausgeschlossen, dass das Verfassungsgericht seine Hauptaufgabe erfüllen konnte, nämlich die Beilegung von Konflikten gesetzgeberischen Charakters zwischen der Nationalversammlung und Rutheniens gesetzgebender Versammlung. Außer in einem einzigen Fall sahen die Obersten Gerichte der Republik ihrerseits keine Notwendigkeit, von ihrer Befugnis zur Einleitung einer abstrakten Kontrolle Gebrauch zu machen.

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Das Ereignis, das das Schicksal des Gerichtshofs endgültig besiegelte, betraf seine einzige andere Zuständigkeit, die Kontrolle der vorläufigen Notstandsgesetze der Ständigen Deputation von Amts wegen. Es ist in Ausübung dieser Zuständigkeit, dass der Gerichtshof die zwei einzigen Urteile in seiner gesamten Existenz erließ.[161] Beide am selben Tag verkündeten Urteile enthielten eine verfassungskonforme Auslegung der Notstandsgesetzgebung, die letztendlich niemanden zufriedenstellte. Infolge dieses Ereignisses und auf Grund der praktisch ständig amtierenden Nationalversammlung wurde die Wiederbestellung der Ständigen Deputation verhindert. Die definitive Lahmlegung des Gerichts erfolgte, als die Richterwahl, die 1931 erneut stattfinden sollte, sich bis kurz vor dem Ende der Republik verzögerte.

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Sowohl auf Grund seiner Konzeption wie seiner Entwicklung erschöpft sich der Beitrag des Verfassungsgerichts der ersten Tschechoslowakischen Republik in seiner Funktion, mehr auf dem Papier als in der Praxis eine der vertretbaren Ausgestaltungen des neuen Systems der konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit darzubieten. Aus der Perspektive der Rechtsvergleichung diente es dazu, als Kontrapunkt zur österreichischen Erfahrung zu fungieren. Es ist zuletzt hervorzuheben, dass die Entstehung und Entwicklung dieses mitteleuropäischen Verfassungsexperiments von einer beachtenswerten Publizistik begleitet wurde.[162]