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4. Komplexität der Entscheidungswirkungen

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Die Regelung der Entscheidungswirkungen wirft unterschiedliche Fragen auf, je nachdem, ob es sich um eine Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren oder um eine repressive Normenkontrolle handelt. Vergleichsweise unproblematisch ist die stattgebende Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren: die für verfassungswidrig befundene Norm kann nicht in Kraft treten. Dasselbe gilt für diejenigen Vorschriften, die mit den ausdrücklich für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen aufgrund ihrer engen sachlichen Verbundenheit eine untrennbare Einheit bilden und daher nicht ohne diese in Kraft treten können.[69]

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Anders sieht es hingegen bei Entscheidungen aus, die einen Normkontrollantrag als unbegründet verwerfen. Hier ist zu entscheiden, inwieweit sie auch Bindungswirkung für eine spätere repressive Kontrolle derselben Norm entfalten, genauer: ob die Rechtskraft der Entscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren der Zulässigkeit jeder weiteren Kontrolle der fraglichen Bestimmung nach Inkrafttreten entgegensteht. In Frankreich entfaltet eine Entscheidung, welche die Verfassungsmäßigkeit einer vor dem Conseil constitutionnel im präventiven Normenkontrollverfahren beanstandeten und von ihm überprüften Norm feststellt, Rechtskraftwirkung und steht einer späteren erneuten Überprüfung entgegen. Dagegen geht der Conseil constitutionnel im Tenor seiner Entscheidung nicht auf die Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen ein, die nicht speziell gerügt worden sind oder deren Verfassungswidrigkeit er nicht von Amts wegen feststellt. Insoweit tritt auch keine Rechtskraftwirkung ein: da die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen nicht abschließend geprüft worden ist, können sie nach ihrem Inkrafttreten im Rahmen der 2008 eingeführten repressiven Normenkontrolle zur Überprüfung gestellt werden.[70] Schwächer sind die Entscheidungen des portugiesischen Verfassungsgerichts im präventiven Normenkontrollverfahren ausgestaltet, die in Form einer pronúncia, einer Stellungnahme, ergeht. Stellt die pronúncia nicht die Verfassungswidrigkeit der zur Überprüfung gestellten Bestimmung fest, kann das Gesetzgebungsverfahren weiter laufen und es besteht kein verfassungsrechtliches Hindernis für die Ausfertigung und Verkündung der fraglichen Vorschriften. Eine irgendwie geartete Rechtskraftwirkung kommt dieser Stellungnahme nicht zu: nach Inkrafttreten des Gesetzes kann die Verfassungsmäßigkeit all seiner Bestimmungen vom Verfassungsgericht im Rahmen sowohl der nachträglichen abstrakten Gesetzeskontrolle als auch der konkreten Normenkontrolle ohne Einschränkungen überprüft werden.[71]

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Bei den verschiedenen Formen der repressiven Normenkontrolle stellt sich die Frage, wie im Falle einer stattgebenden Entscheidung mit den Rechten und Rechtsverhältnissen zu verfahren ist, die auf der Grundlage der für verfassungswidrig erklärten Norm bereits entstanden sind. Eine für verfassungswidrig erklärte Norm verliert grundsätzlich mit der Veröffentlichung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung ihre Rechtswirkung (vgl. etwa Art. 126 italienische Verfassung). Allerdings hat das Verfassungsgericht zum Teil die Möglichkeit, den Zeitpunkt, zu dem die für unvereinbar mit der Verfassung erklärte Norm ihre Rechtskraft verliert, abweichend zu bestimmen, um die Entstehung eines Rechtsvakuums zu vermeiden (Art. 62 französische Verfassung).[72] Eine Ausnahme stellt insoweit Art. 281 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung dar, der ausdrücklich eine Rückwirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der für verfassungswidrig befundenen Norm vorsieht. Allerdings kann das Verfassungsgericht hiervon abweichen, wenn die Rechtssicherheit oder im Einzelnen darzulegende Gründe der Billigkeit oder des Allgemeininteresses von besonderer Bedeutung dies erfordern (Abs. 4). Auf der Grundlage des verfassungswidrigen Gesetzes bereits vollzogene Rechtsverhältnisse müssen daher auch in Portugal in der Regel nicht rückabgewickelt werden. Unbeschadet bleibt hiervon die Möglichkeit, die nachträglich erfolgte Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Bestimmung im Einzelfall oder allgemein als Wiederaufnahmegrund im Sinne der jeweils anwendbaren fachgerichtlichen Verfahrensordnung anzuerkennen. Die Verfassungsgerichtsgesetze selbst machen von der Möglichkeit der Anordnung einer Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens, wenn überhaupt, nur für den Fall einer auf der Grundlage des für verfassungswidrig erklärten Gesetzes erfolgten strafrechtlichen Verteilung Gebrauch (z.B. § 79 Abs. 1 BVerfGG) .

III. Organstreitverfahren: das Stiefkind der Verfassungsgerichtsbarkeit

1. Fehlende und lückenhafte Regelung des Organstreitverfahrens

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Organstreitigkeiten sind in einer beträchtlichen Zahl von Ländern des europäischen Rechtsraums nicht Gegenstand einer eigenen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeit (skandinavische Länder, Großbritannien, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Portugal, Griechenland). In den Ländern, in denen eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen den obersten Staatsorganen oder -gewalten hingegen explizit geregelt ist, werden sie häufig mit den Streitigkeiten über die Kompetenzverteilung zwischen der Zentralregierung und den föderalen bzw. autonomen subnationalen territorialen Einheiten (Provinzen, autonomen Gemeinschaften etc.) zusammen geregelt (vgl. Art. 134 italienische Verfassung; Art. 59 des spanischen VerfGG[73]). Schon dieser karge Textbefund suggeriert, dass es sich bei den Organstreitigkeiten um eine im Vergleich zu Normenkontrolle und Individualbeschwerde eher vernachlässigte, „ungeliebte“ verfassungsgerichtliche Verfahrensart handelt. Selbst mit Blick auf Italien, in dem Organstreitigkeiten in der Praxis in erheblicher Zahl vor die Corte costituzionale kommen, sprechen Bifulco und Paris von der „Residualfunktion“ des Kompetenzkonflikts (conflitto di attribuzione). Sie diene dem Zweck, eventuelle Lücken im Schutz der Verfassung zu füllen, wenn andere geeignete Rechtsmittel fehlten.[74] In dieser Zurückhaltung mag die Sorge zum Ausdruck kommen, dass das Verfassungsgericht durch die Zuständigkeit zur Entscheidung solcher Streitigkeiten, in denen es unmittelbar um die Machtverteilung an der Spitze des Staates geht, leicht in hochpolitische Konflikte hineingezogen und damit in seiner Autorität beschädigt werden könnte.

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Für diese Annahme spricht aus vergleichender Sicht, dass etwa der US Supreme Court seine Zuständigkeit zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten zwischen den obersten Staatsorganen, insbesondere zwischen Präsident und Kongress, restriktiv auslegt, obwohl die US-Verfassung wie kaum eine andere auf dem Prinzip der checks and balances aufgebaut ist. Dies hat den Supreme Court indes nicht davon abgehalten, die Prüfung der Klagebefugnis und die Figur der political question doctrine zur einschränkenden Auslegung seiner Zuständigkeit in Kompetenzkonflikten zwischen Legislative und Exekutive einzusetzen – im Unterschied zu Fragen der föderalen Kompetenzverteilung, die neben dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte der Bürger einen Schwerpunkt seiner Rechtsprechung bilden. Die Prüfung der Klagebefugnis (standing) ist einem individualrechtlichen Verständnis verpflichtet, demzufolge die klagende Person einen persönlichen Nachteil (personal injury) geltend machen muss, wozu Nachteile, die sie in ihrer Eigenschaft als Mitglied oder Amtswalterin eines staatlichen Organs erleidet, nicht gehören sollen. Eine großzügige Zulassung von Organklagen würde das Gericht nach eigenem Verständnis nur von seiner eigentlichen Mission ablenken, die in dem Schutz der verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger und von Minderheitengruppen, nicht jedoch in der Wahrnehmung einer allgemeinen Aufsichtsfunktion über die Arbeitsweise des Regierungssystems liege.[75] Zwar wird die Bedeutung des Gewaltenteilungsprinzips, das in den vielfältigen verfassungsrechtlichen Kompetenzverschränkungen insbesondere zwischen Exekutive und Legislative (checks and balances) seinen Niederschlag gefunden hat, ausdrücklich anerkannt. Gewaltenteilung wird aber nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Schutz der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger angesehen:

“It is for that reason that the claims of individuals – not of Government departments – have been the principal source of judicial decisions concerning separation of powers and checks and balances.”[76]

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Das Phänomen, dass Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten über die horizontale Gewaltenteilung insbesondere im Verhältnis zwischen den politischen Gewalten nicht in einem kontradiktorischen Organstreitverfahren zur gerichtlichen Klärung gebracht werden (können), sondern im Rahmen einer anderen Verfahrensart zur Überprüfung gestellt werden, ist nicht auf die USA beschränkt, sondern auch im europäischen Rechtsraum verbreitet. Allerdings werden im europäischen Kontext hierfür schwerpunktmäßig objektivrechtliche Verfahren wie die Normenkontrolle und die abstrakte Verfassungsauslegung genutzt. Eine Ausnahme stellt Spanien dar, wo Parlamentsabgeordnete die mit ihrem Abgeordnetenmandat verbundenen Rechte mit der Individualverfassungsbeschwerde geltend machen können. Man kann im Hinblick auf diese in vielen Ländern praktizierte Nachrangigkeit des Organstreitverfahrens, das selbst in den Ländern, in denen es explizit in der Verfassung oder im Verfassungsgerichtsgesetz normiert ist, häufig nur dann zum Einsatz kommt, wenn keine andere geeignete Verfahrensart zur Erreichung des angestrebten Ziels der Kompetenzwahrung zur Verfügung steht, von einer materiellen Subsidiarität des Organstreits sprechen, die von der formellen, gesetzlich angeordneten Subsidiarität zu unterscheiden ist (zu letzterer siehe unten 5).

2. Hauptformen des Organstreits im europäischen Rechtsraum

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Die unterschiedlichen Formen des Organstreits sind durch den gemeinsamen Gegenstand charakterisiert, der sie von den Normenkontrollverfahren auf der einen und den Individualverfassungsbeschwerden auf der anderen Seite abgrenzt: es geht nicht um die Verfassungsmäßigkeit von Normen oder den Schutz individueller Rechte, sondern um die Wahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung. Sie kann sowohl in kontradiktorischen als auch in nicht-kontradiktorischen Verfahren erfolgen (zu letzteren siehe unten 3.). Zur Systematisierung der kontradiktorischen Verfahren bieten sich vor allem die zur Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit benutzten Kriterien an, die eine mehr oder wenige enge Anlehnung an das klassische Gewaltenteilungsschema mit seinen drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative erkennen lassen.


Hauptformen des Organstreitverfahrens
Prinzipale Organstreitigkeiten Nicht-kontradiktorische Formen der Klärung von Organkompetenzen
Klassischer Kompetenzkonflikt zwischen Staatsgewalten Italien, Österreich, Ungarn Frankreich, Ungarn
Konflikt zwischen Staatsorganen Deutschland, Polen, Spanien

a) Organstreit als „klassischer“ Kompetenzkonflikt zwischen den Staatsgewalten

aa) Überblick

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Die Regelungen der ersten Gruppe fassen den Kompetenzstreit in enger Anlehnung an die klassische Gewaltenteilungsdoktrin primär als Streit zwischen den – jeweils in ihren obersten Organen verkörperten – Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative auf. In diesem Sinne weist Art. 134 Abs. 2 italienische Verfassung der Corte costituzionale die Zuständigkeit für die Entscheidung von „Zuständigkeitskonflikten zwischen den Staatsgewalten“ (conflitti di attribuzione tra i poteri dello stato) zu. Nach Art. 37 Abs. 1 des Verfassungsgerichtsgesetzes vom 11. März 1953 sind darunter (nur) solche Konflikte zu verstehen, die zwischen den zu verbindlicher und abschließender Erklärung des Willens der jeweiligen Gewalt befugten Organen entstehen (tra organi competenti a dichiarare definitivamente la volontà del potere cui appartengono) und die Abgrenzung der den verschiedenen Gewalten durch die Verfassung zugewiesenen Kompetenzbereiche betreffen.

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Noch deutlicher hat die Konzeption des Kompetenzstreits als Konflikt zwischen den Staatsgewalten im russischen Verfassungsgerichtsgesetz Ausdruck gefunden. Nach Art. 94 Abs. 1 des Gesetzes verhandelt das Verfassungsgericht der Russländischen Föderation Verfassungskonflikte ausschließlich unter dem Aspekt der durch die Verfassung festgelegten Trennung der staatlichen Gewalt in die gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt.

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Der Schutz der gerichtlichen Autonomie gegenüber der Exekutive, aber auch gegenüber anderen Organen der Judikative außerhalb des eigenen Instanzenzugs, spielt eine besondere Rolle bei der Abgrenzung der Beteiligungsfähigkeit im österreichischen Kompetenzkonflikt, der nach Art. 138 sowohl zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden als auch zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und allen anderen Gerichten sowie zwischen den ordentlichen Gerichten und anderen Gerichten statthaft ist. Weitergehend konzipiert die slowenische Verfassung den Kompetenzkonflikt zwischen der Judikative und den anderen Staatsgewalten als eine eigenständige Form des Kompetenzstreits, die gleichberechtigt neben dem Kompetenzkonflikt zwischen den politischen Organen (Staatsversammlung, Staatspräsident und Regierung) tritt (Art. 160 slowenische Verfassung).

bb) Italien: das Organstreitverfahren als Instrument zum Schutz der Judikative

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In keinem dieser Länder hat aber die Verteidigung der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt qua Organstreit eine ähnliche große praktische Bedeutung erlangt wie in Italien. Sie steht hier im Zusammenhang mit der Schwäche der politischen Organe Italiens bei der Aufdeckung und Beseitigung von Missständen in Parlament, Regierung und Verwaltung, die wiederholt zu Konflikten zwischen der Justiz und den politischen Gewalten geführt hat.[77] Nicht zufällig betrifft die Mehrzahl der von der Corte costituzionale in den letzten Jahrzehnten entschiedenen Zuständigkeitskonflikte Auseinandersetzungen zwischen den Gerichten und den parlamentarischen Kammern über den Umfang der parlamentarischen Indemnität.[78]

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Anders als bei der Legislative und der Exekutive billigt die Corte costituzionale nicht nur den obersten Gerichtshöfen und der Vertretung des Richterstandes sowie sich selbst,[79] sondern auch den Instanzgerichten die Parteifähigkeit im Kompetenzstreitverfahren zu. Begründet wird dies mit der fehlenden hierarchischen Leitungsstruktur im Bereich der Gerichtsbarkeit. Jedes Gericht genieße im Rahmen seiner rechtsprechenden und streitentscheidenden Tätigkeit sachliche Unabhängigkeit und unterliege nur einer Rechtskontrolle durch den Kassationshof; es könne damit den Willen der rechtsprechenden Gewalt für seinen Zuständigkeitsbereich abschließend zum Ausdruck bringen.[80]

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Weitaus stärker hierarchisch gegliedert ist hingegen die Exekutive. Die Regierung wird im Hinblick auf die in Art. 95 der Verfassung vorgeschriebene einheitliche Führung von Politik und Verwaltung auch im Organstreitverfahren als Einheit behandelt. Die Antragsbefugnis steht daher grundsätzlich nicht dem sachlich zuständigen Minister, sondern dem Regierungskollegium als solchem zu.[81] Allerdings fasst die Rechtsprechung die Möglichkeit einer eigenen Parteistellung eines Ministers für den Fall ins Auge, dass er durch einen gegen ihn persönlich gerichteten Misstrauensantrag innerhalb des Regierungskollegiums gewissermaßen isoliert und in eine unmittelbare Konfliktbeziehung zu den parlamentarischen Kammern gebracht wird.[82]

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Im Bereich der Legislative sind die beiden parlamentarischen Kammern (Abgeordnetenkammer und Senat) im Hinblick auf die von ihnen jeweils selbstständig ausgeübten Befugnisse in der Gesetzgebung und bei der Kontrolle der Regierung unabhängig voneinander parteifähig.[83] Die Beteiligungsfähigkeit im Organstreit steht ferner den parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zu. Trägerin des Untersuchungsrechts ist zwar die jeweilige parlamentarische Kammer als solche; sie kann dieses Recht jedoch nicht selbst ausüben, sondern ist nach Art. 82 der Verfassung auf die Einschaltung eines Untersuchungsausschusses angewiesen, der bei der Durchführung des Untersuchungsauftrags Unabhängigkeit genießt.[84] Der Parlamentspräsident wiederum kann seine verfassungsmäßigen Befugnisse im Zusammenhang mit der Einberufung der Kammern, dem Vorsitz in den Sitzungen und der Anhörung durch den Staatspräsidenten vor der Auflösung der Kammern im Kompetenzstreit geltend machen.[85] Nicht beteiligungsfähig sind hingegen die Fraktionen, die in der Verfassung keine Erwähnung gefunden haben[86], während die einzelnen Mitglieder des Abgeordnetenhauses und die Senatoren ihr parlamentarisches Rede-, Initiativ- und Stimmrecht jedenfalls dann im Wege des Organstreits verteidigen können, wenn die Verletzung dieser Rechte unter Berücksichtigung der Autonomie der jeweiligen parlamentarischen Kammer in der Auslegung und Anwendung ihrer Geschäftsordnung schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich erscheint.[87]

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Während den politischen Parteien die Beteiligungsfähigkeit versagt geblieben ist,[88] hat die Corte costituzionale den Anwendungsbereich des Kompetenzstreits über den Staatsapparat im eigentlichen Sinne (Stato-apparato) auf gesellschaftliche Kräfte ausgedehnt, denen die Ausübung verfassungsrechtlich relevanter öffentlicher Funktionen konkurrierend zu den Staatsorganen übertragen ist (Stato-communità). Dies trifft insbesondere auf den Teil der Wählerschaft zu, der einen auf die Aufhebung bestehender gesetzlicher Regelungen gerichteten Volksentscheid nach Art. 75 der italienischen Verfassung unterstützt und damit in Konkurrenz zu den parlamentarischen Kammern legislative Befugnisse in Anspruch nimmt.[89] Allerdings beschränkt sich die Antragsbefugnis der Initiatoren des Volksbegehrens auf die Durchführung des Referendums in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Verfassung. Über weitergehende Rechte, die sich auf die materielle Durchsetzung des in dem Volksentscheid verlautbarten Willens gegenüber den gesetzgebenden Organen beziehen, verfügen sie dagegen nicht.[90]

b) Organstreitverfahren als Streit um Befugnisse und Kompetenzen von Verfassungsorganen und Organteilen

aa) Überblick

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Die Bestimmungen der zweiten Gruppe konzipieren dagegen den Kompetenzstreit als Streit zwischen Verfassungsorganen, wobei es nicht darauf ankommt, ob das betreffende Verfassungsorgan sich einer der (klassischen) Staatsgewalten zuordnen lässt oder nicht. In einem solchen System bereitet die Annahme von Organstreitigkeiten innerhalb derselben Staatsgewalt, etwa zwischen den beiden Häusern des Parlaments, keine grundsätzlichen Schwierigkeiten. Dieses Regelungsmodell findet sich im deutschen[91] und im spanischen[92] Verfassungsrecht. Der konkrete Anwendungsbereich des Kompetenzkonflikts bzw. Organstreits hängt damit maßgeblich von der Konkretisierung des Kreises der beteiligungsfähigen Organe und Institutionen ab. Zum Teil sind die beteiligungsfähigen Organe enumerativ in der Verfassung bzw. im Verfassungsgerichtsgesetz aufgeführt. Dies gilt z.B. für die polnische Verfassung von 1997, die in Art. 192 bestimmt, dass in Kompetenzstreitigkeiten zwischen zentralen Verfassungsorganen des Staates (nur) der Staatspräsident, die Marschälle des Sejm und des Senats, der Ministerpräsident sowie die Präsidenten des Obersten Gerichts, des Hauptverwaltungsgerichts und der Obersten Kontrollkammer antragsberechtigt sind. Ähnlich beschränkt Art. 59 Abs. 1 c) LOTC in Spanien die Parteifähigkeit im Organstreitverfahren auf die Regierung, die beiden Häuser des Parlaments (Abgeordnetenkammer und Senat) und den Generalrat der rechtsprechenden Gewalt, dem obersten Selbstverwaltungsorgan der Judikative. Durch Organgesetz ist die Beteiligungsfähigkeit überdies auf den Rechnungshof erstreckt worden.[93] Art. 73 Abs. 1 LOTC bestimmt dabei ausdrücklich, dass die in Art. 59 Abs. 1 c) als beteiligungsfähig genannten Kollegialorgane (Regierung, parlamentarische Kammern, Generalrat der rechtsprechenden Gewalt) den Kompetenzstreit nur mit Zustimmung des jeweiligen Plenums anhängig machen können („por acuerdo de sus respectivos Plenos“). Einzelne Abgeordnete oder parlamentarische Minderheiten können also im Kompetenzstreit weder eigene Rechte noch die Rechte des Parlaments geltend machen. Diese Bestimmung schränkt den Anwendungsbereich des Organstreits unter den Bedingungen des Mehrheitsparlamentarismus stark ein.[94]

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Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Abgeordneten und Fraktionen in den Parlamenten bei einer Verletzung ihrer Mitwirkungsrechte durch die parlamentarische Mehrheit bzw. die parlamentarischen Leitungsinstanzen schutzlos sind. Vielmehr kommt hier die bereits eingangs (siehe oben Rn. 40 ff.) diskutierte, implizit oder explizit in vielen Ländern des europäischen Rechtsraums praktizierte Subsidiarität des Organstreitverfahrens zum Tragen. In Spanien können die Mitglieder parlamentarischer Vertretungskörperschaften die Individualverfassungsbeschwerde (recurso de amparo) zur Verteidigung ihrer Mitwirkungsrechte erheben. Dies folgt nach Auffassung des spanischen Verfassungsgerichts daraus, dass auf der Grundlage des Art. 23 spanische Verfassung die Mitwirkungsrechte der gewählten Mitglieder politischer Vertretungskörperschaften den politischen Aktivrechten der Bürgerinnen und Bürger, von denen sie gewählt werden, gleichzustellen sind.[95] Ebenso wie diese ihr aktives und passives Wahlrecht mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen können, sind auch die Mitglieder der Volksvertretungen auf den verschiedenen Stufen des Staatsaufbaus berechtigt, ihre individuellen und kollektiven Mitwirkungsbefugnisse notfalls im Verfassungsbeschwerdeverfahren durchzusetzen.[96]

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1835 p. 9 illustrations
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9783811488137
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