Hype in Hintertupfing

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Impressum

Hype in Hintertupfing

Alwin Sand

Copyright: © 2012 Alwin Sand

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-3071-0

Erdacht 2004, geschrieben 2007, redigiert 2012.

Kontakt: alwinsand@hotmail.com

Ein kleines Musikfestival macht große Schlagzeilen nach einem Beinahe-Amok und wird von Schaulustigen überrannt. Nach einer spontanen Verlängerung der Veranstaltung suchen die Medien ihren Helden und immer mehr Besucher das authentische Erlebnis. Die Organisation ist davon völlig überfordert, die Behörden machen Schwierigkeiten, aber egal: Es wird so lange weitergefeiert, bis sich im kreativen Chaos massenweise die Einsichten verdichten.

Gewidmet allen, die dabei sein werden.

Prolog

„Ich könnt dir jetzt viel erzählen, Cousinchen. Aber weil ich das so im Ganzen gar nicht rüberbringen kann … sollst du die Idee … und dazu sag ich nur: Yeahyeahyeah! … direkt vor Ort erfahren. Die Möglichkeiten selber sehen und so. Und dann kannst du mir sagen, was du davon hältst. Du brauchst gar nicht weiterfragen. Ich werd nichts verraten, bis wir da sind." Während Pankraz erklärt, oder eben auch nicht erklärt, was er vorhat, kramt er eine Kassette aus dem Handschuhfach und steckt sie ins Autoradio. Seine schnelle Stimme überschlägt sich mehrmals dabei, so aufgedreht ist er. Dann, als ein wildes Gitarrenriff losdröhnt und die Boxen zum Wackeln bringt, schaut er Anemone schelmisch grinsend an, startet den Wagen und gibt Gas wie ein Kavalier.

Eigentlich und ganz gewöhnlich heißt Pankraz Peter-Michael, aber irgendwann hat er des Andersseins wegen den Namen seines Großvaters angenommen. Er und Anemone machen ziemlich oft was zusammen. Okay, sie sind miteinander verwandt, das macht die Beziehung unsexy, doch auf dem Land ist die Auswahl an Leuten eingeschränkt. Das ist schon alles in Ordnung so, wie es ist. Anemones Eltern finden es natürlich nicht sonderlich gut, wenn sie mit Älteren abhängt, dabei haben sie nicht mal annähernd eine Ahnung, in welchem Ausmaß ihr Cousin viel zu krass und sein Einfallsreichtum bezüglich Methoden der selbstzerstörerischen Zeitverschwendung grandios ist. Oberflächlich betrachtet ist Pankraz angepasst, dahinter tiefgründig abgedreht. Genau der falsche Umgang für ein unerfahrenes Unschuldslamm wie sie. Zumindest hat er schon öfters gut auf sie aufgepasst. Er ist ihr Großerbruderersatz, auch wenn man sich um ihn manchmal mehr Sorgen machen könnte als um einen kleinen.

Diese hinausschiebende Heimlichtuerei, nachdem er sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal aufgestachelt hat, ärgert Anemone schon ein wenig. Wie sie ihn kennt, würde aber jegliches Nachfragen keine Antworten bringen und das Objekt ihrer Neugier nur noch verrätselter werden lassen. Deshalb verdirbt sie ihm das Spiel und sagt gar nichts. Sie hat momentan – was sie nicht gerade in die beste Laune versetzt – genug nachzudenken. Über sich selbst und wie es weitergehen wird. Denn die Schule ist vorbei und ein neuer Lebensabschnitt beginnt, der Ernst des Lebens, blabla, wie man das halt so nennt. Und schon ist sie demotiviert, weil desillusioniert. Dabei sollte sie doch jung, dynamisch, voll Hoffnung und Elan sein. Am besten noch ehrgeizig, zielstrebig und maximal flexibel. Es genügt ein Blick über den Schatten des eigenen Tellerrands, ein Blick auf die weite Welt wie im Fernsehen, und schon erscheint im Spiegel der Tatsachen alles verdreht, gemein falsch und raubt einem jegliche Illusion. Flexibelfickt euch selber! Vielleicht liegt es daran, wie es nach fadenscheinigen Argumenten ringend so oft heißt, dass sie noch allzu pubertierend allerlei Stimmungen ausgesetzt und halt noch nicht erwachsen ist – was das auch heiße, vernünftig und bodenständig oder schon ganz betört von der Scheiße –, aber der Scheißhaufen hat ein Wahnsinnswachstum und die Welt ist in keinem schönen Zustand. Ja, so viel hat sie schon verstanden, ist ja jetzt auch nicht so schwer. Selbst wenn in ablenkenden Propagandaeinblendungen fortschreitend die neueste das Leben verbessernde Technik zum Umgang mit Wirklichkeit zur Auswahl vorgeschrieben wird, es überrumpelt einen so vieles, und besonders so viel Übelkeit Erregendes, dass fraglich ist, was für dich selbst überhaupt noch möglich ist zu tun. Mal ehrlich, was, das von Bedeutung ist, soll man selbst noch großartig erreichen oder verändern können?

„Warts nur ab, du steigst bestimmt voll drauf ein!" Dem im Punkrock-Takt auf das Lenkrad klopfenden und mit dem Finger fuchtelnden Pankraz fällt es offenbar schwer, seine Begeisterung zu zügeln und nicht sein Vorhaben auszuplaudern.

„Weißt du, Cousinchen, ich hab da ne echt grooooße Idee. Ich will was richtig Fettes, total Geiles, Übermäßiges machen. Was sich hier noch keiner getraut hat! Die werden … einfach alle voll drauf einsteigen … und noch lange drüber reden, was WIR hier als Erste gemacht haben." Die Aussage steht für sich und stört sich nicht an fehlender Respons, sie will nur gehört werden und wirken.

Anemone schnauft tief und atmet mit einem Seufzer wieder aus. Sie stellt den Sitz zurück und kneift die Augen zusammen, bis das Bild verschwimmt. Hinter der Windschutzscheibe vermengen sich saftiges Landschaftsgrün und nicht mehr ganz so helles Himmelblau, zwischen beiden etwas frühe Abendröte und ein immer noch gegenwärtiges warm-güldenes Strahlen zu einem Brei, zu einem abstrakten, ineinander verlaufenden und dadurch offenen Farbfeld, das durch das Schwarz ihrer verdeckenden Lider doch begrenzt wird. Ein leicht zitterndes permanentes Blinzeln lässt dahinter, oder aus ihr selbst, kleine Punkte, Funken entstehen, die das Bild in nicht definierbarem Farbglanz strukturieren. Wie im Parallelen entfernte Galaxien und Supernovas innen drin. Ein ganze Weile vertieft sich Anemone in dieses Spektakel und das Auto wird von Pankraz so dahingefahren, wo auch immer hin. Sie spürt die Kurven, das leichte Beschleunigen und Bremsen, und dann, der tief stehenden Sonne entgegen, wird es richtig hell, sodass das Blinzeln zu anstrengend wird. Die Augen ganz geschlossen, ist immer noch ein warmes Rot-Orange zu sehen, ihr eigenes Blut, das durch dünne Haut pulsiert und ausgeleuchtet wird. Aber immer noch Flächen, Schattierungen, kleine bewegte Gebilde, die als etwas gesehen werden wollen. Und sie lässt sie bunte Blumen sein, Unmengen davon, Muster um ein leuchtendes Zentrum, bewegte Wellen und Körper, Gedanken, die sie gleich wieder vergisst. Ganz beiläufig werden die Blumen zu Fratzen und sogleich mitvergessen. Gedanken von irgendjemand singen über die längst weit entfernte Musik aus dem Autoradio: 'Wo sind meine Blumen Nein doch nicht die da Die andren die ich mir so gern selber mach Bring sie zurück besonders die blauen und die Männer Gib mir ein paar Männer besonderbare die es richtig machen und lachen wenn sie dunkle Nacht sehn Nah mach das weg Macht weg schnell weitergehn Geh fahr ins Licht hörst du es nicht Da Gefahrfafa ratatahaha rattatatiho ratatiho wo hast du nur deinen … Da kommn Ratten von unten herauf herauf zu mir und ich Alle hassen den meinen und ich hasse sie dafür Da führt der Weg weg weißt du wohin kennst du hörst du Und die Ratten kommen schnell ich habe auch Durst Gib mir von dem Weißen mach doch leiser das Getrappel der Ratten ist so laut und langsam muss das sein Es soll nicht da sein Sie laufen über alles hinweg ich geh jetzt und überseh den Weg weil er ist weg Wo'

Es flüstert und etwas berührt sie. Anemone blinzelt sich langsam zurück in die echte Welt und wirft den von den Lidern gelüpften Schleier auf ihr schläfriges Gedankenwirrwarr. Sie sieht Pankrazens Hände ganz nah vor ihrem Gesicht herumwuseln, als ob er gerade einen Zaubereffekt macht. Er nimmt sie weg, um dahinter zu erscheinen und mit gewohnt überbetontem Gesichtsausdruck zu sprechen. Aber sie hört ihn nicht, ist mit Stechen im Genick noch ganz benommen vom Kurzschlaf. Seine Gestik deutet auf die stille Landschaft, zu der er sich wendet, während er ständig weiterspricht, ohne hörbar zu sein. Anemone ist verwirrt bis verzweifelt über die befremdlich stumme Situation, die sie sich nicht recht erklären kann – ihr eigenes Schnaufen hört sie doch auch noch. Eines ihrer Sinne beraubt, fühlt sie sich verletzlich, verlassen. Aber es hilft nichts, sie steht auf und steigt aus dem Auto. Die Schottersteine auf dem Weg knirschen. „Du Arschloch, Mann, ich hatte echt Schiss. Aargh!" Sie schreit und kickt in die Steine, dass sie davonspritzen und weit den abfallenden Schotterweg hinunterkullern.

„Was sollte das jetzt wieder? Du langweilst manchmal echt mit deinen Aktionen! Und sag bloß, du hast mich wieder angetatscht?"

„Ach komm, das war doch nur Spaß. Du lagst da so … so … äh ästhetisch, ahnungslos. Ich dachte, …"

„Gar nichts hast du gedacht, du hast dich nur gelangweilt, dein Dings hat gedacht und du hast dich auf meine Kosten amüsiert. Du hast mich angetatscht, du notgeile Sau!"

„Also, hör mal, …"

„Ja, haha! Ich höre plötzlich wieder ganz gut, komisch oder?"

„Ich mein, schau, ich bin nüchtern. Du bist mein Cousinchen. Da hört sichs doch auf, oder? Das könnte ich gar nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Meinem Respekt vor dir. Meinem Personenkult von dir. Komm schon, Anemone." Schon wieder liegt Pankrazens Arm auf Anemones Schulter, die ihn sogleich vehement wegschiebt.

„Ach, vergiss es einfach. Du redest es dir eh so hin, wies dir gerade passt, und deine Ausreden dafür werden zunehmend schlechter. Was is jetzt hier Besonderes?"

„Okay. Zu den Dingen. Folgen Sie mir bitte, Mademoiselle."

Sie laufen vom Auto weg auf dem steinigen Weg. Hinter einer Kuppe erstreckt sich eine weite Wiesenfläche, durch die zu laufen gar nicht einfach ist, denn das ungemähte Gras steht dicht bis zur Hüfte hoch. Es duftet wunderbar und juckt ein bisschen. Pankraz im Eilschritt voran erbaut sich demonstrativ am Kampf gegen die Naturgewalten. Die Wiese mündet in eine riesige Mulde, ein kleines Tal, das, von hoch aufragenden Waldwipfeln umringt, etwa so groß ist wie ein Fußballstadion. Zwischen den Bäumen scheint noch etwas glimmende Sonne hindurch, doch ansonsten ist schon alles mit Schatten überzogen. Bis auf etwas Wind, Insektensummen und Vogelgezwitscher ist es fast vollkommen still. Keine Straßen, keine Strommasten, keinerlei Anzeichen von Zivilisation, stünde da nicht eine Scheune mitten in der Pampa.

 

„Das alles gehört unserem Großvater. Ich wusste das gar nicht. Du wahrscheinlich auch nicht, oder? Er hatte es lange verpachtet. Bis letztes Jahr weideten sich hier noch Schafe und Ziegen an dem saftigen Gras. Das hatte der letzte Pächter für ein paar Jahre ausprobiert: Fleisch, Wolle, eigener Ziegenkäse und so. Hat sich allerdings nicht gelohnt, die Herde war zu klein, um wirtschaftlich rentabel zu sein. Jedenfalls war es ihm irgendwann zu viel Drecksarbeit. Großvater meint, das hätte er sich von vornherein schon gedacht, aber er fand die Idee richtig gut."

Das Erzählte weckt in Anemone eine Erinnerung mit ganz ähnlichen Elementen: Als Kinder hatten sie mit Opa mal einen Ausflug zu einem Streichelzoo gemacht. Dort hatte es fürchterlich gestunken und man konnte aus Automaten Futter rauslassen. Rein körperlich bedingt, hatte man als Kind den Blick meistens eher auf Bodenhöhe, wo so allerlei Dreck lag. Sie hatte Angst oder sich geekelt, die Tiere anzufassen. Außerdem waren viel zu viele Besucher da und die kleinen süßen Zicklein dauernd besetzt. Als sie dann endlich dran war, hat das dumme Vieh gebockt und sie in den Dreck gestoßen. Sie hat natürlich aufs Zornigste geheult und erst aufgehört, als Opa ihr eine Limonade brachte. Sie saßen dann lange auf einer Bank und haben von Ferne die anderen Kinder mit ihren Eltern bei den Ziegen beobachtet. Opa meinte, sie solle dem armen Tier doch verzeihen, weil es in einem so kleinen Gehege eingesperrt war. Vielmehr seien doch die Menschen die dummen Viecher. Warum, das belegte er recht lustig mit lästerlichen Kommentaren anhand der Leute, die sie vor Augen hatten.

Vor der Scheune und leicht außer Atem hält Pankraz an. Er rupft ein paar Grashalme aus und zupft an ihnen herum, schaut sich beiläufig ihre wunderlichen Details an, während er weiterspricht:

„Außerdem, sagt Großvater, war das hier schon immer ein besonderer Ort. So heißt es zumindest in den Geschichten, die die Alten erzählt haben, als er noch klein war. Das hat den Viechern wahrscheinlich auch nicht so gut bekommen. Hier war mal was, ganz früher. Er sagt, er weiß es auch nicht genau. Ne Kultstätte zum Beten und Opfern oder ein Hinrichtungsplatz, ein Friedhof, was auch immer. Hähä. – Buuuuuuuhuuu!"

„Alles klar, ich hab ja so Angst. Und das war es jetzt, weshalb du mich hergeschleppt hast?"

„Neenee. Aber ohne Scheiß. Ich erzähl nur, was Großvater gesagt hat. Spürst du denn nichts? Es ist schon … irgendwie anders hier. Also, ich spür jedenfalls so was wie eine Beeinflussung. Vielleicht nicht messbar, aber ich meine, es fühlt sich sogar richtig gut an, total spirituell."

„Hm. Ich weiß ja nicht so recht. Was soll ich denn spüren?"

„Pass auf. Wir helfen einfach ein bisschen nach." Pankraz zieht eine Selbstgedrehte raus, zündet sie an und gibt sie nach ein paar Zügen an Anemone weiter, um sich am Scheunengatter zu schaffen zu machen.

„Also die Scheune ist noch aus Großvaters Zeiten, älter sogar. Wurde zum Heulagern und, hehe, im Heu Rumliegen benutzt. Weißt du, was der Alte mir anvertraut hat? Er sagt, er hat unsere beiden Mütter mit der Oma, Gott hab sie selig, hier drin gezeugt. Ein Tatbestand, der die Besonderheit dieses Ortes noch unterstreicht. Ich mein, trotz aller Generationskonflikte und so, aber man muss unseren Alten und Uralten schon zugestehen, dass sie nicht wirklich spießiger Durchschnitt waren, oder? Bestimmt gings da oft noch viel wilder durcheinander, als wir uns das vorstellen."

„Hm, stimmt. Echt geile Geschichte. Schon komisch, nur eine Generation dazwischen und wir wissen eigentlich gar nichts mehr von früher. Wie eine andere Welt."

Die Tür knarrt auf, ihre Innenwand ist dick mit eingestaubten Spinnweben verhangen. Der Eintritt in den großen Raum wirkt nach all dem Erzählten umso mehr wie eine Verwandlung. Die Augen müssen sich erst langsam an die Halbdunkelheit gewöhnen. Es steht etwas Gerümpel rum, Zaunpflocken, Tröge, ansonsten dichte Leere. Auf einer Seite führt eine steile, wackelig aussehende Treppe ohne Geländer zu einem Boden, der über etwa ein Drittel der Raumlänge gezimmert ist.

„Und was sagst du? Fantastisch, oder?"

„Puh, was soll ich sagen? Als Nächstes vergewaltigst du mich, ziehst mir eins über und verscharrst hier meinen Körper in Andenken an unsere Mütter, oder was."

„Ha, das wär was. Neenee, niemals, liebstes Cousinchen. Von deinem Körper würd ich die besten Stücke mitnehmen und den Rest im Wald verbuddeln, damit mir keiner draufkommt. Aber Scherz beiseite – jetzt die Idee! … Meine Vision, zu deren Verwirklichung ich dich und noch einige andere brauchen werde. Es wird viel Mühe und Schweiß kosten, oh ja, aber es wird sich so was von lohnen. Yeahyeahyeah!" Pankraz ereifert sich zu einem Ton voll Pathos, tritt einige Schritte von Anemone weg in die Mitte des Raumes, um mit den Armen entsprechend eine ergreifende Gestik ausführen zu können.

„Denk mal drüber nach, vielleicht kommst du ja selber drauf. Du hast die Riesenwiese gesehen. In Form eines, na wie heißt das, so ähnlich wie das Kolosseum … äh …"

„Amphitheater?"

„Ja genau. Das und die geile Scheune hier. Und vielleicht spürst du inzwischen auch den Zauber …"

„Oh ja, ganz schön, hier nimm du mal wieder."

„Ah danke. Also, diese ganzen Eindrücke, es ist doch fast schon offensichtlich. Hör mal in dich rein. Was sagt dir deine gesteigerte Empfindung?"

„Hm, dass Opa mal so richtig romantisch drauf war, kanns nicht sein. Hallo hallo, abgestumpfte Sinne, seid ihr noch da? Keine Ahnung, Panki. Sags mir."

„Klar war der Große romantisch, ist er immer noch. Aber nee, ich mein, das hier ist genial. Wie dafür geschaffen, dass wir hier ne Party feiern. Besser noch, wir kreieren was richtig Großes, scheiße Mann, ein Megaevent. Ich sprech von einem wrrr-wrrr-wrrrr-wrrrr Trommelwirbel, tatata-taah tataah tataah: F E S – T I – V A L ! "

"Ahaa? – Klingt spontan ganz gut. Erzähl mir mehr. Ich war noch nie auf einem."

„Waaas? Nee, oder? Hier, zieh noch mal. Weißt du, Festivals sind einfach das Größte. Wie Religion vielleicht, heute, wo keiner mehr in die Kirche geht. Ich hab mich schon erkundigt, dürfte gar nicht so schwer sein, eine Genehmigung zu bekommen. Wenn man einen gemeinnützigen Verein gründet, lässt sich das ganz offiziell aufziehen. Ich kenn jemand, der hat so was schon mal gemacht. Dann bauen wir hier noch ein bisschen um, Bühnen, Theken und so weiter. Genügend Zimmermänner kenn ich ja. Wenn alle mithelfen. Noch ne Anlage und ein Programm organisieren, reichlich Werbung und los gehts! Selbst wenns unprofessionell wird, egal. Hier abseits vom Schuss langweilen sich doch eh alle in ihrer Abgeschiedenheit zu Tode."

Während Pankraz plant, schleicht er um Anemone herum, malt mit Herumgefuchtel suggestiv das Geschehen in den dunklen leeren Raum.

„Stell dir das mal so vor: Ich sehe hier, genau wo wir stehen, … Massen ... von Individuen, die ihrem Alltag entfliehen und sich auf sakralem Terrain versammeln. Die Musik fängt an und hört nicht mehr auf, eine Band nach der anderen, tagelang, einfach gute handgemachte, noch nicht völlig abgewichste, aber unerhört geile Musik. Die Leute staunen sich wie Kinder in Ekstase, während sie zügellos zusammen ihre Energien erleben und das Ereignis immer weitergeht. Und sie werden es lieben und vielleicht begreifen, was sie da machen. Wie schön es ist!"

Aug in Aug steht Anemone nun ein seufzender, völlig erregter Pankraz mit ausgebreiteten Armen gegenüber. Sie lächelt und das wenige Licht spiegelt sich in seinem erwartungsvollen Blick. Es ist ein wenig unheimlich.

I.

‚Wouhhwouhhwouhh, die find ich ja mal richtig richtig gut, hechelhechel', jault es einem Besucher der frühen Stunde durch den Kopf, als ihm Anemone am Einlass gegenübersitzt, ihm für sein Eintrittsgeld einen Stempel aufdrückt und einen Verzehrgutschein gibt. Neben ihr steht der altbekannte Severin, der ihn mit „Jo Wolf, was geht?" begrüßt. Kurz knuffen Fäuste aufeinander und Schultern werden geklopft. Doch das Kumpel-Wiedersehen rückt in den Hintergrund, als der Blick ständig mehr oder weniger gewollt und mehr oder weniger unauffällig, aber mit umso mehr wohlgefallendem Interesse immer wieder auf diese verblüffend frische Schönheit abschweift, die da in hochsommerlicher Landidylle blüht. Und wieder weiter läuft Wolf weg von ihr hinein ins Gelände. Ganz erregt, möchte er befreit losjagen in die Weide, sich hineinlegen in die nachmittäglich erhitzte Landschaft und gierig von den Aromen dieser lebendigen Luft einsaugen, bis ihm schwindelig wird. Lange her, dass er zu Hause auf dem Land war. Über die lang gestreckten Hügel weht ein feiner Wind aus der Ferne Klänge, die zunächst kaum als Musik erkennbar sind. Erst nach gut hundert Metern, vorbei an Wald und Wiesen, vereinzelten Zelten und ein paar verstreuten Leuten, kann man hören, was da aus der geöffneten Scheune tönt.

Das erste Stündchen Musik beginnt in den frühen Abendstunden ziemlich genau um 18 Uhr, als es sich eher noch wie Nachmittag anfühlt. Eine sichtlich junge Gitarrenband gibt gerade ihr erstes Konzert: die BEAUTIFUL BASTARDS, bei denen ein Mädchen das Schlagzeug spielt. Auch die anderen extra hergestylten, steif auf ihrem Platz verharrenden und stets nach unten schauenden Bandmitglieder muten zart feminin an. Ihre Punkallerleimischung ist anti und trotzdem poppig, irgendwie individuell und auf jeden Fall von Komplexen geprägt, sehr hektisch und nicht besonderlich versiert dargeboten. Trotz aller unsauberer Unausgereiftheit und nur sporadischem Ausdrucksgekreische klingt es irgendwie fresh. Nur merkt das kaum jemand, denn die Performance leidet definitiv darunter, dass der Sound ebenso stümperhaft abgemischt ist, wie er übertrieben laut aus dicken Monolithboxen gekotzt wird.

Untransparent verflüchtigt sich die aggressive Beschallung in der Luft, kaum jemand der wenigen bisher Anwesenden kümmert sich großartig darum. Nur James tänzelt barfüßig in der Nähe der Bühne herum und wirft seine langen angegrauten Strähnen, die aus Kopf und Gesicht wuchern, herum. Immer auffällig, ist James wahrscheinlich weit über 40 und so ziemlich der letzte aktive Vertreter der wilden 68er in der näheren Umgebung. Wenn es nach ihm geht, war früher natürlich alles viel besser und ausgeflippter und was immer die älteren Eltern der Jungmeute, unter der er gerade weilt, einst verloren haben oder nie hatten, was es vielleicht auch so gar nicht gab oder was zumindest bis jetzt noch nicht wiederentdeckt wurde, wie auch immer, er, oh ja aber er, er hat noch jede Menge davon in seinen Gliedern. Denn James hat bis jetzt schon so einiges erlebt in der Welt und wird nicht müde, davon Zeugnis abzulegen, wann immer sich die Möglichkeit bietet. Manchmal kann das echt spannend und amüsant sein, die meisten langweilt und nervt es eher. Nicht selten sind seine ausufernden Anekdoten so abgefahren kurios, dass man nie sicher sein kann, was davon wirklich passiert ist. Zum Beispiel, wie er damals bei Orgien in Kommunen, den Brutstätten des Hippie-Zeitgeistes, dabei war. Da sind so manche nun zum Teil nicht mehr unter den Lebenden weilenden Rockstars verkehrt, deren Namen längst zu Legenden wurden. Viele von ihnen begleitete er als Roadie jobbend auf Tournee. In den glorreichen Tagen hätte man auf der Bühne und noch ärger hinter den Kulissen Sachen getrieben, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Oder wie er einmal auf einem Trip durch Amsterdam in einer heruntergekommenen Wohnung gelandet ist, die er danach nie mehr ausfindig machen konnte. Dort hatte er das erleuchtende Erlebnis, die verloren gegangenen letzten Aufnahmen jener pilzköpfigen ersten Boygroup anhören zu dürfen, die dann Jahre später wieder aus geheimnisvoller Versunkenheit aufgetaucht und veröffentlicht worden sind. Crazy shit …

Wolf schleicht umher bei den Theken und leeren Tischen, die in einiger Entfernung zur Scheune aufgebaut sind. Er stellt Zelt und Rucksack ab, um zuallererst mal bei einem kühlenden Bierchen die Situation zu überschauen. Da und dort Grüppchen, ein paar Hunde tollen rum, Getränkevorräte werden herangekarrt, Grills aufgebaut. Wolf sitzt ein Weilchen nieder, schaut und sinniert darüber, wie schön es ist, wieder in der Heimat zu sein, weil das zwischen den in der fernen Stadt verbrachten Semestern seines Soziologiestudiums nur noch selten vorkommt. Er ist ziemlich zeitig dran und wie immer für alle Umstände bestens gerüstet. Dann nimmt er das Bier mit und geht sein Zelt aufbauen. Das geht leicht, schon so oft gemacht. Dagegen verlangt die Auswahl eines geeigneten Platzes schon eher fachmännische Expertise. Ruhig und abseits soll es sein, aber mit guter Aussicht und im Idealfall schattig. Als Wolf gerade im fertig aufgebauten Zelt die Isomatte ausrollt, sein Bett für die nächsten zwei Tage, und Zeug auspackt, hört er in kurzen Abständen mehrmals ein Scherbenklirren über der Musik, das recht nahe klingt. Irgendwie alarmiert, sieht er nach draußen und vermutet schließlich, ein Haufen extrem einheitlich kurzhaariger Burschen müsse die zerstörerischen Geräusche verursacht haben. Sie sind bisher seine nächsten Nachbarn in ein paar zig Metern Entfernung. Ihnen gehören auch die wenig zutraulich aussehenden Hunde und sie haben jede Menge mitgebrachtes Bier vor ihren Zelten aufgetürmt. Scheiß Bauern, scheiß Hooligans, arme Köter, denkt er sich. Dann geht er wieder da hin, wo die Musik spielt, und legt sich in einen Hang mit guter Aussicht. Schön mittig vor der Bühne, wo der Klang am besten ist, und gerade so weit weg, dass es noch gut rockt. Es dauert nicht lange, bis sich Severin dazupflanzt. Nach dem kurzen Treffen an der Kasse tauschen sie sich kurz über den jeweils aktuellen Stand der Dinge aus und chillen in der prallen Sonne. Obwohl sich die ehemaligen Grundschulkameraden zuletzt lange nicht gesehen haben, ist sofort das alte einander Schätzen und Verstehen wieder da.

 

WOLF (entspannt auf die Ellen zurückgelehnt im Gras sitzend) Und was läuft dann jetzt hier so? Sieht ja schon ganz partytauglich aus. Ich hab vom Pankraz nurn verpeiltes E-Mail-Rundschreiben als Einladung bekommen.

SEVERIN Hey Party ohne Ende. Hoffentlich! Nach zwei Wochen Eventmanaging und Highend-Improvisation beim Aufbau. War scho lustig bisher, weils alle mitgholfn und Vollgas gebn ham. Wia su fleißige Arbeitsbienchen, bssss bssssssss

WOLF Whou sauber. Und? Alles rechtzeitig fertig geworden?

SEVERIN Ach woaßt. Is doch wurscht, oda? Fertich wermer nie, eher wermer hie! Blouß finanziell müssmer etz holt unbedingt wos reißen, sonst schaugts schschschlecht aus. Wird scho wern!

WOLF Wieso? Wer hat draufgezahlt? Keine Sponsoren, Werbung?

SEVERIN Scho, sogar Zuschüsse, weilmer ja a Verein sin …

WOLF Hä … wie?

SEVERIN Na unser Freiluftfeier e. V. zur Förderung von Amateurmusik, extra erst heuer für das Open Air gegründet. Wir sin scho bald fünfzig Mitglieder und -Innen hh, und i der Kassierer. So dürfmer offiziell Eintritt verlanga und Sachen verkaufn. Der Behördenkram nervt bloß a wengerl, da muss ma dauernd ois genehmign lossn und anmeldn und su a Gschmarri.

WOLF (abwägend und unauffällig sein Interesse einstreuend) Mh-äh, apropos, wer war denn das Mädel an der Kasse? Kennst du die aus euerm Verein?

SEVERIN Klar, die Anemone. I hob dacht, ihr kennts euch.

WOLF W-wieso?

SEVERIN Ach, nur so, vorhin. Ey, und kennst den ah? Der Typ ist a echte Legende. (JAMES kommt angesappst und setzt sich unter lautem Ächzen im Yogasitz mit dazu) Hey Sers James, gesell dich. Des is der Wolf.

JAMES (spricht benebelt heiser, als ob er aus dem Nachmittagsschlaf geweckt wurde oder gerade dahinsiecht) Hi … ich bin der James.

WOLF Servus.

JAMES Also … wollt ich nur mal anbringen: Echt Klasse ihr hier, habt ihr exzellent hinbekommen. Dickes Lob an eure Generation mal ausnahmsweise.

SEVERIN Dankedanke, Mann. Bisher läfft aber ah ois vui einfacher als erwartet mit die Vorbereitunga. Bisher woar ja nu nix Großartigs los.

JAMES Das liegt bestimmt an den Vibrations hier … den Erdstrahlungen und so. Ich kenn ja den Platz schon lange. Wir haben hier ganz früher öfter mal zum Lagerfeuer getrommelt, das war groovy. Irgendwann haben sie dann einen vom Baum hängend gefunden … einen Fremden, den keiner kannte und der wohl extra zum Sterben angereist ist. Verrückt. Ich weiß gar nicht mehr genau, wo das war, ungefähr da drüben hinter der Scheune vielleicht. (deutet mit einer wurfartigen Bewegung vage die Richtung der Bühne an)

SEVERIN Ja iieh. Die Gschichte kenn i ja nu gar net.

JAMES Hm, ist aber wirklich schon gut dreißig Jahre her. Halt so meine hippe Jugendzeit. (hustet) So übel, noch dazu muss der schon ne ganze Weile tot da rumgehangen haben und war schon halb aus sich herausgeflossen. (hustet noch mehrmals mit zunehmender Stärke, bis sich etwas löst)

SEVERIN Oh nö, zu krass. Des will i gauer net hörn, hör bloß auf.

JAMES Okayokay. Es verfällt eben alles und wächst wieder drüber und verfällt und wächst und so weiter. Alles schön geordnet chaotisch in Zyklen … ist doch trotzdem schön hier. (längere Pause) Reden wir uns doch mit etwas anderem drüber hinweg, um zu vergessen.

SEVERIN Jawoi, genau. (initiiert eine Runde Anstoßen mit den Bieren, alle nehmen einen tiefen Schluck, dann wieder einen Moment zu lange bedächtiges Schweigen) Und was meints ihr? Verdammt gutes Bier ham wir ausgsucht, oder?

WOLF Mhm ja. Voll lecker. Ich kenn das gar nicht. Was ist das für eins? (schaut auf das Etikett, liest) Hexenhäuser, hm, ist das von hier aus der Umgebung?

SEVERIN Na kloar, was denkstner du, is ja wohl Ehrensache.

JAMES Kennste das nicht? Das is „der“ Supersaft, da kann keines mithalten … auf der Welt, mein Bester. (ergreift WOLF fest am Arm, voll redseliger Begeisterung und ein wenig zu freundschaftlich, wie der sich denkt) Ich hab ja schon jede Menge Biere getrunken, und zwar auf allen Kontinenten. Das hier hab ich aushilfsweise auch schon mitgebraut, als die vor ein paar Jahren die alte Brauerei wieder in Betrieb genommen haben – so ein paar Bekannte, mit denen ich früher mal in der Kommune gelebt hab.

SEVERIN Jau, die foahrn echt a guats Bio-Konzept, alldem Aufkaufen und Fusionieren vo Großbrauereien zum Trotz. Und des Beste san die Spezialbiere, wenns bei Vollmond oder mit alten Rezepten ohne Reinheitsgebot braun. Zwar net immer für jeden verträglich, aber was für a Hochgenuss! (erneut werden die Mehrwegflaschen erhoben und beherzte Schlucke genommen)

WOLF (schmunzelnd, weil er schon wieder an etwas ganz anderes denkt) So was? Oft ist das Gute so nah.

JAMES Zeig mal, was haste denn für eines erwischt?

WOLF (schaut erneut auf das Etikett) Was? (zeigt es) Die rote Gefahr?

SEVERIN Jau Mann, des is spitze. A Rotbier, des der Gsell zur Meisterprüfung designt hat, bevor er nach China ausgwandert is und dort etz als Brauer ganz groß Kohle mocht.

WOLF Echt? Irre! Aber klar, warum nicht. Und du so, James, wenn ich mal fragen darf …

JAMES Ja was? Passt schon, frag! Ich erzähl gern.

SEVERIN (entscheidet sich beiläufig kommentierend dann doch für die ironische Variante) Ooch echt? Du doch neet.

WOLF Was machst du sonst, wenn du nicht gerade braust?

JAMES (holt aus mit einem tiefen Lufteinsaugen, das gleichzeitig nach Seufzen und Selbstgefälligkeit klingt) Ja also weißt du … ich mach – das, was ich mach – sonst könnt ich das erst gar nicht machen – gerne. Zumindest meistens. Und da gibts ganz viel. Vor allem tu ich Bäume beschneiden und veredeln, das ist quasi meine Leidenschaft und mein Handwerk. Damit bin ich selbständig und ich komm bei recht vielen Kunden im weiteren Umkreis rum, was recht interessant ist. Saisonal mach ich manchmal auch bei Apfelernten mit, oder anderes Obst. Früher auch Waldarbeit, bis ich mich entschieden hab, keine Bäume mehr zu töten. Tja, und zwischendurch, im Winter, wenn hier gerade keine Saison ist, fahr ich natürlich viel in Urlaub. (jetzt euphorisch und sogar ein wenig lauter ächzend) Das ist ja der Sinn des Ganzen! Dass man zur Abwechslung mal was Schönes zu sehen bekommt. Da merkt man erst mal, wie unterschiedlich und mindestens ebenso qualitativ woanders gelebt wird.