Waypoint FiftyNine

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Schlimme Jungs

(Ein Intermezzo von Jörg Fuchs Alameda)

Ein dürrer Mann, der ein wenig wie ein Modeschöpfer aus den Neunzigern aussah, stolperte aus dem Waffencheck und fiel vor uns auf die Knie. Er schnappte nach Luft. »Die KI ist doch bekloppt!«

»Keine Sorge, die Lähmungen von den Elektroschocks verschwinden in ein paar Minuten«, sagte ich und half ihm aufzustehen.

»Ach Gottchen, wie nett. Danke. Und tut mir leid, wenn ihr wegen mir warten musstet.« Er reichte erst mir und dann Ziggy die Hand. »Crandall mein Name. Ich kann alles beschaffen. Sogar pestverseuchte Maden vom Planeten R108. Interesse?«

»Können die noch was anderes als Bevölkerungen ausrotten?«, fragte Ziggy.

»Also ich brauch keine«, sagte ich, bevor Crandall antworten konnte. »Scheint ein harter Wettbewerb zu sein im Madengeschäft. Eben hat noch ein anderer Typ solche Viecher direkt hier im Korridor angeboten. Wollte aber niemand was kaufen. Da ist er zurück in die Bar gelaufen.«

Crandall wirkte plötzlich angespannt. »Wie sah er denn aus?«

Ich überlegte kurz. »Blutige Nase, langer Mantel. Ich glaube, er hat sich mit Smith vorgestellt.«

»Cornelius?«, murmelte Crandall mehr zu sich selbst.

»Der ist ziemlich sauer«, ergänzte Ziggy. »Faselte was davon, seinem Auftraggeber auf den Riechkolben zu hauen, falls er das nach dem FiftyNiner noch schafft.«

Unwillkürlich rieb sich Crandall die Nase. »Tut mir leid die Herren, ich muss weg.« Er verschwand in dem Raum, aus dem er gekommen war.

»Schnell, da wird was frei!« Ziggy zog mich in einen der anderen Waffenchecks. Das Schott schloss sich hinter uns. Tadelnd sah er auf Security-Jacks blinkende Sensoren. »Jörg sagt, du bist gemein zu ihm. Stimmt das?«

»Ich bin doch nur ein Taschenrechner, der ein wenig Zerstreuung sucht. Außerdem haben die Stromschläge nicht einmal bleibende Schäden verursacht. Der Typ war vorher schon so hässlich.«

Wütend stampfte ich auf den Metallboden, woraufhin sich in den Wänden die Elektroschocker geräuschvoll aufluden.

»Jetzt bleiben wir alle mal ganz cool.« Ziggy streckte die rechte Hand in meine Richtung und die linke nach oben zur Kamera, so als würde er zwei Streithähne auseinanderhalten. »Nicht dass heute noch Blut fließt.«

»Oder Maschinenöl«, sagte ich und setzte meinen fiesesten Blick auf.

»Normalerweise ziehe ich es vor, meine Quantenprozessoren mit mathematischen Problemen zu beglücken.« Hörbar fokussierte Security-Jack sein optisches Auge auf mich. »Aber hier musste ich verhindern, dass dieser Idiot in der Kneipe mit seiner Grillzange die Gefühle der veganen Farciminis verletzt.«

»Nur weil die wie Riesenwürstchen aussehen, haben die doch noch lange keine Angst vor Grillzangen«, verteidigte ich mich.

»Jörg hat recht«, sagte Ziggy. »Lass uns einfach zur Schleuse, dann bleibt dein Irrtum unser Geheimnis.«

»Niemals. Ich habe im Weltraumknigge-Archiv der Milchstraße recherchiert. Günther und Jörg sind schlimme Jungs.«

Ziggy hob eine Augenbraue. »Haben sie etwa Kaugummi unter fremde Tragflächen geklebt?«

»Schäbiger. Sie schummelten im Maislabyrinth. Statt alle Stempel selbst zu finden, stahlen sie einem Siebenjährigen die Lösung.«

»Das war ein Tausch!«, rief ich empört. »Der Kleine hat dafür meinen angebissenen Schokoriegel bekommen.«

»Mehr haben sie nicht verbrochen?«, fragte Ziggy.

»Laut den Daten ihres Bordcomputers haben sie sich nach dem Frühstück nicht die Zähne geputzt.«

Ziggy packte mich am Nacken. »Jörg, ich bin sehr enttäuscht von dir. Zahnhygiene ist wichtig.« Er sah in eines von Jacks Kameraaugen. »Ich werde diesen Gauner seiner gerechten Strafe zuführen. Sein Gebiss wird eine extra lange Zahnreinigung erhalten. Und zwar ohne Betäubung, ganz egal ob er Zahnstein hat oder nicht.« Unsanft rüttelte Ziggy an mir, ohne den Blick von der Decke abzuwenden. »Nun lass uns durch.«

Das Schott öffnete sich und wir betraten die Dimensionsschleuse. Ziggy steuerte sofort auf das Transportfeld zu und fummelte an dem Touchdisplay herum.

Eine derbe Frauenstimme ertönte aus dem schwarzen Lautsprecher darüber: »Schatzilein, du denkst wohl, du bist das Universum.«

»Wieso das jetzt?«

»Dein Bauch dehnt sich immer weiter aus.« Die KI der Schleuse lachte über ihren eigenen Witz.

»Welches Update hast du denn gefrühstückt?«, fragte Ziggy. »Scherzkeks für Dummies?«

»Na, na, na, da musst du nicht gleich dicke Luft machen?« Wieder kicherte die KI. »Meine Geruchssensoren melden nämlich ein Hygieneproblem.«

Ziggy sah mich fragend an. Ich rümpfte die Nase und antwortete: »Du stinkst bestialisch nach Mottenkugeln.«

»Altes Hausfrauenrezept gegen Marsspinnen.« Er tippelte verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Möglicherweise habe ich mich beim Dosieren des Naphthalins verschätzt. Darf ich trotzdem verreisen?«

»Ziggy Stardust«, hauchte die Stimme versöhnlich, »ich würde dich sogar nach einem misslungenen Haarschnitt noch quer durch die Galaxis jagen. Wo soll es denn hingehen?«

Wortlos tippte Ziggy das Ziel auf dem Touchfeld ein.

Ein letztes Mal erklang die Frauenstimme: »Ihr könnt die Schleuse jetzt betreten. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass ihr den Aufenthalt überleben solltet, besucht uns gerne wieder. Gute Reise.«

»Was meint sie damit?«, fragte ich meinen neuen Kumpel. »So tödlich ist der BuCon 2019 doch gar nicht. Außer einem Einhornmörder und einem bissigen Verleger laufen auf dem Convent nur harmlose Buchmenschen herum.«

Ohne zu antworten, schubste er mich in den flirrenden Torbogen.

Von Maden und Halunken in Spelunken (von Jasmin Aurel)

Ein einzelner Tropfen Blut lief ihr über das Handgelenk.

Kay zuckte zusammen und bemerkte erst jetzt, dass sie unbewusst ihre Fingernägel brutal in ihren Handballen bohrte. Mit einem Keuchen öffnete sie ihre Hand und betrachtete im bunten Lichtschein der Armaturenanzeigen die blutigen Male in ihrer Haut.

Sie seufzte und sah aus dem Fenster. Shuttles und Raumschiffe unterschiedlichster Größe und Bauart schwebten vor, hinter und über ihr in drei langen Reihen. Der Zubringertunnel war mehr als voll. Sie steckten fest, was im Zeitalter von Leitsystemen, in die sich Bord-KIs einwählen konnten, eigentlich kaum möglich war.

Und doch standen sie hier.

»Benedict, wie lange dauert dieser Stau noch?«

»Diese Gegend ist hartnäckig verstopft um diese Uhrzeit. Scheinbar müssen die Flugbahnen hier wegen dem großen Andrang per Zwang in Bahnen gelenkt werden. Es kam wohl in letzter Zeit zu einigen schweren Zusammenstößen. Ich bitte vielmals um Verzeihung für diese Unannehmlichkeiten, Darling«, schnurrte Benedict, die KI ihrer Spacelimousine, aus den Lautsprechern.

Die meisten KIs waren weiblich, aber es hatte sich sowas von gelohnt, sich die Stimme von Benedict Cumberbatch als Modul einzukaufen. Sein tiefer, britischer Bass kratzte wenigstens nicht wie rostige Nägel an der Innenseite ihres schmerzenden Schädels.

»Halte noch ein wenig durch. Möchtest du, dass ich Musik auflege? Sanfte klassische Klänge, Sweetheart?«

Kay überlegte, während sie ihre zittrigen Finger betrachtete und den blutigen Handballen dann gegen den schwarzen Stoff ihrer Hose presste. »Einverstanden.«

Die klaren Töne eines Klaviers perlten über sie hinweg und Kay rutschte tiefer in die weichen Polster.

»Vielleicht war es doch keine so gute Idee, unter Leute zu gehen.«

»Es war die einzig gute Idee. Du unterhältst dich seit Wochen nur mit mir, das ist nicht gesund, Beautiful.«

Jetzt war es soweit: Sie wurde von ihrer KI bemuttert. Jeder wusste, was das bedeutete: Man war ganz unten angekommen.

»Es wird Zeit, dass du nach deinem Umzug neue Sozialkontakte knüpfst. Mit lebenden Personen wohlgemerkt.«

Auch das entsprach leider der Wahrheit.

»Außerdem seien wir ehrlich, Darling, wenn du dich weiter so hängen lässt, musst du mich verkaufen, weil du dir deinen gewohnten Lebensstandard nicht mehr leisten kannst.«

»Aha, daher weht der Wind«, lachte Kay. »Du hast Angst, bei irgendeinem geleckten Schnösel zu landen.«

»Nun, die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch einmal bei einer Space Nekromantin lande und eine derart aufregende Existenz führe wie bei dir, ist statistisch gesehen sehr gering. Das musst du zugeben, my dear.« Benedict ließ die Spacelimousine ein Stück weiter rücken, als der Stau sich bewegte. Dann standen sie wieder.

»Möglicherweise wird es bei mir jetzt aber auch langweilig und öde werden, Benedict. Du weißt, ich habe aufgehört.«

»Sagen wir, du gönnst dir eine Auszeit.«

Auszeit. Das war keine Auszeit.

»Benedict, der letzte Auftrag war … das war … ein Massaker. Ein. Massaker.« Kay betonte jedes einzelne Wort. »Diese Bilder verfolgen mich immer noch. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich kann nicht mehr essen. Ich …« Tatsächlich konnte sie nicht einmal in Worte fassen, was sie empfand. Deshalb hatte sie auch noch mit niemandem darüber gesprochen. Nicht dass es irgendjemanden geben würde, der sich für ihr Seelenleben interessieren würde. Das Leben als freischaffende Auftragsnekromantin war zwar gut bezahlt, aber einsam. Sehr einsam.

So einsam, dass sie von Benedict bemuttert wurde.

Dieser schwieg höflich.

Das Klavier klimperte.

Sie standen immer noch im Stau.

»Benedict, gibt es denn noch eine andere Bar, wo wir hinfahren könnten? Bis wir beim Palace of Glass ankommen, habe ich eine Panikattacke.«

 

»Wenn wir hier rechts aus der Hauptverkehrsader abbiegen, könnten wir in zehn Minuten die große Dimensionsschleuse für Raumschiffe erreichen. So könnten wir relativ schnell den Rand unserer Galaxy erreichen. Dort gibt es eine Weltraumkneipe. Allerdings …« Er zögerte einen vielsagenden Moment lang. »Nun ja, sie ist nicht so hochklassig.«

»Nicht so hochklassig?«

»Von fragwürdiger Reputation.«

»Wovon sprichst du?«

»Eine Spelunke, Darling. Sie heißt Waypoint FiftyNine

»Was ist denn das für ein Name für eine Bar?«

»Darüber möchte ich mir keine Meinung anmaßen, Honey.«

Das versprach zumindest unterhaltsam zu werden. Sicherlich spannender als sich die High Society beim Champagnersüffeln anzusehen und sich dabei wie eine Ausgestoßene zu fühlen.

»Bring mich in diese Spelunke, Benedict.«

Kurz vor ihrem Ziel verringerte Benedict plötzlich deutlich die Geschwindigkeit. Kay kämmte sich gerade die Haare, überprüfte ihr Make-up und überlegte, ob es besser wäre eine Augenklappe über ihrem Nekromantenauge zu tragen, als sie bemerkte, dass sie nahezu auf der Stelle schwebten. »Ben, was ist los?«, fragte sie verwirrt.

»Ich habe gerade eine Nachricht der Stations-KI der Kneipe erhalten. Ein defekter Sensor verhindert, dass sich freie Buchten öffnen.«

»Na und? Wenn eine Bucht wie allgemein üblich drei bis fünf Raumschiffe aufnehmen kann, wo liegt dann das Problem? Da wird doch wohl trotzdem genug Parkraum sein.« Kay entschied sich gegen die Augenklappe und deaktivierte mit einer Handbewegung die Bildschirmkamera, die ihr gelegentlich als Schminkspiegel diente. Nun zeigte der Bildschirm die Meldung der Stations-KI an. »Die wollen uns doch nicht etwa erzählen, dass sie sonst keine freien Plätze mehr haben? Wird diese Spelunke derart überrannt von Besuchern? Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Beruhige dich, Darling. Du bist etwas gereizt.«

Kay schnaubte nur als Antwort.

»Tatsächlich verfügt dieses Etablissement ausschließlich über Einzelparkbuchten.«

»Wow. Die sind ja dekadent. Einen solche Luxus bietet uns der Palace of Glass nicht. Wir sollten wirklich weniger lästern.«

»Das Klientel dieser Kneipe wird derartige Maßnahmen verlangen«, meinte Benedict verschnupft. Er mochte den Palace of Glass. Was natürlich an der süßen Service-KI lag, mit der er dort regelmäßig während seiner Updates flirtete.

»Die Stations-KI des Waypoint FiftyNine fragt, ob wir uns ausnahmsweise einen Parkplatz teilen würden. Scheinbar lassen sich nur noch die belegten Buchten steuern. Oder wir warten, bis eine gewisse Nova den Schaden behoben hat.«

Ein Bestatterraumschiff zog an ihnen vorbei. Eine Klappe am äußeren Ring der Raumstation öffnete sich. Das Bestatterraumschiff schwebte langsam hinein, die Klappe schloss sich wieder. Nun, offensichtlich funktionierte es problemlos, wenn sie zusagten.

»Sag ja und dass du eine artige kleine KI bist, die sich nicht mit anderen KIs um frisches Kühlwasser streitet.«

»Das habe ich wortwörtlich so übermittelt, Love.«

»Du bist ein Schatz.«

Wenig später parkte Benedict neben einer dreckigen, kleinen Weltraumschubse.

Mit einem sanften Klicken schloss sich die Luke ihrer Spacelimousine hinter Kay. Ihr Voice Plug hatte sie auf ihrem Sitz liegen lassen. Nur Loser unterhielten sich noch außerhalb ihres Schiffes mit ihrer KI, wenn es die Arbeit nicht gerade erforderte. Nein, sie würde sich mit echten Personen unterhalten. Oder mit niemanden. Je nachdem. Aber sie würde nicht so tief sinken, ihre KI als einzige Gesellschaft zu haben, wenn sie etwas trinken ging.

Kay straffte sich und wandte sich dem Schott zu, das zum Inneren der Bar führen musste. Dabei fiel ihr Blick auf den Namen der klapprigen Nussschale neben sich. George Washington. Alles klar. Der Besitzer konnte auch nur ein Mann sein.

Sie trat durch das Schott und fand sich in einer Kammer wieder.

»Willkommen«, ertönte eine männliche Stimme aus einem Lautsprecher in der Wand. »Mein Name ist Security-Jack. Ich sorge für die Sicherheit an Bord. Haben Sie irgendwelche Waffen abzugeben?«

»Nein«, sagte Kay. Die einzige Waffe, die sie bei sich führte, waren die Fähigkeiten, die in ihrem Körper verborgen lagen. Die konnte man nicht abgeben.

»Scan wird durchgeführt.«

Kay hielt artig still, bis die blinkenden Lichter erloschen waren und das Surren aufhörte. Das gegenüberliegende Schott öffnete sich.

»Wo geht es zur Bar?«, fragte sie.

»Laufen Sie einfach den Ringkorridor entlang. Da hän-gen Schilder, die sie ins Zentrum der Station führen. Viel Spaß.«

Kay folgte der Wegbeschreibung und stand schließlich vor einem weiteren Schott, das sie per Knopfdruck öffnete. Sie trat ein und ging einige Schritte über den glänzenden Boden, dessen Farbe im Schummerlicht schwer zu definieren war.

Dann blieb sie stehen und sah sich einen Moment einfach nur um. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an das dämmrige Halbdunkel des gefüllten Schankraums.

Die Wände waren mit einem Sammelsurium an bunt zusammengewürfelten Artefakten bestückt. Am Tresen war es etwas heller als an den Tischen, denn die verspiegelte Wand hinter dem Barkeeper beleuchtete die unzähligen Flaschen in den Regalen.

Es roch nach Bier, Zigarettenrauch und ungewaschenen Körpern. Auf einer kleinen Bühne spielte eine Band, sie wurde aber von einem stetigen Murmeln übertönt, das von den Besuchern ausging.

Vor ihr kroch ein mannshoher Oktopus mit neongrüner Mähnenperücke vorbei und hinterließ eine glitschige Spur. Ein Putzroboter fuhr hinter ihm her. An der Bar hing eine Meute Trolle herum, die wohl aus einer anderen Dimension stammten.

»He, Tentakelhirn, du schummelst!«, quäkte es am Billardtisch.

Hinter Kay öffnete sich das Schott. Ein Rudel Werwölfe – angeführt von einem schwarzen Einhorn – trat ein. Das Einhorn rauchte Pfeife und peitschte Kay im Vorbeigehen den geflochtenen Schweif ins Gesicht.

»Nicht in der Tür rumlungern«, wieherte es.

Eine Spelunke. Genau wie Benedict gesagt hatte.

Wo ging sie jetzt am besten hin? Hier schien jeder jemanden zu kennen, überall saßen Gruppen beisammen und unterhielten sich. Sie war allein und wusste nicht, wohin mit sich.

Ein menschlicher Mann steuerte auf sie zu. Er schwankte stark. Seine Nase war geschwollen und mit verschmiertem Blut bedeckt. Und er war über und über mit rötlichem Staub verkrustet.

Oh bitte, geh einfach an mir vorbei, betete Kay.

Der Mann rempelte sie an. »Huch, Entschuldigung!«, lallte er und stolperte ein paar Schritte zurück, wobei er sie anstarrte, als wäre sie aus dem Nichts erschienen und nicht die ganze Zeit hier an diesem Fleck gestanden.

»Schon gut«, murmelte Kay und wollte an ihm vorbei. Der Mann sah unangenehm abgerissen aus.

An die Bar. Am besten sie ging direkt an die Bar …

»Hey!« Der Typ hielt sie auf. Er beugte sich leicht vor. »Willst du …« Mit einem Ruck öffnete er seinen langen Mantel.

»Oh, bei Galaktikas Titten!«, stöhnte Kay und hielt sich die Augen zu. »Nein, geh weg!« War dieser Perverse ernsthaft nackt unter dem Mantel? Warum schrie denn keiner bei diesem Anblick? Andererseits: Würde in dieser Spelunke überhaupt jemand schreien, wenn sich einer entblößte? War das hier vielleicht normal?

»… ein Rückgrat?«, hörte sie ihn lallen.

Ein Rückgrat? Kay wagte es, hinzusehen. Neben diversen Knochen, Versteinerungen und dubiosen anderen Gegenständen – war das eine verdreckte Harry Potter Wollsocke? – steckte auch ein voll funktionsfähiges Rückgrat in eigens dafür eingenähten Schlaufen in seinem Mantel. Was stimmte mit diesem Kerl eigentlich nicht?

»Heute zwei zum Preis von einem!«, verkündete er stolz.

Kay starrte ihn an. Wenigstens war er nicht nackt. »Da ist aber nur ein Rückgrat«, wandte sie ein.

»Hä? Susi, wo ist das andere Rückgrat hin?« Er guckte sich panisch um, als könnte er es verloren haben. »Wie, wir haben nur eins?«

»Mit wem sprichst du?«

»Nicht mit dir.« Er drehte sich im Kreis. »Hätte schwören können, wir hätten noch ein zweites Rückgrat …«

Okay, alles klar. Ein Loser, der sich mit seiner KI über Voice Plug unterhielt. Natürlich.

Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihr rechtes Auge. Wieso bei Neptuns Nebeln regte sich ihr Nekromantenauge bei diesem Spinner? Der war vieles, aber ganz sicher nicht tot.

»Wenn du mich entschuldigst«, murmelte Kay und flüchtete auf die Toilette.

Vor dem Spiegel richtete sich gerade eine Dragqueen das schillernde Make-up. Erst im zweiten Moment bemerkte Kay, dass es ein Androide war. Vermutlich ein Erotik-Androide, wenn man sich die Kundschaft dieser Kneipe so ansah.

Sie ging in eine der Kabinen und wartete, bis der Androide den Raum verlassen hatte. Endlich allein trat sie wieder aus der Kabine und drehte den Wasserhahn auf. Während kaltes Wasser aus dem Hahn spritzte und dabei mehr ihre Kleidung einnässte als ihre Hände, betrachtete sie ihr Gesicht im verschmierten Spiegel.

Sie sah krank aus. Krank und bleich. Ihr linkes Auge blickte traurig. Ihr rechtes Nekromantenauge glänzte gewohnt purpurrot im billigen Neonlicht der Toilette. Nichts Ungewöhnliches. Wie immer blickte es in die Ferne und fokussierte sich auf die Welt hinter dieser Welt. Dieses Auge blickte stets hinter den Schleier, auf der Suche nach einer Beute für ihre Kräfte. Seltsamerweise hatte ihr Nekromantenblick vorhin auf diesen Trottel reagiert. Und sie verstand nicht, warum. Vermutlich waren es einfach ihre Nerven. Sie brauchte wirklich ganz dringend einen Drink. Der Barkeeper hatte auf den ersten Blick erstaunlich fähig ausgesehen. Vielleicht beherrschte er ja sogar ein paar Cocktails.

Ihre Gedanken wanderten zu dem verschrobenen Trottel zurück. »Ganz ruhig. Das war nur ein Spinner mit ein paar nutzlosen Knochen und einer ausgefransten Wollsocke«, redete sie sich selbst leise zu. »Der hat dich schon längst wieder vergessen und du kannst einen neuen Versuch starten, an die Bar zu gehen.«

Ihr Spiegelbild verzog angewidert das Gesicht.

Eilig verließ sie die Toilette und marschierte diesmal vehement direkt auf die Bar zu, damit sie keiner mehr anquatschte.

Leider saß der Besoffene inzwischen ebenfalls an der Bar. Natürlich. Überall hier in dieser Kneipe könnte er sich niederlassen. Nein, er musste ausgerechnet den Barkeeper mit seinem Elend vollheulen.

»Ich verstehe einfach nicht, warum keiner ein Rückgrat kaufen will! Das ist erstklassige Qualität!«

»Hallo«, grüßte Kay den Barkeeper und ignorierte den Trottel rechts von ihr, während sie sich an den Tresen lehnte. Sofort zuckte wieder dieser scharfe Schmerz hinter ihrem Auge. Es musste doch an diesem Typen liegen. Nur warum? Sie tat, als wäre nichts. »Kannst du mir einen Broken Galaxy mischen?«, fragte sie den Barkeeper.

Dieser nickte und schien froh zu sein, diesem Gespräch entfliehen zu können.

»Ich kann dir aber auch unseren Hausdrink den FiftyNiner empfehlen, wenn du etwas Starkes suchst«, merkte er an, während er Eiswürfel in ein Glas schaufelte.

»Nie gehört.«

»Er schmeckt für jeden anders.«

Das Schildchen am Revers des Barkeepers wies ihn als Virginio aus. Mit dem weißen Hemd und der schwarzen Fliege sah er beinahe zu kompetent für diesen Laden aus.

»Das ist immer wieder spannend.«

»Den hatte ich auch!«, mischte sich der Trottel ungefragt ein. »Kann ich nur empfehlen! Schmeckt wie … ach, jetzt ist mir das Wort entfallen.«

Kay ließ ihren Blick über seine abgewrackte Erscheinung schweifen und sah dann wieder den Barkeeper an. »Lass mich raten, man muss für diesen Drink einen Verzicht auf Klageanspruch unterzeichnen, richtig?«

Virginio grinste. »Muss man das nicht für alles, was Spaß macht?«

»Den Broken Galaxy, bitte.«

»Also wirklich!«, empörte sich der Trottel darüber, dass sie seine Empfehlung überging. »Huch, du bist ja Nekromantin!«, keuchte er dann. Scheinbar war der Anblick ihres roten Auges nun auch durch seinen FiftyNiner-Rausch gedrungen.

Virginio verdrehte die Augen. »Wow. Das war dezent, Cornelius.«

»Hä? Was meinst du?« Cornelius guckte verwirrt.

Sollte sie sich jetzt wirklich mit diesem Loser unterhalten? Sie könnte ihn auch einfach ignorieren, bis ihr Drink fertig war und sich dann in eine ruhige Ecke verziehen. Andererseits war sie ja extra hierhergekommen, um mal wieder soziale Interaktionen zu pflegen. Damit sie nicht so erbärmlich endete wie diese schräge Gestalt neben ihr.

 

»Ja, ich bin Nekromantin. Mein Name ist Kay. Und du bist …?« Na also. Die Grundlagen einer Konversation beherrschte sie ja doch noch.

»Cornelius Smith, freiberuflicher Archäologe. Zu Ihren Diensten.« Er zog eine Visitenkarte aus dem Mantel und reichte sie ihr.

Die Karte war aus Papier. Echtem Papier. Kay hatte bis gerade eben nicht mal gewusst, dass so etwas noch hergestellt wurde.

»Ah ja.« Nach kurzem Zögern nahm sie die Karte an und wischte mit dem Ärmel darüber, um die rötliche Staubschicht zu entfernen.

»Und was treibt Sie hierher, gnädige Dame?«, fragte Cornelius Smith auf einmal superhöflich.

»Warum siezt du mich jetzt auf einmal?«, fragte Kay misstrauisch.

Sogar Virginio blinzelte verwirrt.

»Hä?«

Okay, der war zu betrunken, um überhaupt zu bemerken, was er tat. Cornelius schien außerdem schon wieder vergessen zu haben, dass er ihr eine Frage gestellt hatte. Sollte sie trotzdem darauf antworten oder so tun, als wäre es ihr ebenfalls entfallen?

»Ich wollte einfach mal wieder unter Leute«, erklärte sie möglichst neutral.

»Nun, es ist mir ein exorbitantes Vergnügen, Sie kennenzulernen«, palaverte Cornelius. »Sind Sie oft hier?«

»Tatsächlich bin ich zum ersten Mal hier.« Kay blickte sich um. »Das ist eigentlich nicht so meine Gegend. Aber der Verkehr zum Palace of Glass war komplett dicht, da säße ich immer noch im Stau.«

Cornelius fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Oh, gnädige Dame, dann seid Ihr aber hier völlig falsch.«

Benutzte er nun wirklich die Ihr-Form ihr gegenüber als Anrede? Ernsthaft?

»Du bist schon ein schräger Vogel«, stellte Kay fest, während Virginio seinen Becher schüttelte.

»Oh, danke sehr.«

Cornelius verbeugte sich so halb. Jedenfalls glaubte Kay, dass seine ungelenke Verrenkung eine Verbeugung darstellen sollte, ganz sicher war sie sich allerdings nicht. Vielleicht hatte er auch nur einen Knochen verloren und bückte sich danach.

»Es ist sehr freundlich, dass Ihr das sagt.« Er hielt inne und lauschte kurz auf seinen Voice Plug. »Wie meinst du das, das sei kein Kompliment? Du hast doch keine Ahnung, Susi!«

Virginio grinste nur, während er die fertig geschüttelte Mischung sorgfältig über die Eiswürfel goss.

»Und weshalb hast du dich so abgeschossen?«, fragte Kay höflich.

»Nun, wisst Ihr, mein Auftraggeber hat mich versetzt.« Darüber schien er sehr unglücklich. »Und jetzt warte ich hier wie ein Häufchen Elend und weiß nicht, was ich mit diesen blöden Maden anfangen soll. Habt Ihr denn Interesse an Maden, gnädige Frau?«

»Igitt, nein.«

Virginio stellte ihr den Cocktail hin und Kay nahm schnell einen großen Schluck, um den aufsteigenden Ekel zu dämpfen. »Und überhaupt, was hat denn ein Archäologe mit Maden zu tun? Arbeitest du nicht so wie ich mit toten … Ressourcen?«

»Ich versichere Euch, es handelt sich um eindeutig tote Maden. Tote, pestverseuchte Maden, um genauer zu sein.«

»Oh. Nett.« Vielleicht sollte sie doch nochmal Händewaschen gehen. Hing in der Toilette eigentlich Desinfektionsmittel?

»Ich habe sie erst vor kurzem auf R108 ausgebuddelt, sie sind in einem erstklassigen Zustand«, fügte Cornelius stolz hinzu.

Das erklärte, weshalb ihre Nekromantensinne unterschwellig auf Cornelius reagierten. Er musste diese Viecher bei sich tragen. Wie hatte er die nur an Security-Jack vorbeigeschmuggelt?

»Danke, nein. Ich arbeite zwar mit totem Material, aber das gehört mir nie selbst.« Es gab zwar Gerüchte von Nekromanten, die sich gleich mehrere Tiefkühltruhen mit Toten daheim hinstellten, um sie je nach Bedarf als Haushaltshilfe wiederzubeleben und wieder einzufrieren – aber Kay gehörte nicht dazu.

»Ach, niemand will mir meine Maden abkaufen!«, beklagte er sich. »Da geht ein armer alter Archäologe wie ich doch bald pleite.«

»Man verdient schlecht als Archäologe?« Das überraschte Kay. Man brauchte sie doch heutzutage ständig, zumindest in ihrem Arbeitsmilieu.

»Dank dieser ungeheuerlich neumodischen Firmen wird uns klassischen Archäologen das Wasser abgegraben.« Cornelius hielt kurz inne und schien darüber nachzusinnen, was er gerade gesagt hatte und was eigentlich das Thema war. »Aufträge sind rar und werden oft an solche Idioten wie Alfredo vergeben, die immer alles in den künstlichen Hintern geschoben bekommen und in ihrem Leben noch nie richtig arbeiten mussten!«

»Bitte was?«

»Na, verwöhnte Bengel eben.«

»Ah ja, verstehe.« Kay verstand kein Wort. Da schien ein persönlicher, tief schwelender Konflikt vorzuliegen. Besser nicht darauf eingehen.

»Ich gestehe, ich habe selbst noch nie mit Archäologen zusammengearbeitet und bin daher nicht über die üblichen Gehälter informiert. Das sind meist die Angelegenheiten meiner Auftraggeber.« Als Nekromantin hatte sie sich noch nie Gedanken über Geld machen müssen. Sie konnte sich ihre Aufträge heraussuchen. »Meine KI kümmert sich um meine Finanzen. Benedict lehnt zu gering bezahlte Aufträge direkt ab.«

»Susi nicht«, grummelte Cornelius. »Außerdem kriegen wir viel zu wenige Aufträge, weil uns immer alles vor der Nase weggeschnappt wird.«

»Uns?«, echote Kay.

»Susi und mir«, antwortete Cornelius ganz selbstverständlich.

»Verstehe.« Oh weh.

Kay nippte an ihrem Glas und ließ den kühlen Schluck langsam ihre Kehle hinabwandern. Mittlerweile drückte ihr Auge nicht nur ein wenig, sondern schmerzte penetrant. Was war denn nur los? Das konnte doch unmöglich an den Maden liegen.

»Jedenfalls ist es eine Ungeheuerlichkeit, dass dieser schmierige Typ nicht auftaucht!«, empörte sich Cornelius derweil. »Da macht man sich solche Mühe und dann hält der sich nicht mal an unsere Vereinbarungen.«

»Was will der überhaupt mit toten Maden anfangen?«, fragte Kay, um sich abzulenken. Sie verstand nicht, was mit ihr los war, und sie wollte jetzt nicht zurück in ihre Spacelimousine gehen, um einen Vitalscan zu machen. Endlich führte sie mal wieder so etwas Ähnliches wie ein zivilisiertes Gespräch mit jemandem, der nicht aus Codezeilen und Schaltkreisen bestand. Auch wenn Cornelius stockbesoffen war – oder gerade deshalb –, war er eine leichte Gesellschaft, die nicht so viel von ihr forderte. Bestimmt ging es gleich vorbei. Sie nahm noch einen Schluck von ihrem Cocktail, um den Schmerz zu betäuben.

»Ach, das weiß ich auch nicht. Ich habe nicht gefragt«, sagte Cornelius.

Kay rieb sich das schmerzende Auge. »Mit dem solltest du nicht mehr zusammenarbeiten. Oder nur gegen Vorkasse. So mache ich das. Wenn der Auftrag schwieriger wird als erwartet, stelle ich die Mehrkosten hinterher in Rechnung. So ist man aber über den größten Teil des Betrages abgesichert.« Für ihren letzten Auftrag hatte sie sich wegen seelischer Beeinträchtigung sogar sehr großzügig entschädigen lassen. Dennoch hatte Benedict recht: Ewig konnte sie nicht mehr von ihren Ersparnissen leben.

»Solche Forderungen zu machen, kann ich mir nicht leisten«, sagte Cornelius traurig.

»Ich mir vielleicht bald auch nicht mehr«, gestand Kay schneller, als sie ihre Zunge kontrollieren konnte. Verfluchter Cocktail! Böser Alkohol!

»Ach?«, horchte Cornelius auf. »Weshalb denn?«

»Ich will das nicht mehr machen. Es macht mich kaputt.«

Wow. Zwei kleine Sätze, mehr nicht. Wie leicht sie ihr von den Lippen gegangen waren. Bis gerade hatte sie sich diesen Fakt nicht einmal selbst richtig eingestehen können, ohne vorher wochenlang an die Decke ihres Raumschiffes zu starren und sich selbst zu hassen. Und jetzt, bei einem besoffenen Fremden, offenbarte sie sich, einfach so.

»Ah, verstehe.« So wie er es sagte, war ihr klar, dass er rein gar nicht verstand. »Und was wollen Euer Gnaden jetzt machen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es ist nur, dass …«

Sollte sie ihm das jetzt auch noch sagen? Andererseits – sie würde diesen Idioten sowieso nie wiedersehen und Cornelius wäre morgen viel zu verkatert, um sich noch an irgendetwas zu erinnern. Warum also eigentlich nicht? Ach, scheiß drauf. Das war die perfekte Gelegenheit, sich das alles von der Seele zu reden.