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Spreemann Co

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In einer langen, glatten Kette von Ringen blies Spreemann den Rauch zwischen die Köpfe seiner Mitbürger.

Lieschen hoffte, daß sich diese gräßliche Reise noch zerschlagen würde, und überlegte zugleich, was alles dazu angeschafft werden sollte. Denn Hans sollte nichts entbehren müssen.

Sie sah zu ihm hinüber. Er schien glücklicherweise garnicht an seinen Plan zu denken. Beide Jungen bombardierten Ilka mit Silberkügelchen aus Schokoladenpapier.

Herr Slovitzka rauchte auch. Aber er sah zu Boden. Er prüfte das zusammengeströmte Schuhwerk. Im letzten Schein der Abendsonne. Am Sonntag könnte man beinahe glauben, daß es nur neue Stiefel auf der Welt gäbe. Aber es bleibt nicht alles neu, was glänzt.

Er lächelte und pfiff den flotten Dessauermarsch mit, den sie da oben trommelten:

»So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage . . .«

Und als die Musik mit einem kräftigen Paukenschlag endete, nahm er einen großen Schluck Bier und sagte, daß man den Sonntag nicht entbehren möchte.

»Ja,« sagte Madame Lieschen rasch zu Hans. »Solchen Berliner Sonntag wirst du nicht in dem fremden Lande da finden.«

Und sie fragte vorsichtig, ob ihm nicht Leipzig genügen könnte. Wo die großen Messen wären, das man Klein-Paris nenne und das doch nicht durch ein unheimliches Meer vom Vaterland getrennt sei.

Aber Hans pries London. Ilka hörte gespannt zu. Die Schilderung wurde sehr feurig. Die Größe der Riesenstadt vermehrte sich von Minute zu Minute.

Spreemann unterbrach schließlich diese ungeheure Ausdehnung, indem er bemerkte, daß man auch dort nichts andres können werde, als kaufen oder verkaufen. Handel sei Handel. Auch Slovitzka meinte das.

Aber da setzte die Musik wieder ein, und das große London verschwand im Bauch der Berliner Pauke. –

Es war spät geworden, und so nahm man für, den Rückweg eine Droschke.

»Geteilte Freude ist halber Preis,« sagte Herr Slovitzka, als er nach den Herrschaften Spreemann mit Ilka einstieg.

Die Zwillinge gingen zu Fuß.

Der Abend war warm und schwül. Die Dunkelheit verwischte die Umrisse der Bäume, wie die der wenigen Spaziergänger, die ihnen meist paarweise entgegenkamen. Alles schmolz ineinander.

Hans sagte, daß seine geplante Reise großen Eindruck auf Ilka gemacht habe.

Christian antwortete nichts. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal nicht zugehört.

So gingen sie schweigend weiter. Mit schnellen, gleichmäßigen Schritten. Sie waren gewohnt, zusammen zu gehen. Ihre Füße hielten genauen Takt.

Und auch genauen Takt ihre Gedanken.

Achtes Kapitel

Alle Unruh des Herzens überholt man am besten mit Arbeit. Madame Lieschen hatte blindlings nach diesem Trost gegriffen.

Sie war von Vorbereitungen so reichlich in Anspruch genommen, daß sie ganz vergaß, wie tief das Meer, wie lang der Weg, wie neblig London. Dagegen hatte sie die Ellenanzahl von Hansens Körperlänge und Weite in allen Einzelheiten genau im Kopf. Denn man nähte, säumte, stickte und strickte unermüdlich.

Frieda, die Nähmamsell, saß vom Frühstück bis zur Dämmerstunde mit krummem Rücken am Fenster. Sie war zusammen mit Madame Lieschen im Waisenhaus groß geworden. Aber dann war ihr Lebensweg abgebogen. Sie hatte sich auch einen Mann gewünscht. Aber es hatte beim Wünschen bleiben müssen. Man sagt, daß ein einziger Tropfen Unglück ein Faß voll Güte aufwiegt. Solch ein einziger Tropfen hing beständig unter Friedas Nase. Sommer und Winter, Herbst und Frühling. Er hatte schon da gehangen, als sie im Waisenhaus über dem Suppennapf das Tischgebet sprach.

Kein Mann war über diesen Tropfen hinweggekommen. Wenigstens nicht, als es noch Zeit war. Jetzt allerdings hatte sie einen Witwer zum Nachbar, der sieben Kinder besaß und der es mit Kleinigkeiten nicht mehr genau nahm. Er wollte sie heiraten. Aber nun war es zu spät. Jetzt wollte sie Ruhe haben.

Sie nähte in allen Häusern. Hörte und sah vieles und wußte von jedem Menschen, was er unter dem Rock trug.

Für Hans und Christian hatte sie schon die ersten Hemdchen mitnähen helfen. Damals, als man noch nicht wußte, wie der kleine Körper, für den Nadel und Faden schon liefen, gestaltet sein würde. Geschweige denn, daß man geahnt hätte, daß zwei sich Bett und Windel teilen sollten.

Als sie jetzt geduldig die lange Hemdennaht kappte und stichelte, wollte sie garnicht glauben, daß diese Zeiten schon so weit zurücklagen, wie die Länge der Hemden behauptete.

»Kinder sind der beste Kalender,« sagte sie zu Lieschen, die nähend neben ihr saß. »Du kannst bald Großmama sein.«

Ihre Gedanken beschäftigten sich immer noch gern mit Heirat und Liebe. Und das Nähen der Wäsche ging Hand in Hand mit diesen Gefühlen.

Madame Lieschen lächelte. Sie wollte der Mamsell Frieda gerade auseinandersetzen, daß ihre Söhne nichts im Sinn hätten, was ihr zu solcher Stellung Anlaß geben könnte, als Ilka ins Zimmer geschwirrt kam.

Sie hatte eine Notenmappe im Arm und wollte nur auf dem Weg zur Klavierstunde einen Augenblick hineinsehen.

Mamsell Frieda nähte weiter. Sie wußte, daß sie Ilka den Spitznamen Fädelfrieda verdankte. Den auch die Jungen sofort übernommen hatten.

Ilka äugte, ob der Tropfen an Fädelfriedas Nase hing. Richtig, er war an seinem Platz.

Frieda fühlte die beobachtenden Blicke. Sie sah auf und fragte, ob Fräulein Ilka nicht ein wenig mitfädeln wollte. Hans wäre doch ihr Freund.

Sie war mit den Hauptnähten fertig und hielt das neue Beweisstück ihres Fleißes in ganzer Länge in die Höhe.

Ilka quietschte auf. Lachend sagte sie, daß sie doch nicht für Hans die Hemden nähen könne. Dann beugte sie sich nieder, klappte kichernd das neue Wäschestück auf die andre Seite, schrie auf, wie wenn sie etwas Entsetzliches zu sehen bekommen hätte und lief lachend aus dem Zimmer.

Die Fädelfrieda war rot geworden. Sie drehte ihre Arbeit ärgerlich nach allen Seiten herum. Sie hatte jeden Stich daran verfertigt und wußte genau, daß nichts Unschickliches daran zu sehen war.

»Sie ist so übermütig, wie sie hübsch ist,« sagte Madame Lieschen nach einer Weile.

»Du solltest acht geben, daß du sie nicht als Schwiegertochter bekommst,« antwortete Frieda.

»Wer denkt daran,« sagte Madame Lieschen. »Wie Geschwister sind sie zusammen.«

Sie lächelte, daß Frieda noch immer das gleiche Gedankenspiel trieb.

»Hans ist schlau,« sagte Frieda. »Aber Christian ist ein Lamm.«

Madame Lieschens Lächeln schwand.

»Christian ist ein Soldat,« sagte sie. Und in dem festen Ton der Madame fügte sie hinzu, daß man in der nächsten Woche Uniformhemden für ihn zu nähen habe.

Es war dunkel geworden. Die Fädelfrieda stand auf und wickelte ihr Abendbrot, die Butterschnitten mit Leberwurst, in die Morgenzeitung. Damit trug sie zwei Genüsse auf einmal nach Haus. Beim Schein ihrer Lampe aß und las sie denn gleichzeitig und freute sich, daß es überall in der Welt Unglück gab.

In diesen Abendstunden war sie, wie sie selbst erklärte:

»Ihr eigner Herr, wie eine Madame.«

Nachdem sie fort war, öffnete Madame Lieschen beide Fenster und lüftete das Zimmer.

Aber die Worte über Ilka als Schwiegertochter blieben zwischen den Wänden.

Madame Lieschen wurde geradezu verlegen, als Herr Slovitzka unvermutet hereintrat, ehe er zum Abendbrot ging. Er kam aus der Fabrik und war guter Laune. Er wollte wissen, ob Spreemann später zu Klausing käme. Da er ein tüchtiger Mann war, liebte er keine Umwege. Daher fragte er gleich die Madame, ob der Herr Gatte wohl des Abends ausgehen würde.

Er sah die neue Wäsche und man kam wieder auf das Reisen zu sprechen.

Ganz von ungefähr sagte Madame Lieschen, daß heutzutage auch junge Mädchen reisen könnten. Zu ihrem eigensten Vorteil. Denn es gäbe Pensionate, wo sie unter bester Aufsicht alles lernten, was eine junge Dame fürs Leben nötig habe. Die neuen Zeitschriften waren voll von solchen Adressen. Sie wundre sich eigentlich, daß Herr Slovitzka, der doch für alles Neue wäre, noch nie für Ilka an dergleichen gedacht.

Herr Slovitzka riß die Augen auf.

Aber schon im nächsten Augenblick sagte er, daß er natürlich schon mehr als häufig diesen Gedanken erwogen hätte.

Er gehörte zu denen, die sich immer schon alles gedacht hatten, was ihnen erzählt wurde. Man muß die andern nicht eingebildet machen. Sein Geschäftsprinzip war: Immer selber derjenige welcher.

Wahrheit aber war, daß er sich schon oft genug überlegt hatte, wie sich Ilka die Zeit zwischen Schule und Hochzeit vertreiben sollte.

Bewerber würden sich bald genug einstellen. Denn eine gutgehende Schuhfabrik als Papa war eine liebenswürdige Eigenschaft für ein Mädchen. Aber der erste Beste sollte Ilka nicht einfangen. Eigentlich hatte man alles, was man brauchte, hier im Haus. Denn Spreemanns Hans war ganz nach seinem Herzen. Gesund und gescheit. Aber man mußte abwarten, wie alles kommen würde. Nur keine übereilten Abschlüsse . . .

Madame Lieschen, die inzwischen viele Vorzüge solcher Anstalten hervorgehoben, erfuhr, daß sie mit ihren Worten einen lang gehegten Plan ihres Nachbarn ans Licht gezogen hatte. Es war merkwürdig und wirklich hübsch, wie selbst ihre Gedanken nachbarlich übereinstimmten.

Schon am nächsten Sonntag war es eine längst beschlossene Sache, daß Ilka in ein Pensionat nach Dresden kommen würde.

Auch sie selbst war sehr zufrieden darüber. Es tat ihr nur leid, daß man in Dresden deutsch sprach. So hatte Hans immer noch etwas vor ihr voraus.

Dem blonden Herrn Christian aber würde es wohl imponieren müssen, wenn man ihm aus einer kofferbeladenen Droschke Lebewohl winken würde.

Neuntes Kapitel

Alles ist notwendig. Kleine Nadelstiche flechten Nähte. Kurze Augenblicke Stunden.

Die Fädelfrieda hatte Arbeit im Überfluß. Nach den Soldatenhemden kamen die Tändelschürzen und Mädchenröcke. Ihre Finger sollten flink sein, wie ihre Gedanken. Eiliger von Tag zu Tag. Denn mit immer wachsender Geschwindigkeit näherte sich die Abschiedsstunde. In einem Knäul von Koffern und Tüchern, blinkenden Schüsseln, Glanzschuhen und Tränen, schützenden Schirmen, Ratschlägen und Riemen sauste der Reisetag heran. Bis er wirklich da war. Fenster und Türen waren offen, kalte Zugluft zog durchs Haus, bis schwerfällig sich Droschkenräder langsam in Bewegung setzten und doch so schnell fortgerollt waren, daß man's kaum glauben konnte.

 

Am Morgen war Hans gereist. Am Nachmittag Herr Slovitzka mit Ilka. Denn er meinte, daß man Aufregung nicht in Portionen teilen sollte.

Auf einmal war's still geworden. Drinnen in den Zimmern, wie draußen in den Zweigen. Man fröstelte. Nie hatte man so früh zu heizen begonnen wie dieses Jahr.

Einige Abende lang zog nicht einmal Tabakrauch durch Spreemanns Wohnung. Weder Vater noch Sohn hatten Lust zum Rauchen.

Als Herr Slovitzka zurückkehrte in seine stumm gewordene Wohnung und auch beim Nachbar hereinguckte, sah er mit Genugtuung, daß Madame Lieschen rotgeweinte Augen hatte. Mochte sie fühlen, was es heißen will, sein Kind zu entbehren.

Trotzdem er mit Ilkas Reise nur seinen eigensten Plan ausgeführt hatte, wurde er ärgerlich, sobald er Madame Lieschens Stimme hörte.

Aber er war hart gegen sich. Er verschaffte sich oft diesen Arger. Denn die Abende waren lang.

Am Tage entbehrte er nichts. Da hatte er jetzt reichlich zu tun. Er verfertigte in seiner Fabrik am Spreeufer zum erstenmal die echten russischen Gummischuhe. Das war eine große Sache und konnte bei dem feuchten Herbstwetter ein Geschäft werden. Aber wenn man auch nach Fabriksschluß noch weiterkalkulierte, während man aß oder rauchte, wollte man doch zwischendurch ein einfaches Wort wechseln können.

Er hatte auch Spreemanns manches zu erzählen, was sie anging. Denn er hatte in Dresden Spreemanns Verwandtschaft, Frau Mariechen und den russischen Gatten, besucht. Er hatte Ilka dort eingeführt.

Frau Mariechen war sehr fein und freundlich gewesen. Und als sie die Größe von Herrn Slovitzkas Fabrik erfahren, hatte sie geklingelt, dem herzueilenden Mädchen befohlen, den Tisch noch einmal abzuräumen und echt russische Tassen mit Goldrand bringen lassen. Sie hatte einen echten Samowar und einen echten Dackelhund, der »Großfürst« hieß und Kinderstelle an ihr vertrat.

»Ja, es geht vornehm bei Ihren Verwandten zu. Frau Mariechen ist eine Weltdame,« schloß Herr Slovitzka seinen Bericht. Den russischen Gatten hatte er nicht kennen gelernt, da er sich gerade auf Reisen befand. Aber nach Herrn Slovitzkas Meinung konnte man unbesehen die größte Hochachtung vor ihm haben.

Klaus und Lieschen wunderten sich eigentlich, daß Mariechen eine Weltdame genannt wurde. Und in den echtrussischen Tassen glaubten sie das alte Teeservice von Tante Karoline wiederzuerkennen. Aber sie schwiegen. Seine Familie muß man hochhalten.

Zumal sich in diesen Tagen auch ihr Respekt vor sich selbst beträchtlich erhöht hatte.

Christian steckte im bunten Waffenrock und sah ganz wie ein Leutnant aus. Wenn man jetzt aus dem Geschäft nach Haus kam und die Wohnungstür aufschloß, hingen am Garderobenständer des Königs Kleider.

Christian wohnte zu Haus, und in seinen freien Stunden half er dem Vater im Laden. Ruhig und freundlich wie immer. Das Schwert an der Seite, schwang er die Elle. Die Damen, die er bediente, fühlten sich hochgeehrt.

Es war viel zu tun. Die Wintersäson setzte kräftig ein. Und mit einem Glücksschlag für Spreemann. Der Konkurrenz war ein grasgrüner Tarlatan untergelaufen, der seinen hübschen Trägerinnen gesundliche Schäden verursacht hatte, weil er mit Arsen gefärbt war.

Was dem einen Gift ist, kann dem andern heilsam sein. Die grüne Angelegenheit brachte dem soliden Herrn Spreemann viele verlorene Kunden zurück. Man drängte sich wieder einmal in seinem Laden, wo Christians blanke Knöpfe wie Gold funkelten.

Spreemann lächelte wieder ungehemmt.

Denn auch über Hans konnte er beruhigt sein. Zwei nette Briefe waren von ihm da. Er hatte die weite Reise gut überstanden und die feuchte Straße, auf der es keine Balken gibt, glücklich hinter sich.

Er schrieb von vielem Lärm und großem Verkehr, von Hammelfleisch mit Pfefferminzsauce, von Schiffen und Themsebrücken, von prima Baumwolle und Mull und daß eine fremde Sprache im Lande selber ganz anders wäre als in der Grammatik. Trotzdem kam in dem weiten Schreiben schon zweimal Allright, und einmal sogar Goddam vor. Aber zum Schluß war wieder viel von dem Haus am Dönhoffplatz und allen seinen Insassen die Rede.

»Er hat uns noch nicht vergessen,« sagte Madame Lieschen bescheiden und gerührt. Und zog eilig ihr Taschentuch aus dem Schlüsselkorb.

Sie weinte auf jeden Fall.

Ohne doch zu ahnen, wieviel Tapferkeit der Brief verschwieg.

Die wenigen Salztropfen zwischen dem Kontinent und der britischen Insel hatten ihrem Hans recht übel mitgespielt. Es hatte Augenblicke gegeben, wo ihm die ganze Königin des Handels und aller Profit der Welt zum Halse herauswuchsen. Und selbst jetzt auf dem festen Lande, zwischen dem Hammelfleisch, dem Nebel und der fremden Sprache, war ihm recht Angst und fremd zu Mute. Aber so etwas schrieb man nicht.

Man braucht nicht Soldat zu sein, um Schlachten zu schlagen . . .

Als Christian ins Zimmer kam, um sich des Bruders Brief zu holen, den er allein für sich lesen wollte, versiegten Mutter Lieschens Tränen. Ihr blonder Junge sah zu hübsch aus in seiner Uniform. So richtig forsch und adrett.

Sie wußte, wenn sie nun in die Küche ging, saß da ein andrer preußischer Soldat, der Kartoffeln schälte oder mit einem Schwert Holz spaltete. Das war Christians braver Bursche. Der in Pommern zu Haus war und dem die Augen vor Heimweh übergingen, sobald er eine Gans sah. Und der sich, weil es oft Bratgans gab, unendlich wohl fühlte bei Spreemanns.

Alles dies schrieb Madame Lieschen nach London.

In der Zeit, wo sie sonst für Hans genäht und geflickt hatte, malte sie nun lange Briefe an ihn. Sie erzählte, wie fürstlich es jetzt bei seinen Eltern zuginge. Sie riet ihm, vorsichtig zu sein in der Fremde. Sich nicht im Wagengedränge die Nase zu putzen, wodurch ein Hiesiger sogar neulich an der Kreuzung von Post- und Königstraße verunglückt sei. Sie bat ihn, nicht zu geschwind durch den Nebel zu laufen, er würde schon immer noch zurecht kommen. Sie erinnerte an die dicken Wollstrümpfe und gab ihm noch mannigfache Ratschläge, von denen sie annahm, daß sie in der ganzen Welt die gleiche Gültigkeit haben mußten. Diese Briefe trug sie selbst fort. Vor dem Brieflasten las sie noch einmal jeden Buchstaben der langen, fremdländischen Adresse nach, die sie nicht im Zusammenhang aussprechen konnte. Zögernd schob sie das Schreiben endlich durch den Kastenspalt. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und prüfte mit zugekniffenen Augen, ob der Brief auch nicht etwa hängen geblieben. Wenn sie sich überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, blieb sie noch eine Weile vor dem Kasten stehen, dachte, daß es doch wunderbar sei, daß das, was in diesem dunklen Loch lag, über Meer und Land bis zu Hans gelangen sollte, und ging endlich weiter. Schon nach einigen Schritten waren ihr eine Menge Dinge eingefallen, die sie noch hätte schreiben sollen. Und so waren ihre Gedanken schon bei dem nächsten Brief.

Spreemann klemmte auf diese vielen Bogen stets einen kurzen Gruß an. Manchmal fügte er auch eine geschäftliche Frage hinzu. Er war aber sehr zufrieden, daß Lieschen den Jungen alles wissen ließ, was hier vorging. Nur über Geschäftliches zu reden verbot er ihr.

Er hatte Pläne, über die er noch nicht debattiert haben wollte.

Eigentlich war es Herrn Slovitzkas Einfall. Aber Ideen greifen von einem zum andern wie ansteckende Krankheiten. Wenn sie zum Ausbruch kommen, kann man nicht sagen, wer sie zuerst gehabt.

So wußte man also nicht, wer zuerst den Gedanken gehabt hatte, daß Spreemann seinem Stoffgeschäft ein Schuhwarenlager angliedern sollte. Ein viertes Schaufenster würde angebaut werden, in dem nichts andres zu sehen sein sollte als der echte Slovitzkastiefel. Und das zu Weihnachten.

Zuerst quälten Spreemann viele Bedenken. Er schätzte seinen Nachbar sehr. Aber er war nicht sicher, ob sich seine Fabrikate mit dem Spreemannschen Grundsatz: Reell und billig, vertragen würden. Denn Spreemann führte immer noch solideste Ware und gab dem eigenen Vorteil nur dann und wann einen kleinen Stoß mit der Elle.

Da aber beim Schuhwerk der Profit eines vergessenen Zentimeters nur ein Hühnerauge war, mußte das glückliche Gedeihen des Freundes, das er ihm von Herzen gönnte, in der Qualität seiner Waren zu suchen sein.

Herr Slovitzka sagte, daß er seinen Freund weder drängen noch überreden wollte. Es würde ihm nur in die Seele schneiden, vollkommenen Fremden diese eminente Hebung des Berliner Geschäftslebens zu überlassen. Der fertige, immer bereite Stiefel war das Zeichen der neuen, geschwinder laufenden Zeit. Der schwerfällige Maßstiefel, auf den man tagelang warten mußte, gehöre der Vergangenheit an. Wohl dem, der dies wußte, ehe es offenkundig für alle war.

Außerdem konnte man dem Geschäft in Spreemanns Falle einen doppelten Boden geben. Slovitzka würde das Futter für die Stiefel bei Spreemann beziehen.

Da schlug sein Freund zwei Fliegen mit einer Klappe. Das war einleuchtend. Und – Neues mit Neuem verbindend, würde man versuchen, ein wenig Reklame in den Zeitungen zu machen. Auf Slovitzkas Kosten. Man könnte zum Beispiel eine Anzeige aufsetzen: Der echte Slovitzkastiefel – allein bei Spreemann am Dönhoffplatz. Da würde Spreemann seinen Namen jeden Morgen gedruckt neben der Kaffeetasse liegen haben. Er konnte ihn schwarz auf weiß an Hans schicken. Man würde auch in London begreifen müssen, daß Berlin kein Posemuckel war.

Das alles klang nicht übel. Den letzten Anstoß zum Sieg aber gab der Soldat.

Christian, der selbst beim Zusammenfalten der schwersten Popelinseide mit seinen Gedanken wo anders schien, zeigte für dieses neue Projekt das lebhafteste Interesse. Er war überzeugt davon, daß die nahe Verbindung mit Ilkas Vater glückbringend sein würde. Den Gedanken des Inserats fand er ausgezeichnet.

Slovitzka – Spreemann. – Es würde Aufsehen erregen. Wie eine Verlobungsanzeige.

Er wollte mit größter Freude die neue Abteilung leiten. Er würde Herrn Slovitzka zeigen, was zu leisten er imstande wäre.

Spreemann überlegte. Er sagte sich, daß das übergenaue Maßnehmen, das Christian sich wohl niemals abgewöhnen würde, hier sehr am Platze sein könnte.

Sein Eifer für die neue Sache war auch zu berechnen. Merkwürdig genug, daß sich der verträumte Junge gerade für Stiefel interessierte.

Auch Madame Lieschen unterstützte den neuen Plan. Sie war für jede Vergrößerung, die nach außen, nach dem Platz hinaus, nach den Leuten, ging.

So wagte es Spreemann.

Am Tage, wo der Weihnachtsmarkt eröffnet wurde, ging auch der Vorhang vor dem neuen Schaufenster in die Höhe.

Liebe und Freundschaft bewegen die Welt . . .

Der Slovitzkastiefel wurde der Weihnachtsstiefel. Er paßte auf jeden Berliner Fuß.

Es war erstaunlich, was Christian in den wenigen Stunden, die er vom Militärdienst erübrigte, auf seinem neuen Posten leistete.

Nach Schöneberg kam er garnicht mehr. Dazu fehlte die Zeit.

Aber am goldnen Sonntag kam die Müllerfamilie nach Berlin.

Sie gingen zuerst durch den ganzen Laden, befühlten das neue, rote Sammetsofa, wo man die Stiefel probierte. Und kamen dann in die Wohnung zum Kaffeetrinken.

Man sprach von Hans. Madame Lieschen las seine Briefe vor. In demselben feierlichen Ton, mit dem sie einmal im Waisenhaus die Bibel vorgelesen.

Die Müllerin mußte daher auch, genau wie in der Kirche, fortwährend gähnen. Der Müller bearbeitete nachdenklich seine Nase, und als Lieschen fertig war, sagte er zu seiner Frau:

»Hammelfleisch könntest du doch auch einmal machen. Alte. Mit kleinen Pilzen herum.«

Madame Lieschen faltete den Brief zusammen und dachte, daß es nichts Herzloseres gäbe als nahe Verwandte.

Dabei fiel ihr der Brief von Ilka ein, der heute gekommen war und viel von Mariechen enthielt.

Die Müllerleute hatten nichts dagegen, wenn sie ihn vorlas. Es konnte nichts schaden, wenn man ein wenig erfuhr, was draußen in der Welt vorging.

Ilka schrieb, daß der Dackel »Großfürst« verloren gegangen sei und Frau Mariechen für den dicken Hund volle hundert Mark Belohnung ausgesetzt habe. Alle Leute in Dresden suchten jetzt nach dem Dackel. Und es waren so viele Menschen mit Dackeln gekommen, daß die Polizei vor der Haustür Ordnung halten mußte. Unter den vielen Hunden war der »Großfürst« nicht herauszufinden. Frau Mariechen hatte Fieber und weinte Tag und Nacht, weil Gott alle Dackel gleichgemacht.

 

Die Müllerin nahm den lieben Herrgott in Schutz.

Sie, meinte, daß es schließlich seine Sache sei und er Hunden nicht solche Wichtigkeit beilegte, wie es Mariechen tat.

Der Müller lachte boshaft auf.

Er sagte, daß er sich freue, daß sich Mariechen so veredelt habe und garnicht mehr geizig sei. Für den Grabstein ihrer Mutter wollte sie durchaus nicht mehr als fünfzig Mark anwenden. Wie erfreulich, daß sie nun für ihren dicken Dackel einen Hunderter spendieren wollte.

Die Müllerin warf Madame Lieschen einen Blick zu.

So war es nun. Da hatte sie ein Beispiel.

Madame Lieschen nickte ihr verständnisvoll zu und bot dem Müller einen magenstärkenden Kümmel an.

Annalise hatte stumm und gleichgültig zwischen den alten Leuten gesessen. Sie hatte gehofft, daß Christian am Sonntag Zeit haben würde. Aber kaum, daß man ein wenig zu sprechen angefangen, war der Laden wieder voll von Menschen. Für Christian schien es nichts andres mehr auf der Welt zu geben als diesen Slovitzkastiefel.

Nur bei Ilkas Schreiben war sie ein wenig aufmerksamer geworden. Vor allen Dingen zum Schluß des Briefes. Denn der dicke Dackel war ihr ganz egal.

Richtig, da kamen viele Grüße für Christian. Gerade, als man schon dachte, daß das Geschreibsel glücklich zu Ende sei.

Auch hier zeigte sich Christians und Annalisens Sympathie. Er hatte ebenfalls nur auf diese Schlußworte gewartet, als er den Brief durchflog. Auch ihm war der dicke Dackel ganz egal.

Aber was den einen froh macht, grämt den andern.