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Spreemann Co

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Fünftes Kapitel

Wer stirbt, stirbt sich selbst.

Das einzig Gute an dieser unangenehmen Wahrheit ist, daß man sie nur an andern bestätigt sehen kann.

Madame Lieschen hatte sich überhaupt nicht vorstellen können, wie die Tage ohne Karoline weiter gehen sollten.

Bis sie eines Tages bestürzt bemerken mußte, daß dichter Efeu das Grab umspann und eisiger Winterwind darüber hinfegte.

Wo waren hie Tage geblieben? Sie waren rascher gelaufen als alle andern.

Tante Karolines kleiner Haushalt war von selbst zerfallen, als man daran zu rühren begann. Das wenige, das noch einigermaßen zusammenhing, hatte Mariechen nach Dresden genommen.

Madame Lieschen hatte sich darüber gewundert. Zumal das reiche Mariechen kinderlos war. Aber sie hatte zur Antwort bekommen, daß noch niemand auf der Welt zu viel besessen hätte.

Das mochte wohl richtig sein.

Nun war die Zigarettenfabrik schon im Schwung . . .

Ein großes Paket an die Zwillinge war der Beweis dafür gewesen. Die Jungen pafften wie Schornsteine und lobten Fabrik und Tante.

Madame Lieschen fand, daß dieser neumodische Artikel abscheulich roch und die frisch gestärkten Gardinen verdarb.

Jede Verwandtschaft hat ihre Schattenseiten.

Dagegen zeigte sich Herr Slovitzka als Freund und Nachbar. Er lud gern zu großen Braten mit guten Soßen ein und liebte es, sich zu einem reellen Sonntagskaffee anzumelden. Er erklärte, daß weder eine gehängte, noch eine ungehängte Mamsell jemals so vortrefflichen Napfkuchen zu backen verstände wie Madame Spreemann.

Komplimente sind meistens Grobheiten. Aber man nimmt sie nicht übel.

Auch am Stammtisch bei Klausings hatte Herr Slovitzka Platz und Stimme gefunden. Herr Spreemann war zufrieden, wieder einen Begleiter zu haben.

Ilka jedoch, die kleine, war bei Spreemanns heimisch geworden, wie ein Töchterchen. Die Zwillinge waren ihre Ritter. Hans besorgte ihr die Rechenaufgaben und Christian die Aufsätze.

Am liebsten saß Ilka am Fenster. Der immer rührigen Madame Lieschen gegenüber und vergnügte sich damit, die Vorbeigehenden auszulachen.

Madame Lieschen mißfiel es, daß Ilka stets mit leeren Händen dasaß.

Sie meinte, auch über eine Handarbeit hinweg könnte man alles sehen, was draußen vorginge. Das könne ihr Ilka getrost glauben. Eine künftige Frau dürfe nie müßig sein. Dann bekäme sie steife, kalte Finger, die, wenn sie einmal ein Mütterchen sein würde, nicht imstande wären, die Kinderchen zu streicheln und zu betten.

Darüber lachte Ilka, wie sie über alles lachte.

Sie sagte, ihr Papa hätte ihr versprochen, daß sie einmal eine ganz feine Dame sein würde. Sie würde niemals nötig haben, ihrem Manne die alten Strümpfe zu stopfen.

Und sie lachte über Madame Lieschens Hände hinweg, die, schon ein wenig krumm und faltig, ein großes Loch in Hansens Strumpf überbrückten und durchfädelten.

Auch Madame wollte Ilka nicht genannt werden. Das roch nach Kochtopf. Gnädige Frau würde man sie nennen müssen. In Böhmen sage ein jeder so.

»Das wär mir schenierlich,« erwiderte Madame Lieschen und sah erstaunt auf das junge Ding, das sich lächelnd in der Fensterscheibe spiegelte.

Sie nahm dem Kinde nichts übel. Oft war sie zufrieden, daß Ilka nicht wirklich ihr Töchterchen war, und manchmal bedauerte sie es. Das viele Lachen durchwärmte Winter und Haus.

Spreemann war weniger nachsichtig. Die flinken Mädchenblicke nahmen ihm die Gemütlichkeit. Er nannte Ilkas Lachen Gegacker und lutschte in ihrer Anwesenheit stets in brummigem Schweigen an seiner Bärenpfeife.

Wunderlicher aber war, daß die übermütige Ilka sofort unwirsch und trotzig wurde, sobald der blonde Christian ins Zimmer trat.

Nur mit sehr kühler Gnade überließ sie ihm die Ausführung ihrer Schularbeiten, und während sie sich mit Hans aufs beste vertrug, widersprach sie Christian, sobald er seinen Mund auftat.

Als Madame Lieschen sie nach dem Grund ihres wunderbaren Betragens fragte, sagte sie achselzuckend, daß sie die Blonden nun einmal nicht leiden könne. Die erinnerten sie an saures Weißbier.

Christian, der es hörte, lachte laut auf und sagte, daß es ihm ganz ähnlich ginge. Er könne die Schwarzen nicht leiden, denn die glichen der galligen Tinte.

Madame Lieschen ermahnte beide, sich nachbarlicher auszudrücken.

Als man ins neue Jahr kam, klirrten Frost und Schlittschuhe. Die Zwillinge kannten es nicht anders, als sich auf künstlich zu Eisbahnen erhobenen Bauplätzen auszutoben. Da zahlte man einen Groschen Eintritt und konnte sich amüsieren, so viel man wollte.

Aber Ilka rümpfte ihr kurzes, flawisches Näschen. Sie war gewohnt, nach der Rousseauinsel im Tiergarten zu gehen, wo man zwischen Pelzen und Uniformen lief.

Einem Anlaß zum Vornehmsein soll man nicht ausweichen.

Die Zwillinge begleiteten Ilka. In kurzen Joppen von englischem Stoff und Berliner Schick. Mit Mützen und Kragen aus beinahe echtem Pelz.

Auf Ilkas Rabenhaar saß ein Hermelinkäppchen, zu dem eine weiße Muffe paßte, in der außer den runden Mädchenhänden stets eine Bonbontüte steckte. Den Transport ihrer blanken Schlittschuhe überließ Ilka ihren Begleitern.

Madame Lieschen, die außer ihren großen Jungen auch Militärmusik liebte, legte sich Filzsohlen in die breiten Stiefel und wanderte, ebenfalls mit Pelz belastet, vorsichtig übers Glatteis dem Tiergarten zu.

Auf verschneiten Wegen, dicht am Rand der gefrorenen Wasserläufe, spazierte sie langsam auf und ab. Sie freute sich an den bunten Fähnchen, beobachtete das gut gekleidete Publikum, genoß die Musik von des Königs Soldaten und roch den gemütlichen Schmalzduft backender Pfannkuchen. Breit und stolz nickte ihr frohrotes Gesicht, wenn aus der eleganten Menge zwei flotte Jünglinge grüßten, die mit verschränkten Armen übers Eis sausten, ein höheres Töchterchen zwischen sich.

Am Abend, wenn Madame Lieschen wieder vor dem großen Korb mit der auszubessernden Wäsche saß, schalt sie sich faul und vergnügungssüchtig. War sie ärgerlich, mitten am hellen Wochentag, die Hände müßig in der Muffe, bei Musik herumspaziert zu sein.

Aber am andern Tag war sie doch wieder unterwegs.

Von ihrem Beobachtungsposten aus kannte sie nun schon manchen Eisläufer wie einen guten Bekannten.

Es machte ihr Spaß zu sehen, ob die hohe schlanke Dame, die stets mit dem roten Husarenleutnant lief, heute ihr grünes oder ihr braunes Kostüm tragen werde. Ob das junge Mädchen, das immer ganz himbeerrot wurde, wenn sie der Herr im gefütterten Pelzjackett grüßte, vielleicht heute schon als Braut mit ihm scherzen würde.

So naschte man kleine Freudenrosinen aus dem Brotteig des Alltags. Und nicht nur hier.

Herr Slovitzka war im Schauspielhause abonniert. Sobald ein klassisches Stück gegeben wurde, bat der liebenswürdige Nachbar Madame Spreemann, seinen Platz neben Ilka zu übernehmen.

Da hatte Madame Lieschen häufig Gelegenheit, das Schwarzseidene aus dem Schrank zu nehmen.

Vorsichtig setzte sie sich auf die roten Plüschsessel.

»Alles königlich hier, mein Kind,« sagte sie zu der zierlich geputzten Ilka.

Diese aber äugte zur Galerie hinauf, wo ihre Ritter, die Zwillinge, standen.

Manche Szene wurde zu Haus mit verteilten Rollen wiederholt. Den Monolog der Jungfrau konnte Madame Lieschen auswendig. Und am Ende des Winters sprach sie von Schiller mit der gleichen nachbarlich nahen Vertrautheit, wie von Herrn Slovitzka und dem Kaufmann an der Ecke.

Leider teilte Spreemann ihr Entzücken in keiner Weise. Er hatte keinen Sinn für Kunst. Er nannte es geschwollenes Zeug.

Umsonst sagte ihm Lieschen eines Sonntags den ganzen Monolog der Jungfrau und noch manches andre auf.

»Ihr Wiesen, die ich wässerte,

Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl,

Johanna wird nun nicht mehr auf euch weiden,

Johanna sagt euch ewig Lebewohl.«

Tränen rollten aus Madame Lieschens Augen.

Spreemann aber zog ungerührt an seiner langen Pfeife, und als Madame Lieschen endlich atemlos war, sagte er, daß er nichts Schönes daran finden könne, wenn ein junges Mädchen die Wiesen wässere. Überhaupt: ein weibliches Wesen, das Soldat werden wollte. Sie sollte Gott danken, daß sie es nicht nötig hatte.

Und damit war Spreemann bei dem angelangt, was seine eigenen Gedanken beschäftigte. Bei dem Soldatenjahr seiner Jungen.

Er hatte herausgefunden, daß man den Frieden nützen müßte, so lange er da war. Je früher die Jungen in den Soldatenrock rutschten, um so schneller würden sie auch wieder heraus sein. Eine Weile lang würde es nun still bleiben müssen, nach zwei solchen siegreichen Kriegen. Sobald aber Gewehr und Flinte wieder am Nagel hingen, würde man auf das alte Firmenschild ein Co. setzen. Jawohl. Im Jahre 1870, wenn die Jungen dem Gesetz nach mündig wären, sollten sie es auch im Leben sein. Wenn jung gefreit gut sein sollte, war jung selbständig zu werden, gewiß noch besser. Und dann mochte das Geschäft sich dehnen so viel es wollte. Sechs Augen sehn mehr als zwei. Sie würden genug sehn.

So schwatzte Spreemann endlich einmal seine geheimsten Gedanken aus. Statt der erloschenen Pfeife brannten zwei Herzen.

»Nun, klingt das nicht hübscher als alle Poesie?« fragte Spreemann am Schluß seiner Rede und rieb sich lächelnd die rheumatischen Hände.

»Spreemann und Co.,« sagte Lieschen im langsamen Schiller-Ton.

Der Schritt von Poesie zur Prosa ist lange nicht so weit, als man glaubt.

Sechstes Kapitel

So leichtfüßig wie seine Wünsche ist niemand. Es sei denn, daß jemand sich selbst vorausspringen könne. Was schwierig scheint.

Immerhin waren Spreemanns Pläne schon so weit gediehen, daß man sie bei allen Mahlzeiten besprach.

Ilka meinte, daß Hans und Christian als Soldaten jeden Morgen an ihren Fenstern vorüberreiten und hinaufgrüßen müßten.

 

Als sie hörte, daß man zu Fuß marschieren müsse, war sie sehr enttäuscht.

»Zu Fuß? Pfui!« rief sie.

Hans meinte, daß sie doch stolz sein solle, daß sie die Rappen aus ihres Vaters Ställen reiten würden.

Da lachte sie.

Auch Spreemann lachte. Der Junge hatte auf alles die rechte Antwort.

Ob Christian von alledem etwas hörte, wußte man nicht. Er war nicht gesprächig. Wenn er wieder eine Frage überhört hatte, riefen Hans und Ilka:

»Christian ist in Schöneberg.«

Der Grund zu dieser Neckerei war, daß sich Christian mit den Schöneberger Verwandten angefreundet hatte und viele Sonntage bei ihnen verbrachte.

Ein Vergnügen, das ihm keiner mißgönnte und niemand streitig machen wollte.

Denn in der Mühle herrschte ein dumpfes, gehässiges Schweigen. Wer eintrat, bekam etwas Unangenehmes zu hören. Der Müller war alt vor der Zeit geworden. Sein einziger Sohn war im Kriege gefallen. War fortgezogen, und niemand hatte ihn wiedergesehen. So glaubte er sich um alles Glück und Gedeihen betrogen. Trotzdem er eine Tochter hatte, die sechzehnjährig war.

Aber Christian war gern dort. Die weiten Wiesen und das Surren der Mühlenflügel gefielen ihm. Auch die blonde Annalise. Sie war stets traurig, aber wurde froh, wenn er kam. Sie war ganz das Gegenteil der schwarzen Ilka.

Weithin gehörten die Felder dem Müller. Wenn er ein Spargeld zusammen hatte, kaufte er ein neues Wiesenstück dazu.

Er wollte sehen können, was er besaß. Der Geldschrank war ihm zu finster.

Seine Verwandtschaft spottete, daß er Sümpfe sammle.

Nur Christian lobte die Wiesen. Wenn sie grün und wenn sie weiß waren. Das brachte eine gewisse Eintracht zwischen ihn und den knurrigen Müller.

»Vielleicht nehmen sie nur Hans zu den Soldaten,« sagte Annalise, hob die Augen von der Häkelarbeit und sah über die Wiesen und Tausendschönchen.

Christian antwortete, daß dies eine rechte Freude für Ilka sein würde, die er ihr nicht gönnen möchte.

»Sorgt auch sie sich um dich?« fragte Annalise sehr eilig.

»Sie würde mich auslachen,« sagte Christian. »Angst kennt sie nicht.«

Er wurde redselig und erzählte vieles von Ilkas Keckheit.

»Sprich nur,« sagte Annalise. »Es ist gesund, wenn man sich Unangenehmes vom Hals redet.«

Und Christian sprach von Ilka, bis alle Felder im Abendrot standen und er eilig Abschied nehmen mußte. Ilka mußte ihm wirklich ganz besonders unangenehm sein . . .

»Wenn sie nur einen nehmen würden . . .«

Auch in andern Köpfen war dieser Gedanke schon aufgesprungen.

»Einen? Aber wen? Man hatte doch jeden so lieb wie den andern.«

Nur eins war merkwürdig, man konnte sich einen blonden Soldaten nicht so deutlich vorstellen als einen brünetten.

Es sind nicht immer die andern, die uns betrügen . . .

Aber besser ist, man weiß, was man will.

Hans litt an keinem Zwiespalt.

Er sagte sich, daß es doch wieder Krieg werden könne und eine Kanonenkugel viel unangenehmer sein könne als Ilkas spitzester Spott. Und wenn auch nicht jede Kugel treffen würde, denn wo gibt's ein Geschäft, wo alles reüssiert – man konnte trotzdem nicht wissen, was einem geschehen könne. Es war kein Handel, der sich berechnen ließ.

Unsichere Abschlüsse aber liebte Hans nicht. Es war Tradition in ihm . . .

So plante und vermutete sich jeder auf seine Weise durch die Zeit der Erwartung.

Und eines Tages war die Entscheidung da.

Spreemanns saßen wieder um den Abendtisch, über dessen weißem Tuch die Lampe klar und gleichmäßig wie immer brannte. Man aß Rührei und Bückling, wie man es in jeder Woche einmal gewohnt war. Aber heute wußte man plötzlich, daß der blonde Christian Soldat werden würde. Hans aber wegen Weitsichtigkeit dienstfrei geworden.

Ilka, die schon oben mit ihrem Vater gespeist hatte, schwippte zwischen ihnen auf einer Stuhllehne und äugte mit schrägem Kopf nach Christian.

Den ganzen Tag lang umsummte sie heute das Stück eines Liedes: »Und alle Mädchen freuen sich, wenn die Soldaten kommen,« rauschte es beständig in ihre rosa Ohrmuscheln.

Aber die blonde Schmachtmamsell in Schöneberg würde gewiß Tränchen weinen, daß eine ganze Kommission Christian wert befunden hatte, ein Beschützer des Vaterlandes zu werden.

Christian kaute das Rührei, wie wenn es Steine wären. Er sah vor sich hin. Natürlich dachte er an sie und war in Schöneberg.

Jetzt drehte er doch den Kopf. Kaum, daß Ilka noch Zeit fand, ihre Blicke geschwind auf Hans zu richten.

Christian wendete seine Augen langsam wieder fort. Er hatte sich von etwas überzeugt, das er vorher gewußt hatte. Daß es für Ilka nur Hans gab.

Spreemann und Lieschen hatten viel mit Hans zu reden.

Sie waren über alle Maßen erstaunt. Sie hatten gar keine Ahnung gehabt von dieser sonderbaren Eigenart ihres Sohnes Sehkraft.

Hans meinte, daß man früher doch keinerlei Gelegenheit gehabt, dies zu bemerken. Alles muß sich schließlich einmal zum erstenmal zeigen.

Sie fragten, ob er nicht eine Brille brauchen werde.

Er war der Ansicht, daß es auch ohne eine solche gehen würde. Genau wie er doch bis heute keine nötig gehabt hätte.

»Bist du froh, daß du frei bist?« fragte Ilka.

»Es paßt zufällig in meine Pläne,« antwortete Hans. »Ihr werdet staunen, was ich vorhabe. Papa soll nicht umsonst vorgebaut haben.«

Madame Lieschen sah von ihm zu Spreemann und fand, daß sich Vater und Sohn ähnlich sahen wie Brüder.

Spreemann aber sagte, daß Hans nicht immer so laut zu sprechen brauche, er sei noch nicht taub. Und dann meinte er, daß »vorgebaut« doch ein etwas schwacher Ausdruck in diesem Falle sei. Hans könne wohl dreist aufgebaut sagen. Hans lächelte. Er öffnete den Mund, wie wenn er reden wollte, aber dann schwieg er.

Madame Lieschen, die ihn beständig beobachtete, weil sie seinen Augen gern das Besondere angesehen hätte, fand die Ähnlichkeit mit dem Vater in diesem Augenblick noch mehr verschärft. Der Junge hatte genau das gleiche Lächeln unter den Augen, das sie bei Spreemann gekannt hatte, als die Jungen klein waren und Dummheiten machten.

Wovon hatte man denn eigentlich gesprochen? Bei aller nachdenklichen Beobachtung hatte sie wieder ganz vergessen zuzuhören.

Mit verlegenem Lächeln bot sie noch einmal das Rührei und den Bratfisch an. Aber alle dankten.

»Bist du bange, weil du Soldat werden sollst, mein kleiner Christian,« tönte Ilkas Stimme scharf in das Schweigen.

Christian hob ruhig den Kopf und lächelte.

»Froh bin ich,« sagte er. »Wie schön muß es sein, stundenlang auf der Landstraße zu marschieren, weit hinaus – weit – weit – alles hinter sich – und bei jeder Ecke um die man biegt – Neues – Unbekanntes vor sich.«

Spreemann, der gerade seine Pfeife anzünden wollte, zog sie erstaunt wieder aus dem Mund. Die Hand um den schwarzen Bären, der mit dem Halsring am Pfeifenkopf klebte, dachte er:

»An wen erinnert der Junge nur jetzt? . . .«

Siebentes Kapitel

Jede Tat zeugt neue Taten. Es gibt keinen Stillstand.

Die Weitsichtigkeit von Hans wirkte weiter. Sein Blick blieb in die Ferne gerichtet. Lief bis über die Grenzen des Vaterlandes.

Sein Vater sollte nicht umsonst gespart haben. Er hatte eine Verwendung gefunden für jene Reservekasse, die seinem Dienstjahr bestimmt gewesen. Auch dieses Kapital sollte Zinsen tragen. Er wollte an die Quelle aller Geschäftstüchtigkeit reisen. Er wollte nach London. Um dem Leben und Handel der Welt einmal auf die Finger zu sehen.

Als Spreemann zum erstenmal davon hörte, nahm er die Brille ab, die er seit Wochen trug und die ihn noch drückte.

Denn im Gegensatz zu Hans war er ein wenig kurzsichtig geworden.

Sorgfältig putzte er die neuen Augengläser mit seinem großen Taschentuch aus türkischer Seide. Aber er folgte dabei der schnellen Rede seines Sohnes aufs genauste.

Hans ließ ihm nicht viel Zeit zur Zwischenrede. Die Worte überstürzten sich.

Aber als Spreemann die Weite des Reiseziels erfuhr, unterbrach er doch den geschickten Redner.

»Nach England,« fragte er. Er hielt mit Putzen inne und sagte, wenn er sich nicht irre, liege da sogar ein Stück Meer dazwischen.

Hans machte eine abweisende Handbewegung und sagte, daß diese paar Salztropfen nicht der Rede wert wären. Wenn man erst reise, sei es gleichgültig ob der Weg einige Meilen mehr oder weniger betrage. Da dürfe man nicht so ängstlich messen. Die Hauptsache sei, daß man auf den richtigen Punkt in der Welt käme. Und er begann London zu preisen, die Königin des Handels, die Hauptstadt der Welt. Mit ihr verglichen sei Berlin ein Dorf.

Spreemann hatte die Brille wieder aufgesetzt. Aber er schaute über die Gläser hinweg.

Daß man Berlin ein Dorf nannte, nahm er nicht schweigend hin.

Er sagte, wer seine Vaterstadt nicht achtet, beschmutze sich selbst. Und sein eigen Tuch solle man nicht mit fremden Ellen messen.

Hans meinte, man müßte mit allen Ellen messen können. Und je mehr Berliner das einsehen, um so rascher würde Berlin eine Großstadt sein. Und nicht nur so tun, wie wenn es eine wäre.

Spreemann schüttelte den Kopf. Er erinnerte Hans an die neuen Pferdebahnen, sagte ihm, daß man doppelt soviel Droschken hätte als vor kurzem. Daß man Gas brannte, statt Funzellampen, daß sogar Wasser aus der Wand in die Töpfe liefe, und suchte und fand noch die verschiedensten Vorzüge ihrer Vaterstadt.

Hans lachte zu allem und sagte dann versöhnlich, daß sie sich darum nicht streiten wollten, denn der Vater sollte ja nicht Berlin auf Reisen schicken, sondern nur einen einzigen Berliner.

Spreemann hatte immer genug Verstand gehabt, um sich vor Tatsachen zu beugen. Er sah ein, daß dieser Plan seines Sohnes schon eine halbe Tat war, die er im Innern sogar billigen mußte. Denn er war überzeugt davon, daß der rasche Junge denen da draußen manches Neue abgucken würde. Das Geld dazu war ja da. Auch darin hatte der Junge recht. Und noch eins kam dazu. Man schob die große Umwälzung noch ein wenig hinaus. Er hatte sich das in früheren Jahren alles ruhiger und behaglicher vorgestellt. Wie eben alles leichter erscheint, solange es noch nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Mochte der Junge seinen Willen haben.

Hans quittierte des Vaters Einwilligung mit einer herzlichen Umarmung. Fest drückte er den kleineren Vater an sich.

Spreemann aber dachte in dieser festen Umklammerung, wie merkwürdig es war, daß dieser große Kerl damals so viel Mühe hatte, die ersten kleinen Zähnchen zu kriegen.

Und dabei fiel ihm Lieschen ein.

»Aber was wird Mama dazu sagen?« fragte er, als ihn Hans wieder frei gab.

Hans räusperte sich.

»Du teilst es ihr wohl bald mit,« sagte er dann.

Spreemann schüttelte energisch den Kopf.

»Das ist deine Sache, mein Junge. Deine Idee, dein Plan, deine Freude.«

Hans jedoch wollte dem Vater nicht zuvorkommen. Was ihm dieser aber durchaus gestatten wollte.

Diesen hochgemuten Wettstreit unterbrach Madame Lieschen in eigener Person. Ganz ahnungslos.

Als sie noch auf der Schwelle war, sagte Hans, daß der Vater ihr etwas zu erzählen habe. Und rasch und bescheiden war er aus dem Zimmer gegangen.

Spreemann rief, daß das ein Irrtum sei und ihr Hans eine hübsche Neuigkeit zu berichten hätte. Aber als er hinaus wollte, um den Jungen einzuholen, trat sein Nachbar Slovitzka in die Türöffnung. Er kam zum Sonntagskaffee.

Als er von der erregt gewordenen Madame Lieschen hörte, daß hier eine wichtige Mitteilung bevorstände, kam er noch rascher hinein und sagte, wie gut, daß kein Fremder hier sei, da konnten sich die Herrschaften ganz ungeniert aussprechen.

Und er setzte sich erwartungsvoll vor den unangeschnittenen Napfkuchen.

Spreemann begann zu sprechen.

Was er geahnt hatte, traf ein. Bei dem Wort London brach Lieschen in Tränen aus. Sie hatte nicht vergeblich die Schularbeiten der Jungen Jahre hindurch überwacht. Sie wußte auch um das Stück Meer. Sie aber nannte die paar Salztropfen, die Hans als nicht der Rede wert erklärt hatte: den schauerlichen Ozean. Und eine Flut von Salztropfen entströmte ihren Augen. Sollte sie, die schon auf der stillen heimatlichen Spree den einzigen Vater verloren hatte, etwa keinen Abscheu vor dem fremden, tiefen Meere haben?

Es war begreiflich. Aber auch das Begreifliche kann uns erschrecken.

Spreemann sah sich bestürzt im Zimmer um. Bis jetzt hatte er die ganze Angelegenheit nur von der geschäftlichen Seite betrachtet. Es wurde ihm schwül und übel, als Lieschen jetzt alle die Gefahren aufzählte, die Hans bedrohten.

Zuerst würde er auf der Eisenbahn mit einem Güterzug zusammenstoßen. Und nachdem er auf dem rasenden Weltenozean Schiffbruch erlitten, würde er in dieser fremden, großen und furchtbaren Stadt, wo immer eine Epidemie herrschte, krank liegen, ohne irgend jemanden zu haben, der ihn pflegen konnte. Zu alle diesem kam hinzu, daß in dieser Stadt stets ein dichter Nebel wogte, so daß man nicht eine Handbreit vor Augen sehen konnte. Es also klar wie der Tag war, daß sich der Junge schon sofort nach seiner Ankunft in das berühmte Verbrecherviertel verirren würde, woraus kein Fremder lebendig zurückkehrt.

 

Spreemann tupfte sich mit dem Buntseidenen die Stirn. Alles das, war gräßlich anzuhören. Es ging einem durch Mark und Bein. Außerdem erinnerte ihn Lieschens langgezogenes Schluchzen an Tante Karolines Beerdigung.

Zum Glück war Herr Slovitzka da.

Er unterbrach Lieschen endlich. Er sagte, daß Madame Spreemann zu schwarz sehe. Er gebe zu, daß auch nur eins von den aufgezählten Unglücken ausreichen würde, um jemandem das Reisen zu verleiden. Aber er müsse doch dem jungen Burschen recht geben. Bewegung muß sein. Die Weltkugel selber gebe uns dazu ein Beispiel.

Madame Lieschen sagte, daß diese Weltenkugel sie ganz und garnichts angehe und Herr Slovitzka das Gespräch nicht auf Nebensächlichkeiten ablenken solle. Hier handle es sich um Hans.

Sie riß das Taschentuch von den Augen, sah Spreemann mitten ins Gesicht und sagte, daß Spreemann, dessen Ruhm als Geschäftsmann sie gewiß nicht schmälern wolle, weich wie geschmolzene Butter würde, sobald die Jungen mit einer Bitte kämen. Wenn sie das Kreuz von der Petrikirche haben wollten, würde er versuchen hinaufzuklettern.

Aber nun begann auch Spreemann sein geängstigtes Herz zu erleichtern.

»Ich,« rief er, »ich?«

Und er schrie Lieschen zu, daß sie nicht nur wie geschmolzene Butter, sondern wie flüssigster Honig werde, sobald einer der Jungen ein Anliegen habe. Sie war es gewesen, die ihnen Bartbürsten an den Weihnachtsbaum gehängt, als noch kein Schnurrbarthärchen um die Milchmäuler sprießte. Sie säumte und stickte ihnen Schnupftücher aus holländischem Leinen, als ob sie sich vor dem Könige selber schneuzen sollten. Selbst aber schien sie keine Nase mehr zu haben, wenn am Abend, sobald die Herren Söhne im Schlafzimmer verschwunden waren, ein Zigarettenqualm durch die Wohnung zöge, wie wenn eine Papierfabrik in Brand stehe. Und genau so, wie sie das Riechen vergessen konnte, war sie auch auf einmal taub auf beiden Ohren, wenn die Bürschchen viel später nach Haus kamen, als man ihnen erlaubt hatte. Es war merkwürdig, wie fest sie dann immer geschlafen hatte.

Er mußte eine kurze Pause machen, um nach einer neuen Untat Mutter Lieschens zu suchen.

Aber die praktische Hausfrau nutzte den Augenblick. Sie sagte, daß Spreemann sich selbst in den Spiegel sehen sollte. Wer hatte den Jungen, kaum, daß der Wunsch nur aufgeflogen war, die ersten Spazierstöcke geschenkt? Mit silbernen, echt silbernen Krücken, während sein eigener nur einen Mopskopf aus Nickel habe. Wer gab ihnen an jedem Sonn- und Feiertag Urlaub nach Belieben? Während man selbst die schönsten Sonnenstunden hinter dem Ladentisch stand und sich niemals Ruhe gönnte? Wer steckte ihnen bei jedem Spaziergang noch heimlich Extragroschen zu, als ob sie zu Hause Hunger leiden müßten? Warum schalt man auf das Rauchen, wenn man zum Geburtstag die reizendsten Zigarettenetuis verschenkte? Und wer hatte ihnen die Taschenuhren gekauft, als sie noch in den Windeln lagen? Wer?

Spreemann hatte inzwischen vergeblich versucht, wieder zu Worte zu kommen.

Herr Slovitzka drehte schon lange an seinem schwarzgewichsten Schnurrbart. Zuerst hatte ihm diese eheliche Differenz Spaß gemacht. Aber auf die Dauer war das kein Sonntagsvergnügen. Und als er jetzt das Wort Windel fallen hörte, sagte er sich mit Schreck, daß dieser Kampf noch lange dauern könne. Denn die Jungen waren bald zwanzig Jahre aus diesen Windeln heraus.

Seine Unruhe war nicht unberechtigt. Klaus und Lieschen hätten sich noch viele Stunden hindurch vorwerfen können, was alles sie an Liebe diesen Zwillingen erwiesen hatten. Denn es war ihnen nicht anders gegangen als andern Eltern.

Auch das Normale kann manchmal wunderhaft scheinen.

Aber gerade, als Spreemann behaupten wollte, daß Lieschen überhaupt nur noch die Lieblingsgerichte der Jungen koche, stürmten die Streitobjekte selber dazwischen.

Ilka, die ihnen voransprang, wollte wissen, ob es wahr war, was ihr Hans eben erzählt habe. Oder ob er geflunkert. Was ihr wahrscheinlicher schien.

»Nun, also verbiete es ihm,« sagte Spreemann zu Lieschen. »Wiederhole ihm, was du uns soeben aufgezählt hast.«

Hans hatte sich schnell auf die Armlehne von Lieschens Sessel geschwungen. Er schmiegte seinen schwarzen Kopf an der Mutter Schulter und sagte:

»Willst du mir wirklich meinen sehnlichsten Wunsch verbieten, mein Mütterchen? Das glaub ich nicht.«

»Ist es dir denn wirklich ernst mit dieser fürchterlichen Reise, mein Junge?« fragte Lieschen zaghaft.

Und wenige Minuten später sprach man schon, wie der neue Koffer beschaffen sein müßte. Aus den Tassen dampfte endlich der angenehme Duft des Kaffees.

Ilka besah sich Hans heute ohne alle Umwege.

Genau so würde er also in seiner Tasse rühren und Kaffee trinken in London an der Themse. Alle um ihn herum würden englisch sprechen. Kleine Kinder, alte Männer, Frauen, Schutzleute, Kutscher. Überhaupt alles.

Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Christian. Er lächelte sie an. Denn in den letzten Tagen hatten sie sich besser vertragen. Die Rose, die sie in der Hand hielt, war von ihm. Der Reiseplan seines Bruders gefiel ihm und stimmte ihn froh. Er gönnte Hans jede Freude. Aber diese weite Reise ganz insbesondere.

Ilka hatte sich schon zu Hans zurückgewandt. Es war ganz nett, daß Christian Soldat werden sollte. Aber es gab in Berlin gewiß viel mehr Männer, die Soldaten waren, als solche, die quer über den Globus nach London fuhren . . .

Als man den Tisch verließ, blieb Christians Rose zwischen den Kaffeetassen und Kuchenkrümeln.

Man wollte einen Spaziergang nach dem Goldfischteich machen. Es hatte in der Zeitung gestanden, daß dort eine Nachtigall niste, die in der Dämmerstunde lieblich singe. Man wollte sie hören. Nicht allein, weil man Gesang liebte, sondern weil man recht haben wollte. Denn in Herrn Slovitzkas neumodischem Blatt – er war leider kein Leser der ehrlichen alten Privilegierten – hatte man geschrieben, daß die Nachtigall eine Zeitungsente sei. Diesem zoologischen Zwiespalt wollte man auf den Grund gehen.

Unter den grünen Bäumen des immer sauberer gewordenen Tiergartens spazierte in dem milden Abendschein des Sommertages alles, was Sonntagskleider hatte. Mancher Stoff kam Herrn Spreemann bekannt vor, und oft mußte man grüßen.

Am Goldfischteich aber war ein dichtes Gedränge. Die Zeitungsleser waren deutlich in zwei Parteien getrennt. Die einen horchten mit auf die Schulter geneigtem Kopf nach den Baumwipfeln. Die andern stocherten gefühlsroh mit ihren Spazierstöcken im Buschwerk herum. Gesang hörte man nicht.

Es sah ganz so aus, wie wenn die Neumodischen wieder recht bekommen sollten.

Möglich, daß der kleine Vogel irgendwo im Gezweig saß und schadenfroh auf die vielen Köpfe blickte. Vielleicht tat er sogar noch mehr, als nur harmlos auf alle herabzustarren? Vielleicht war es ihm auch noch nicht dunkel genug? Berühmte Sänger haben ihre Launen. Jedenfalls schien dieser kleine Piepmatz den unprivilegierten Berlinern zu einem Siege verhelfen zu wollen. Daß sie ihn dafür eine Ente nannten, bezeugte nur den bekannten Undank der Welt.

Aber wenn sich verschiedene Parteien auch über alles zu streiten vermögen, eins war hier sicher: man hörte nichts von Vogelsang. Nur die Spatzen zeterten, hoch erfreut über den vielen Besuch. Und die gelbroten Goldfische standen stumm und sonntagsfett im trüben Wasser.

Da man sich nun einmal für ein Konzert bereit gehalten, ging man nach dem Türkischen Zelt zur Militärmusik.

Man saß um einen Tisch, der so dicht neben der großen Pauke stand, daß keine Unterhaltung möglich war. Aber man entbehrte nichts.

Spreemann hatte die Nachtigallensache schon vergessen. Er rauchte eine dicke Zigarre. Zum erstenmal war seine Pfeife zu Haus geblieben. Er fühlte sich im Strom der neuen Zeit. Der eine Sohn beinahe Soldat. Waffenbruder mit diesen dort, die allen Leuten hier das Sonntagsvergnügen bliesen. Der andre bereit, eine Weltreise anzutreten.