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Corona Magazine #355: Dezember 2020

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From the series: Corona Magazine #355
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Kommentar: Rosemaries Baby oder: Mehr als nur ein Horrorfilm

von Sabine Walch

Wer kennt ihn nicht, einen der Horrorklassiker schlechthin: Rosemaries Baby – ein US-amerikanischer Gruselfilm von Roman Polanski (Tanz der Vampire) aus dem Jahre 1968. Die Vorlage dazu bildete Ira Levins gleichnamiger Roman.

Der Film beginnt, als Rosemarie (Mia Farrow, Hannah und ihre Schwestern) und Guy Woodhouse (John Cassavetes, Teufelskreis Alpha), ein junges kinderloses Ehepaar, eine Wohnung für sich suchen. Zu diesem Zweck besichtigen sie im Zentrum von New York eine Mietwohnung im siebten Stock des Bramford-Hauses. Rosemarie gefällt die geräumige Wohnung sehr gut, während Guy weniger begeistert ist. Edward »Hutch« Hutchins (Maurice Evans, Planet der Affen), ein Freund der beiden, kann nichts Gutes über das Haus berichten, sei es doch in der Vergangenheit dort zu einigen mysteriösen Todesfällen gekommen. Trotzdem nehmen die beiden Verliebten letzten Endes die Wohnung.

Gerade eingezogen, trifft Rosemarie in der Waschküche eine junge Frau in ihrem Alter. Die ehemals drogensüchtige Terry (Victoria Vetri, Flucht nach San Diego) erzählt ihr, dass sie im selben Stock bei einem älteren Ehepaar wohnt. Minnie (Ruth Gordon, Harold und Maude) und Roman Castevet (Sidney Blackmer, Die oberen Zehntausend) habe sie viel zu verdanken, da diese sie von der Straße geholt hätten und wie eine Tochter behandeln würden. Sie zeigt Rosemarie einen wunderschönen Anhänger, den sie von den Castevets geschenkt bekommen hat, der aber mit einem stinkenden Kraut gefüllt ist.

Die neue Bekanntschaft währt nicht lange, da Terry bei einem Sturz aus dem Fenster ums Leben kommt. Die Polizei versucht, bei einer Zeugenbefragung Näheres über die Todesursache zu erfahren – hierbei treffen Rosemarie und Guy auf die sonderbaren Castevets.

Obwohl Guy weniger begeistert ist, nimmt das Paar eine Einladung der neugierigen Nachbarn an. Entgegen seiner anfänglichen Vorbehalte freundet sich Guy jedoch mit den beiden an, wohingegen Rosemarie die aufdringliche Minnie unangenehm ist.

Guy, der sich bisher mehr schlecht als recht als Schauspieler verdingt hat, bekommt eine begehrte Rolle, als der ursprünglich dafür vorgesehene Schauspieler unerwartet erblindet. Aufgrund dessen hat er allerdings nicht mehr viel Zeit für seine Frau, der er vorschlägt, nun doch ihr lang ersehntes Kind zu bekommen. Ein romantisches Abendessen der beiden wird von Minnie gestört, die Mousse au Chocolat vorbeibringt. Obwohl die Schokoladencreme Rosemarie nicht schmeckt, isst sie ein wenig davon. Da ihr jedoch schlecht davon wird, legt sie sich zum Schlafen hin.

Der folgende »Traum«, in dem Rosemarie vor den Augen ihres Mannes, der Castevets und weiterer Personen von einem dämonischen Geschöpf vergewaltigt wird, lässt sie am nächsten Morgen mit blutigen Kratzspuren an ihrem Körper aufwachen. Guy erklärt ihr lachend, dass sie bewusstlos war und er ihre fruchtbaren Tage nicht verstreichen lassen wollte, so dass er Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt habe. Rosemarie ist entsetzt, unternimmt aber nichts weiter.

Bei einer Untersuchung ihres Frauenarztes Dr. Hill (Charles Grodin, Liebling, hältst Du mal die Axt?) erfährt sie, dass sie schwanger ist. Ab hier spitzen sich die Ereignisse immer weiter zu, bis Rosemarie letzten Endes den »Antichrist« zur Welt bringt.

Auch wenn man Rosemaries Baby einfach nur als Horrorfilm konsumiert, hat dieser Klassiker auch heute nichts von seinem Reiz verloren. Doch die Geschichte bietet wesentlich mehr als das und muss im Kontext der damaligen Zeit gesehen werden. Und da fängt der Horror erst richtig an.

Die Geschichte beginnt wie so viele Liebesgeschichten: Ein junges gutaussehendes Paar, verliebt und auf der Suche nach einem Nest für ihre zukünftige Familie, findet eine tolle Wohnung. Er ist ein junger aufstrebender Schauspieler und sie die treusorgende Ehefrau, die ihn schmückt und umsorgt.

In einer Zeit, in der der Feminismus in den Kinderschuhen steckte und die Bewegung erst langsam Fahrt aufnahm, zeigt Rosemaries Baby hintergründig den wahren Horror in einer Gesellschaft, in der Frauen allenfalls Beiwerk zum Mann sind.

Aufgrund der allgemeinen Sozialisierung empfindet man es auch jetzt noch als vollkommen normal, wenn sich Guy beim Abendessen mit Roman Castevet über seine Karriere unterhält, während Rosemarie beim Geschirrabräumen hilft. Es sind Kleinigkeiten, die einem ins Auge springen und sich im Verlauf der Handlung immer weiter subsumieren. Sei es, dass Rosemarie stets auf das Wohl ihres Gatten als treusorgende Ehefrau bedacht ist oder Guy ihr fortwährend vorschreibt, was sie tun soll, zum Beispiel, als sie den besagten Anhänger, gefüllt mit Tanniswurzeln, von Minnie Castevet erhält und diesen zur Seite legt. Guy erklärt ihr, dass man das, was man geschenkt bekommt, auch tragen sollte. Fortan trägt Rosemarie den verhassten stinkenden Anhänger.

Als Guy ihr endlich den ersehnten Wunsch nach einem Kind erfüllen will (er selbst hat aufgrund der neuen Rolle kaum noch Zeit für sie), wollen beide dies mit einem romantischen Essen und nachfolgendem Sex besiegeln. Die aufdringliche Minnie bereitet für die beiden eine mit Betäubungsmittel manipulierte Schokocreme als Nachtisch, die aber Rosemarie nicht schmecken will. Auf ihren Protest hin bringt Guy sie dazu, die Creme zu essen. Da sie nicht das gesamte Dessert verspeist, ist sie nur zum Teil betäubt. Somit bekommt sie bruchstückhaft mit, dass sie in die Wohnung der Castevets gebracht wird, um dort von einem teuflischen Wesen vergewaltigt zu werden. Diese Episode nimmt sie allerdings als Traum wahr.

Für unser heutiges Verständnis wird anschließend durch Guys Reaktion dem Fass der Boden ausgeschlagen, als Rosemarie ihn nach ihrem Aufwachen auf die blutigen Kratzspuren an ihrem Körper anspricht. Er antwortet lachend, dass er die fruchtbare Nacht nicht verstreichen lassen wollte und sich daher an ihrem bewusstlosen Körper ausgelassen habe. Rosemarie ist zwar sichtlich getroffen, mehr allerdings tut sie nicht.

Uns lässt diese grausame und herzlose Geste heute sprachlos schlucken. Für die damalige Zeit war ein solches Verhalten allerdings »normal«. Vergewaltigung in der Ehe gab es nicht. Das Gesetz sprach von Vergewaltigung nur, wenn es sich um eine Frau handelte, die nicht die eigene Ehefrau war (in Deutschland wurde die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 unter Strafe gestellt). Und auch dann noch war das Opfer eigentlich der Täter, indem die Frau angeblich die Vergewaltigung herausgefordert habe.

Im weiteren Verlauf verliert Rosemarie immer weiter die Kontrolle über ihr Leben. Anstelle ihres eigenen Gynäkologen wird sie dazu gebracht, zu der von den Castevets empfohlenen Koryphäe, Dr. Sapirstein (Ralph Bellamy, Die Glücksritter) zu gehen, welcher ihr alle bisher verschriebenen Medikamente verbietet und sie anweist, die von Minnie zubereiteten Kräuter zu sich zu nehmen.

Wir sehen, dass Rosemarie sich wie ein Tier in einem Käfig ihrem Schicksal fügt, ohne Anstalten zu machen, diese Szenerie zu verlassen. Und wir fragen uns natürlich: »Blöde Kuh, wieso haut sie nicht einfach ab?« Ja, auch das war zu dieser Zeit so gut wie unmöglich. Eine Frau konnte nicht so einfach ihre Sachen packen und abhauen, selbst wenn sie es gewollt hätte.

War die Frau vormals abhängig davon, was ihre Eltern, explizit der Vater, erlaubten und geboten, ging dieses Recht der Bestimmung über ihre Person mit der Heirat auf den Mann über. Hysterische Frauen konnten entmündigt werden und wurden oftmals in die Psychiatrie eingewiesen. Frauen durften bis 1962 kein eigenes Bankkonto eröffnen, wenn der Mann es nicht erlaubte. Bis 1977 durften sie nur berufstätig sein, wenn es ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter nicht beeinträchtigte.

Rosemarie zeigt, als ihr die gesamte Umwelt diktiert, was sie tun und lassen soll, doch noch ein bisschen Selbstbestimmung, indem sie sich die Haare schneiden lässt. Aus dem Bob wird ein Pixie-Cut, ein extremer fransiger Kurzhaarschnitt, was natürlich den Unmut von Guy erregt. Nicht so sehr, weil dieser Schnitt sehr burschikos ist, sondern weil sie damit selbst über ihren Körper bestimmt. Guy spricht von dem größten Fehler, den sie je begangen hat.

Doch dieser kurze Triumph währt nicht lange.

Rosemarie wagt nochmals, die Führung über ihr eigenes Leben wiederzuerlangen. Sie läuft fort, vertraut sich ihrem ursprünglichen Gynäkologen an und erzählt ihm in unbedarfter Weise ihre Vermutungen und Erlebnisse, weil sie hofft, dass wenigstens er sie versteht und beschützt. Damit hat sie sich aber leider den Falschen ausgesucht. Dr. Hill, wie es auch der Großteil der Gesellschaft bei ihren Erzählungen tun würde, hält Rosemarie für hysterisch, was schwangeren Frauen per se nachgesagt wird. Er informiert ihren Mann, sodass Rosemarie zurückgebracht werden und im »Schutz« der satanischen Sekte die teuflische Brut gebären kann.

Das Ende des Films ist nicht weniger verstörend. Rosemarie findet ihr Baby, nachdem ihr erklärt wurde, es sei tot, in einer schwarzen Wiege im Kreise der Satanisten in der Wohnung der Castevets, die sie über eine verborgene Verbindung zur eigenen Wohnung betritt. Sie platzt in eine Babyparty der teuflischen Art und bemerkt den entstellten Säugling. Entsetzt über ihren monströsen Nachwuchs könnte man jetzt mutmaßen, dass sie sich abwendet und geht. Aber weit gefehlt. Innerhalb weniger Minuten, eine tolle schauspielerische Leistung von Mia Farrow, entwickelt sie sich von der unterwürfigen jungen Frau zur bestimmenden Mutter. Als das Baby zu schreien beginnt, geht sie auf die Wiege zu und erklärt, dass es zu heftig gewiegt wird. Sie tritt an die Wiege und schaut mit verzücktem Blick hinein. Damit endet der Film.

 

Der Schrecken von Rosemaries Baby geht weit über die plakativen Horrorelemente hinaus. Das Selbstverständnis, mit dem die junge Frau in ihren Rechten und ihrer Selbstbestimmung unterdrückt und zum Schweigen gebracht wird, indem andere über ihren Körper bestimmen und sie diskreditieren, das ist der wahre Horror.

Von ihr wird verlangt, ganz die Frauenrolle zu erfüllen, welche ihr von der Gesellschaft vorgeschrieben wird. Egal, ob sie vergewaltigt wird, sie hat das als »normal« hinzunehmen. Egal, was sie gebiert, sie hat es zu lieben – da sie eine Frau ist, hat sie gleichzeitig Mutter zu sein. Alles andere wird nicht akzeptiert und als »verrückt« deklariert. Genau so wurden Frauen in den 60er Jahren behandelt, und vieles davon hat leider bis in die heutige Zeit überdauert.

Wenn man somit Rosemaries Baby nicht allein als Horrorklassiker betrachtet, sondern ebenfalls als Studie über die Zeit, in der er erschien, kommt man nicht umhin zu erkennen, wie aktuell der Film auch heute noch ist.

Perlentaucher-Reihe: Die große persönliche Akte X-Rückschau – Staffel 4, und der Blick in den Abgrund

von Eric Zerm

Im September 1995 startete mit der Folge »Kontakt« im deutschen Fernsehen die zweite Staffel der Serie Akte X: Die unheimlichen Fälle des FBI. Für das Corona-Magazine ist das Anlass genug für eine ausführliche und auch persönliche Rückschau auf diesen modernen Serien-Klassiker und auch dafür, die Serie Staffel für Staffel – mit Stift und Notizblock bewaffnet – mal wieder anzusehen. In Staffel 4 streut die Serie weitere Anzeichen für einen großen Plan der Verschwörer, nur um das dem Publikum bis dahin vertraute Weltbild von Akte X dann mit dem furiosen Dreiteiler »Redux« durch den Schredder zu jagen und neu zusammenzusetzen. Zudem testet die Serie weiter ihre Grenzen aus: Die vierte Staffel enthält die bis dahin drastischsten Folgen.

Worum gehts? Was ist die Wahrheit? Zu welchem Zweck wollen die Verschwörer Bienen einsetzen? Welche Ziele verfolgt man in Russland, und basiert Fox Mulders Glaube an Außerirdische am Ende nur auf einer großen Lüge, dem größten Ablenkungsmanöver in der Geschichte der Menschheit? In der Serien-Rahmenhandlung geschieht in Staffel 4 eine ganze Menge, ohne dass das Publikum oder die Protagonisten Fox Mulder (David Duchovny) und Dana Scully (Gillian Anderson) daraus wirklich schlau werden. Das Ganze wird aber furios erzählt.

Der Zweiteiler »Tunguska « greift das Element des intelligenten schwarzen Öls aus der dritten Staffel (»Der Feind 1« und »Der Feind 2«) wieder auf und zeigt davon ganz neue Aspekte. Offenbar stammt eine viel ältere Form dieser intelligenten Substanz aus einem Meteoriten, der am 30. Juni 1908 über Sibirien niedergegangen ist und damals verheerende Zerstörungen verursacht hat. Ein Bote bringt einen Stein, der diese Substanz enthält (und den er offenbar in Sibirien gestohlen hat) in die Vereinigten Staaten. Ausgangspunkt einer atemlosen Hetzjagd, die Fox Mulder bis in die Weiten Sibiriens führt. Dort wird er Gefangener in einem Straflager. Die Herren dieses Lagers missbrauchen die Häftlinge als Versuchsobjekte, lassen sie in den Felsen nach Steinen mit dem schwarzen Öl graben und setzen sie dem intelligenten Öl aus, um dann ein Antiserum an ihnen zu testen.

Mit dem Finale der Episode »Leonard Betts«, die bis zu diesem Zeitpunkt eine »gewöhnliche« Mutant-der-Woche–Episode zu sein schien, schlägt die Rahmenhandlung dann eine Richtung ein, die das Publikum damals kalt erwischte. In Scullys Kopf wächst ein nicht operierbarer Krebs-Tumor, offenbar eine Folge ihrer Entführung in Staffel 2. Die Suche nach dem wahren Grund für die Erkrankung und die Suche nach einem Heilmittel wird damit ein wichtiges Element der zweiten Staffelhälfte, das geschickt mit der Verschwörungs-Handlung verknüpft wird. In der Folge »Memento mori« sucht Dana Scully wieder die Frauen aus der Doppelfolge »Die Autopsie«/»Der Zug« (Staffel 3) auf, die – wie sie – scheinbar von Außerirdischen entführt wurden. Schockiert erfährt sie, dass die meisten von ihnen inzwischen an Krebs verstorben sind. Auch Betsy Hagopian, die im damaligen Zweiteiler noch behandelt wurde, hat es nicht geschafft. Fox Mulder dringt wiederum mit Hilfe der Einsamen Schützen heimlich in eine Forschungsklinik ein, in der sich scheinbar die meisten der Frauen wegen Unfruchtbarkeit behandeln ließen. Dort stößt er auf Hybrid-Klone, die – so sieht es aus – mit Hilfe der Eizellen der Frauen gezüchtet wurden. Zudem sieht er Behälter mit darin treibenden Körpern, die wie die Behälter in der Folge »Das Labor« (Staffel 1) aussehen.

In der Hoffnung, Scully helfen zu können, lässt sich Director Skinner (Mitch Pileggi) auf einen Handel mit dem Raucher (William B. Davis) ein. In der Folge »Der Pakt mit dem Teufel« muss er seinen Teil des Handels erfüllen und Spuren eines geheimnisvollen Bienen-Überfalls beseitigen … ohne dass er am Ende etwas Greifbares in die Hände bekommt.


©: FOX / Netflix / Pro7

Im Finale von Staffel 4 und im Übergang zu Staffel 5 stellt Serienschöpfer Chris Carter seine Serien-Mythologie mit dem Dreiteiler »Gethsemane«/»Redux I«/»Redux II« (die damalige Spielfilmfassung aus diesen drei Episoden heißt schlicht »Redux«) dann komplett auf den Kopf. Sind die Außerirdischen am Ende nur ein gewaltiger Schwindel, um von viel grausameren Wahrheiten abzulenken?

In den Einzelfolgen zeigt Akte X in Staffel 4 erneut eine gewaltige Bandbreite. Insgesamt wirkt die Stimmung aber gedrückter als bisher. »Ein unbedeutender Niemand« ist die einzige Folge, in der wieder der besondere Humor durchblitzt, der in Staffel 2 und Staffel 3 die Drehbücher von Darin Morgan ausgemacht hat. Dafür hat die Staffel mit »Blutschande« (»Home«) eine der drastischsten Folgen der ganzen Serie. Die Drehbuchautoren Glen Morgan und James Wong sowie Regisseur Kim Manners bedienen darin auf ihre eigene Art das Subgenre des Hinterwäldler-Horrors. Die degenerierte Sippe der Peacocks, durch Inzucht, die sich über Generationen erstreckte, körperlich und geistig völlig entstellt, zieht eine blutige Spur durch das Provinz-Kaff Home in Pennsylvania, als der örtliche Polizist Andy Taylor (Tucker Smallwood) sowie Fox Mulder und Dana Scully den Tod eines völlig entstellten Säuglings untersuchen. In der wohl heftigsten Szene der Folge fallen die Peacocks wie wilde Bestien über Taylor und seine Frau her, während im Hintergrund Johnny Mathis' Song »Wonderful, Wonderful« aus dem Autoradio säuselt. Auch die Folgen »Hexensabbat« und »Leonard Betts« sind wenig zimperlich. Die Episoden »Unruhe« und »Unsichtbar« bedienen wiederum das Thriller-Genre. In »Unruhe« jagen Mulder und Scully einen geisteskranken Serientäter, der der festen Überzeugung ist, Menschen von »Heulern« befreien zu müssen, die deren Handeln steuern (indem er ihnen mit einem langen Stahldorn durchs Auge ins Gehirn sticht). In »Unsichtbar« wird das Leben eines Generals von einem Veteran aus dem Vietnamkrieg bedroht, der sich vor anderen Menschen scheinbar unsichtbar machen kann. In den Folgen »Die Sammlung« (»Paper Hearts«) und »Dämonen« (»Demons«) wird Fox Mulder mit seinen eigenen inneren Dämonen konfrontiert, »Mutterkorn« und »Todes-Omen« erzählen (neben den oben schon genannten Mythologie-Folgen) wiederum Ereignisse, die Scully sehr nahe gehen.

Erwähnenswertes: Als die vierte Staffel von Akte X entstand, war Produzent Chris Carter sehr stark in die Entwicklung seiner neuen Serie Millennium eingebunden. Die erste Millennium-Folge »Der jüngste Tag« (im Original ohne Titel) lief auf FOX am 25. Oktober 1996, genau drei Wochen nach »Herrenvolk«, der ersten Folge der vierten Staffel von Akte X. Millennium und Akte X teilen sich dasselbe Serien-Universum, haben aber andere Schwerpunkte. Nach dem Ende von Millennium sollte Hauptdarsteller Lance Henriksen als Frank Black in der Akte X-Folge »Millennium« in der siebten Staffel noch einen letzten Auftritt haben.

Nachdem die von Glen Morgan und James Wong entwickelte Science-Fiction-Serie Space: Above & Beyond (Space: 2063) nach nur einer Staffel abgesetzt worden war, kehrte das Autoren-Duo wieder zu Akte X zurück. Mehrere der Hauptdarsteller aus Space haben in der vierten Akte X-Staffel Gastauftritte: Tucker Smallwood (Commodore Ross in Space) als Dorfpolizist Andy Taylor in »Blutschande«, Kristen Cloke (Shane Vansen) als Melissa Reidal in der tragischen Sekten-Folge »Rückkehr der Seelen« (»The Field Where I Died«), Morgan Weisser (Nathan West) in »Gedanken des geheimnisvollen Rauchers« (»Musings of a Cigarette-Smoking Man«) als Lee Harvey Oswald und Rodney Rowland (Cooper Hawkes) als trauriger getrennter Ehemann Ed Jerse in der Folge »Mutterkorn« (»Never Again«).

In der Originalfassung von »Unruhe« werden die deutschen Wurzeln des Serientäters Gerry Schnauz (Pruitt Taylor Vince) deutlicher als in der synchronisierten Fassung. Im Zentrum seiner Obsession steht tatsächlich der deutsche Begriff »Unruhe«.

»Hexensabbat« ist eine Art Remake der Folge »Satan« aus Staffel 2. Statt in einer Schule geht es nun in einer Klinik um drastische Teufels-Rituale.

In der Doppelfolge »Tunguska« taucht der Mörder Alex Krycek (Nicolas Lea) wieder auf, den der Raucher im Finale von »Der Feind« in Staffel 3 in einem Raketensilo zurückgelassen hatte. Er wurde von schwer bewaffneten Nationalisten befreit. Vergleichbare Gruppen greift die Serie später wieder auf. Eine solche Gruppe verübt im ersten Akte X-Kinofilm von 1998 auch einen verheerenden Anschlag, der ein ganzes Gebäude zerstört. Das Schicksal, das Krycek in »Tunguska« erwartet, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.

Dr. Charne-Sayer (Jessica Schreier) hat – so wird in der Doppelfolge »Tunguska« angedeutet – offenbar eine Affäre mit einem der Verschwörer, dem »Well-Manicured Man« (John Neville). Sie wird als Expertin für das Variola-Virus beschrieben, das Pocken-Virus. Im Laufe der Staffel wird klar, dass Pocken im großen Plan der Verschwörer scheinbar eine wichtige Rolle spielen. In der Episode »Der Pakt mit dem Teufel« werden Menschen von aggressiven Bienen angegriffen, die offenbar das Pocken-Virus übertragen.

Mit dem Tunguska-Meteoriten gelangten, so heißt es in der Doppelfolge »Tunguska«, scheinbar Fragmente des Mars auf die Erde. Dieser Gedanke wird später in der Serie wieder aufgegriffen.

Eine sehr emotionale Mulder-Folge ist »Die Sammlung«. Hier wird Fox Mulder mit dem Serienkiller John Lee Roche (Tom Noonan) konfrontiert, dem es gelingt, bis in seine Träume vorzudringen. Roche suggeriert Mulder, dass dessen Erinnerungen an das Verschwinden seiner Schwester Samantha falsch sind, dass in Wirklichkeit Roche Samantha damals entführt hat und nicht Außerirdische. Dasselbe suggeriert die Folge auch dem Publikum, indem sie eine alternative Version jener Momente zeigt, nach denen Samantha vor vielen Jahren verschwunden war. In »Dämonen« wird Mulder noch weiter durch die Mangel gedreht. Er unterzieht sich einer drastischen Therapie, um Zugang zu verborgenen Erinnerungen zu bekommen. Er will endlich erfahren, was damals wirklich geschehen ist. Dabei erinnert er sich an einen heftigen Streit zwischen seiner Mutter und seinem Vater … und auch an den Raucher als jungen Mann. Hier legt die Serie darüber hinaus weitere Indizien dafür, dass in Wirklichkeit der Raucher Mulders Vater ist. »Dämonen« legt schon eine Art Grundstein für den Dreiteiler »Redux«, in dem Mulders Welt komplett aus den Angeln gehoben wird.

 

Im Zweiteiler »Tempus Fugit« hat die beliebte Figur Max Fenig (Scott Bellis) aus der Episode »Gefallener Engel« aus Staffel 1 den zweiten und letzten Auftritt. Der Zweiteiler »Tempus Fugit« greift auch viele bekannte UFO-Motive aus der ersten Staffel wieder auf. Zeitverlust, helles Licht, ein Körper, der von einem scheinbaren Kraftfeld angehoben wird, und Strahlungsverbrennungen, die scheinbar von einem UFO-Wrack verursacht werden.

Ein sehr tragisches Ende nimmt in »Tempus Fugit« die Figur Agent Pendrell (Brendan Beiser), den das Publikum seit Staffel 3 kennt. Er wird in einer Bar, in der Kollegen zu Beginn der Folge Dana Scullys Geburtstag gefeiert haben, angeschossen und erliegt wenig später seinen Verletzungen.

Sehr wichtige Scully-Folgen sind »Mutterkorn«, »Memento mori«, »Todes-Omen« und natürlich der Dreiteiler »Redux«. Dana Scullys bedrückende Traurigkeit in »Mutterkorn« ist eine direkte Folge des Finales von »Leonard Betts«. In jener Folge verfolgte sie mit Mulder einen besonderen Mann, der es offenbar auf Menschen mit Krebsgeschwüren abgesehen hat und der auch die besondere Fähigkeit hat, Krebszellen in einem Menschen zu erspüren. Als er Scully angreift, fällt einer der schockierendsten Sätze der ganzen Serie: »Es tut mir leid, aber Sie haben etwas, das ich brauche!« Diese Äußerung geht Scully nicht mehr aus dem Kopf. In ihrer niedergedrückten Stimmung stellt sie auch ihre Arbeit mit Fox Mulder in Frage und stürzt sich in »Mutterkorn« in Philadelphia in eine Affäre mit dem ebenso einsamen wie deprimierten Ed Jerse. In »Memento mori« wird die schlimme Ahnung schließlich zur Gewissheit. Sie hat einen Gehirntumor, der nicht operiert werden kann. Ein Element dieser Episode greift die Serie in Staffel 5 im Zweiteiler »Emily« wieder auf. Fox Mulder erfährt in der Forschungsklinik, dass allen entführten Frauen sämtliche Eizellen entnommen wurden, wodurch sie unfruchtbar wurden. Er sagt seiner Partnerin, die gerade von ihrem Krebs erfahren hat, in »Memento mori« aber nichts davon. In »Todes-Omen« wird Scully dann erstmals mit ihrem möglichen baldigen Lebensende konfrontiert. Sie sieht eine Geistererscheinung, die bis dahin nur Menschen erschienen ist, die wenig später tot waren. Am Ende des Mittelteils von »Redux« bricht sie dann zusammen.

In »Redux« lernte das Publikum Scullys Bruder Bill Scully (Pat Skipper) kennen, einen Marineoffizier. Im Laufe des Dreiteilers geraten Bill Scully und Fox Mulder heftig aneinander. Bill Scully macht Mulders Handeln für die Krankheit Danas und für den Tod von Danas und seiner Schwester Melissa verantwortlich.

In »Redux« wird die besondere Beziehung zwischen dem Raucher und Fox Mulder weiter vertieft. Als der Raucher Mulder vorübergehend für tot hält, sucht er dessen Appartement auf. Schwermütig nimmt er ein altes Foto an sich, das den jungen Fox mit dessen Schwester Samantha zeigt. Am Ende des Dreiteilers gibt der »erste Elder« (Don S. Williams) den Befehl, den Raucher zu eliminieren … und der Schütze scheint erfolgreich zu sein.

Chief Blevins (Charles Cioffi), der am Ende des »Redux«-Dreiteilers ermordet wird, ist eine Figur aus der allerersten Akte X-Folge »Gezeichnet«. In seinem Büro erhielt Dana Scully ihren Auftrag, Fox Mulders Arbeit wissenschaftlich zu begleiten. In »Redux« stellt sich heraus, dass Blevins schon seit Jahren Geld von einem Biotechnologie-Unternehmen namens Roush erhalten hat. Der Name des Unternehmens taucht zu Beginn der sechsten Staffel wieder auf.

Persönliche Highlights: Die Mythologie-Folgen erreichen mit »Tunguska«, »Memento mori«, »Tempus Fugit«, »Der Pakt mit dem Teufel« und dem »Redux«-Dreiteiler ein neues Level. »Tunguska« ist ein atemloser Bio- und Verschwörungs-Thriller, und die Serie geht hier auch im Action-Bereich an die Grenzen des damals in einer TV-Serie Möglichen. »Memento mori« wiederum kombiniert sehr gut schwermütige und spannende Momente. Bei »Der Pakt mit dem Teufel« steht zum zweiten Mal Skinner im Mittelpunkt, der sich durch sein Tun dem Krebskandidaten ausliefert, was dieser natürlich sofort nutzt, um Skinner noch stärker unter Druck zu setzen. »Tempus Fugit« ist wie ein großes Puzzle aufgebaut, und gemeinsam mit dem Publikum versuchen Fox Mulder und Dana Scully zu ergründen, was in der Nacht eines tragischen Flugzeugabsturzes wirklich geschehen ist. Die Stärke von »Tempus Fugit« ist zudem, dass dieser Zweiteiler zwar Teil der Serien-Mythologie ist, aber auch für sich alleine funktioniert. Im »Redux«-Zweiteiler werden die beiden zentralen Helden der Serie und auch das Publikum dann gnadenlos durch die Mangel gedreht. Es wimmelt von falschen Spuren und unerwarteten Wendungen. Das wird noch dadurch verstärkt, dass »Redux« nicht linear erzählt wird, sondern auf mehreren Zeitebenen und mit Rückblenden, die Ereignisse, deren Bedeutung man schon zu kennen glaubte, wieder in einem neuen Licht darstellen. So spielen sich zum Beispiel die Ereignisse des mittleren Drittels WÄHREND der Rahmenhandlung des ersten Drittels ab. Im letzten Drittel geht es dann um nichts Geringeres als um Scullys Überleben. Fox Mulders Weltbild wird durch die Ereignisse des Dreiteilers komplett aus den Angeln gehoben, und er verliert seinen Glauben an Dinge, die er bisher für wahr gehalten hat.

Bei den Einzelfolgen schimmert »Gedanken des geheimnisvollen Rauchers« wie eine ganz besondere Perle. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, während der der Raucher die Einsamen Schützen abhört, erfährt das Publikum, wer dieser Mann eigentlich ist. Im Laufe von gut 40 Minuten sieht das Publikum den Raucher als jungen Mann bei zentralen Ereignissen der amerikanischen Geschichte. Anfang der 1960er Jahre war er als Soldat Stubengenosse von William Mulder und wurde dann von einem reaktionären General dafür rekrutiert, Präsident John F. Kennedy zu töten. Später räumt er auch den unliebsamen Bürgerrechtler Martin Luther King aus dem Weg und wird dann eine Art Vollstrecker der UFO-Verschwörer. Dabei träumt er eigentlich von einem Leben als Schriftsteller, hat aber als Autor Raul Bloodworth mit seinen wilden Jack Colquitt-Thrillern bei den Verlagen kein Glück. Am Ende scheint es dann doch mit der Schriftsteller-Karriere zu klappen, und der Raucher ist schon drauf und dran, seinen Auftraggebern für immer Lebewohl zu sagen und endlich das Rauchen aufzugeben. Aber es klappt eben doch nicht, und er bleibt der zynische Raucher, der die Welt nach seinen Vorstellungen gestalten will.

Ein echter Nervenzerrer ist »Unruhe«. Im Finale der Folge ist Dana Scully dem geisteskranken Gerry Schnauz völlig ausgeliefert, weil er sie an einen Zahnarzt-Sessel gefesselt hat. Ihr bleibt nur die Möglichkeit, beruhigend auf ihn einzureden und Zeit zu gewinnen, aber das funktioniert nicht gut, weil sie ihn nicht von der Wahnhaftigkeit seines Tuns überzeugen kann. Auf der anderen Seite der Stil-Bandbreite steht »Ein unbedeutender Niemand« (»Small Potatoes«), eine Episode, die das FBI-Duo Mulder und Scully in den unglaublichsten Situationen zeigt. Der von Darin Morgan gespielte Verlierer Eddie van Blundth hat durch eine körperliche Anomalie die Fähigkeit, wie jeder beliebige Mensch aussehen zu können, und er nutzt diese Möglichkeit, um Frauen zu verführen, die in ihm jeweils ihren Ehemann oder größten Schwarm sehen. Für die nerdige Amanda Nelligan (Christine Cavanaugh) verwandelte er sich sogar in Luke Skywalker … und allein der Blick Scullys, als Amanda von ihrem Luke erzählt, ist unbezahlbar. Später schlüpft van Blundth sogar in die Rolle Fox Mulders, nicht ohne dessen Single-Wohnungs-Chaos mit einem sarkastischen »Und wo soll ich hier schlafen?« zu kommentieren und Mulders Anrufbeantworter abzuhören. Dieser enthält die Nachricht einer Sex-Hotline und eine Nachricht der Einsamen Schützen, die glauben, herausgefunden zu haben, wer Kennedys Mörder war. Am Ende sagt von Blundth Mulder sehr direkt, was er von dessen Lebenswandel hält: »Ich bin der geborene Verlierer, aber Sie … Sie sind es freiwillig.«

Fortsetzung folgt …