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Corona Magazine #353: April 2020

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From the series: Corona Magazine #353
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Inspiriert von russischen Mythen und rauer Wintermagie: Der Fantasy-Roman Der Bär und die Nachtigall

Das eindrucksvolle Erstlingswerk von Katherine Arden ist im Heyne Verlag erschienen und erzählt die magische Geschichte einer unwiderstehlichen Heldin.

Von Birgit Schwenger


Es war einmal vor langer, langer Zeit weit im Norden von Rus, als dem Landadeligen Pjotr Wladimirowitsch in einer klirrend kalten Novembernacht ein kleines Mädchen mit wilden schwarzen Haaren und stechend grünen Augen geboren wird. Da Pjotrs Frau Marina, von der gemunkelt wird, dass ihre Mutter eine Hexe war, bei der Geburt stirbt, wird das Mädchen Wasja von der alten Amme Dunja großgezogen. Diese liebt es den Kindern abends am Feuer Geschichten aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen, Geschichten voller Magie, vom Feuervogel und Morosko, dem Winterkönig. So wächst die kaum zu bändigende Wasja in einer Welt voller Magie und Märchen auf, die für sie Realität sind. Denn im Gegensatz zu allen anderen kann sie tatsächlich die alten Hausgeister und Dämonen sehen, die die Wälder und ihre Hofstatt bevölkern und diese, so wie der Domowoi, der für das Wohlergehen von Haus und Hof zuständig ist, oder der Wasila, der in der Scheune lebt und sich um die Pferde kümmert, beschützen. Ein ums andere Mal bewahrt Wasila, die nach Meinung der Leute mehr und mehr verwildert, die Dorfbewohner und ihre Familie auch vor den Dämonen des Waldes, wie der Rusalka, die als Nymphe ahnungslosen Menschen auflauert, um sie zu fressen, oder dem Wodianoj, dem Flusskönig, der die jungen Mädchen in sein Unterwasserschloss locken will.


© Katherine Arden

Die Geschichte einer unwiderstehlichen Heldin

Für Wasja sind all diese Wesen Teil ihrer Welt und ihre Verbindung zu ihnen erscheint ihr als nichts Ungewöhnliches – bis sie begreift, dass sich die Menschen immer mehr von den alten Geistern abwenden und den christlichen Lehren des Priesters Konstantin folgen, der aus Moskau geschickt worden ist. Konstantin beschwört die Leute, ihren alten Geistern abzuschwören und sich vollständig Gott zu ergeben. Als das Dorf daraufhin von harten Wintern, Hungersnöten und Feuersbrünsten heimgesucht wird, mehren sich die Stimmen, die Wasja die Schuld dafür geben. Doch das Mädchen lässt sich nicht unterkriegen: Sie stemmt sich gegen die alten Traditionen und begehrt gegen ihr Schicksal auf. Sie ist die einzige, die sich noch gegen das Böse, das im Wald lauert, zur Wehr setzt. Als schließlich der Winterkönig erscheint und sie in sein Reich führt, begreift sie, welche Gefahr ihrem Dorf und ihrer Familie droht.

Mit ihrem Debütroman Der Bär und die Nachtigall, im Original bereits 2017 erschienen, ist der Schriftstellerin ein großer Wurf gelungen. Inspiriert von alten Mythen und der Kraft der Wintermagie erzählt sie in dem wundervoll erzählten Fantasy-Roman die Geschichte einer jungen Heldin, die weder schön noch besonders beliebt ist, aber bereit ist, ihre Familie und ihre Heimat um jeden Preis zu beschützen. Durch das Vermächtnis ihrer Mutter verfügt sie über eine Verbindung zur Anderswelt, zur Welt der Geister und Dämonen. Sie kann dem Winterkönig Morosko in sein Reich zu folgen, wo die Zeit anders vergeht als bei den Menschen. Morosko gibt ihr ein Pferd, dass sie mit seiner Schnelligkeit bis ans Ende der Welt zu tragen vermag. Durch ihn lernt sie die Wintermagie kennen und lernt eine neue Welt kennen. Eine Welt, in der Geschichte und Legenden nebeneinander her existieren. Aber es ist kein friedliches Miteinander, denn gegensätzliche Mächte ringen um die Vorherrschaft über die Menschen.


© Heyne / Katherine Arden

Fantasy vor historischer Kulisse

Auf den ersten Blick scheint die Erzählung recht einfach gestrickt zu sein, doch das täuscht: Arden beschäftigt sich sowohl mit der (historischen) Rolle der Frauen zur damaligen Zeit, als auch mit der Frage, wie Menschen sich verhalten, die von Furcht und Unwissenheit angetrieben werden – beides auch heute noch sehr aktuelle und komplexe Themen. Arden hat französische und russische Literatur studiert, ihre Faszination für russische Kultur und Geschichte reicht bis in ihre Kindheit zurück. Die Geschichte des Romans spielt im 13. Jahrhundert im der Reich der Rus, ein ursprünglich aus Skandinavien stammendes Volk, das im 9. Jahrhundert zu herrschenden Dynastie in den Gebieten der heutigen Ukraine, Weißrussland und dem westlichen Russland wurde. Ihre Gefolgschaft schworen die Rus mongolischen Fürsten. Arden erzählt ihre Geschichte vor dem Hintergrund realer historischer Ereignisse und Figuren, verwendet dazu aber eine märchengleiche Form sowie eine äußerst poetische Sprache. Die Erzählung fließt nur so dahin und zieht die Leser von der ersten Seite an ihren Bann.

Fortsetzung folgt

Der Bär und die Nachtigall wurde für den Locus Award und den für den John W. Campbell Award for Best New Writer nominiert, bei beiden Preisen kam der Roman in die finale Ausscheidungsrunde. Die deutsche Taschenbuchausgabe im Klappenbroschur, die ein wundervolles Umschlagsmotiv ziert, direkt wie aus einem russischen Märchen entstiegen, ist im Oktober 2019 erschienen. 430 Seiten stark ist Ardens Buch ein wahrer Fantasy-Schmöker, aber durchaus nicht nur für dunkle Winterabende. Die beiden Folgebände The Girl in the Tower und The Winter of the Witch, die die Winternight-Trilogie beschließen, sind auf Englisch bereits erschienen, auf Deutsch steht leider noch kein Erscheinungstermin für Band 2 und 3 fest.

Weiterführende Links:

https://www.amazon.de/Bär-die-Nachtigall-Roman/dp/3453320034/

https://www.amazon.de/Bear-Nightingale-Winternight-Trilogy/dp/1785031058/

https://www.amazon.de/Girl-Tower-Winternight-Trilogy/dp/1785031074/

https://www.amazon.de/Winter-Witch-Winternight-Trilogy/dp/1785039733/

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Kurzgeschichte des Monats

Liebe Kurzgeschichten-Freunde,

Platz eins unserer Themenrunde »Freiheit« hat sich eine Newcomerin im Corona Magazine gesichert: Annie Waye mit ihrer Story »Natura Morta«. Dazu herzlichen Glückwunsch und allen Autoren wie immer ein dickes Dankeschön fürs Mitmachen. Allen Lesern wünschen wir natürlich wieder viel Vergnügen bei der Lektüre und freuen uns genauso wie unsere Autoren über Rückmeldungen – ob per E-Mail oder in unserem Forum unter dem Dach des SF-Netzwerks (www.sf-netzwerk.de).

Die nächsten Themen unseres regelmäßigen Story-Wettbewerbs lauten »Narren« (Einsendeschluss: 1. November 2020) und »Alle Wege führen nach Rom« (Einsendeschluss: 1. März 2021). Wer Interesse hat, sich mit einer bislang unveröffentlichten Kurzgeschichte (Science Fiction, Fantasy, Horror, Phantastik – keine Fan-Fiction) zu beteiligen, die einen Umfang von 20.000 Zeichen nicht überschreitet, schickt seine Story (möglichst als rtf-Datei, bitte auf keinen Fall als pdf) rechtzeitig per E-Mail an die Kurzgeschichten-Redaktion, die unter kurzgeschichte@corona-magazine.de zu erreichen ist. Die nach Meinung der Jury (meistens) drei besten Geschichten werden im Corona Magazine veröffentlicht.

Armin Rößler

Annie Waye: Natura Morta

Der zarte Klang von Meeresrauschen erweckte mich aus meinem Schlaf. Das fröhliche Schnattern der Möwen vermischte sich mit dem Lachen der Kinder, die am naheliegenden Strand spielten. Die Sonne brannte warm auf meiner Haut, und der Wind kitzelte mein Gesicht. Sogleich schlug mein Herz noch ein wenig freudiger, als ich mich daran erinnerte, wo ich war.

Im Meer. Zu Hause.

Mein Name war Marina. Ich war eine Nixe, die schon seit ihrer Geburt unter der Wasseroberfläche lebte.

Das Meer umschloss mich und füllte mich aus, gab mir Herausforderung und Entspannung, eine Suche und einen Sinn. Niemand könnte sich seines Lebens glücklicher schätzen als ich.

Das glaubte ich zu diesem Zeitpunkt noch.

Ich erhob mich aus der Nässe und blickte zum Ufer hinüber, an dem sich viele Menschen tummelten, um diesen wundervollen Morgen zu genießen. Ein paar Vögel schossen dicht an das Meer heran, manche von ihnen stießen Hals über Kopf hinein, um sich dann Sekundenbruchteile später mit ihrer Beute wieder daraus zu erheben. Das alles hier war so wunderschön. Alles war wie immer.

 

Zumindest dachte ich das.

Ich runzelte die Stirn. Die ganze Umgebung, die vielen Gesichter, das Leben um mich herum kam mir so unglaublich bekannt vor. Ich fühlte mich so heimisch, als hätte ich jeden vergangenen Tag genau hier an dieser Stelle verbracht – mit Familie, Freunden und einfach allem, was ich brauchte.

Aber ich konnte mich an nichts erinnern.

Verzweifelt ließ ich meine Gedanken kreisen, doch die Antworten auf meine Fragen schienen vom Meer verschluckt. Wer waren meine Familie und Freunde? Und wer waren diese vielen Wesen um mich herum?

Ich schluckte.

Wer war ich?

Ein ungutes Gefühl ergriff mich. Ich tauchte hinab und versuchte, mich zu beruhigen. Es war schade, dass ich mich an nichts erinnern konnte, aber ich war hier – und das war das einzig Wichtige.

Unter Wasser näherte ich mich dem Strand, wo die Menschen noch immer ausgelassen herumtobten. Neidisch war ich nicht auf sie. Sie mussten auf dem Land leben – aber ich war selbst nicht ans Meer gebunden.

Dennoch würde ich niemals von hier fortgehen. Ich war Marina. Ich gehörte hierher.

Alles war eine einzige Lüge.

Während ich den kräftigen Stimmen der Kinder lauschte, ließ ich den Blick schweifen, bis ich eine Person entdeckte, die meine Aufmerksamkeit ganz und gar auf sich zu ziehen vermochte.

Er war ein Mensch wie jeder andere auch, und doch gab es etwas an ihm, das mich völlig verzauberte. Es war unleugbar, dass er nicht so war wie die anderen. Seine Haut war heller, weißer, zarter, seine Gesichtszüge glatter, und sein Haar war trockener als meines und gleichzeitig so fein und weich, dass es mein sehnlichster Wunsch wurde, es zu berühren.

Er erwiderte meinen Blick, jedoch nicht meine Emotionen. Seine Augen waren geweitet, er blinzelte kein einziges Mal gegen das grelle Licht, als befürchtete er, ich würde verschwinden, sobald er die Lider senkte.

Freudig streckte ich die Hand nach ihm aus.

Er zögerte. Dann bewegte er sich langsam auf mich zu, machte nur ein paar kleine Schritte, ehe er wieder innehielt.

»Wer bist du?«, formten die Lippen des Menschen, und seine Stimme war schöner als sämtliche Vogelgesänge, die ich jemals vernommen hatte.

Die Frage erstaunte mich. Jeder hier wusste, wer ich war – die Kinder spielten weiter, als wäre ich eine Freundin, ein Teil ihrer Welt. Auch wenn ich mich im Augenblick nicht an mein Leben erinnerte, so konnte ich es doch spüren, und zwar mit jeder Faser meines Körpers.

»Mein Name ist Marina«, antwortete ich. »Ich bin die Nixe dieses Meeres.«

Fast hatte ich erwartet, Fröhlichkeit in sein Gesicht einkehren zu sehen wie in meinem eigenen – dieselbe Neugierde und Aufregung.

Doch die Gesichtszüge des Mannes entgleisten ihm. Er musterte mich von oben bis unten, ehe er wieder meine Augen fixierte. »Eine Nixe?«, fragte er in einem Tonfall, der mir überhaupt nicht gefiel.

Ich bemühte mich um ein Lächeln. »Wir Nixen sind die Hüterinnen des Meeres«, erklärte ich – ich wusste einfach, dass es stimmte.

Die Miene des Menschen veränderte sich nicht. »Von welchem Meer sprichst du?«

Ich lachte, auch wenn er mich verwirrte. »Na, dieses!«, erwiderte ich mit einer ausschweifenden Bewegung meines Arms. »Es ist hier überall! Siehst du es denn nicht?«

Einige Sekunden lang herrschte Stille zwischen uns. Er blickte hinter mich, schien sich aber kein bisschen für die Schönheit des Wassers zu interessieren. »Das ist kein Meer. Da ist kein Wasser.«

Ich drehte mich um – und da war es, in all seiner Pracht. »Es ist doch hier«, beharrte ich. »Und genau hier, wo ich stehe, endet es!« Die kleinen Ausläufer der Wellen, die in Richtung Strand trieben, kitzelten zwischen meinen Zehen.

Der Mann senkte den Blick. »Das ist kein Meer«, sagte er erneut.

»Es ist hier!«, rief ich aus, völlig verstört von der schieren Blindheit meines Gegenübers. »Genau hier!«

Etwas in seinen Augen veränderte sich. Er trat wieder auf mich zu. Hob die Arme und legte seine Hände auf meine Schultern, und für einen Moment drohte ich in ihm zu versinken, wie ich es normalerweise nur in den Fluten tat. »Hör mir zu«, sagte er eindringlich. »Das hier ist kein Wasser, sondern Schlamm. Kein Strand, sondern der Wald, in dem wir uns verlaufen haben. Und keinesfalls das Meer. Das ist das Moor. Du schwimmst nicht, du gehst unter. Und wenn du dich nicht bald befreist, bist du verloren.«

Kaum, dass er geendet hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Die Welt um uns herum wurde dunkler, bis das einzige Licht, das ich am Firmament entdecken konnte, das des sichelförmigen Mondes und einiger Sterne war.

Der Strand und die Weiten des Festlandes wurden zu schwarzen Bäumen, deren Schatten sich über die ganze Umgebung erstreckten. Der Boden war nicht voller Sand, sondern so weich, dass ich bereits wieder bis zu den Knien versunken war in dem, was ich für das Meer gehalten hatte.

Ein markerschütternder Schrei erfüllte die Luft, ehe zwei große, schwarze Vögel durch die Dunkelheit schossen. Von Möwen war nichts zu sehen.

Auch die Kinder hatten sich verändert – und mir wurde klar, dass es sich bei ihnen gar nicht um Kinder handelte. Die Haut der Gestalten schien aus Stein zu bestehen. Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, dass sie über und über mit Schlamm bedeckt waren, unter dem ihre Haare starr und ihre Gesichtszüge hart wurden. Ziellos liefen sie umher, gaben unverständliche Laute von sich, die von einer unmöglichen Hoffnung sprachen, die sie innerlich zerriss. Unter der getrockneten Schicht aus Schlamm strahlten sie noch heller als der Mond.

Als ich an mir hinabblickte, wurde mir die schlimmste aller Tatsachen klar, noch ehe der Mann sie aussprechen konnte. Auch ich war –

»… keine Nixe. Sondern ein Irrlicht.«

»Was hat das zu bedeuten?« Meine Stimme klang rau und tief, als hätte ich seit Ewigkeiten kein Wort mehr gesprochen. »Was hast du getan?«

»Man hat mir vieles über Irrlichter erzählt«, sagte er. »Jedes von euch wird angezogen von einem Ort seiner Sehnsucht. Aber auch das Moor zehrt an euch, und mit jedem Tag wird seine Kontrolle über euch stärker werden.« Er schluckte. »Bei jedem Sonnenaufgang zieht es euch zurück zu sich, und irgendwann wird sein Einfluss auf euch so groß sein, dass ihr ihm nicht mehr entkommen könnt.« Plötzlich packte er mich an den Armen und zog mich, Zentimeter für Zentimeter aus dem Schlamm. Er selbst sank dabei kaum ein. Als hätte das Moor kein Interesse an ihm. Als wären es allein die Irrlichter, die es verschlingen wollte.

Vereinzelt entdeckte ich ein schwaches Leuchten inmitten des Schlamms. Ab und an ein Gesicht mit gesenkten Lidern, das immer tiefer darin versank und nie wieder daraus auftauchen würde.

Ich erinnerte mich, dass auch ich mit geschlossenen Augen an der Oberfläche gelegen hatte. Um ein Haar wäre ich verschluckt worden von meinem Traum, der nie Wirklichkeit gewesen war.

»Du bist anders als die anderen«, sagte der Mann. »Du bist das einzige der Lichter, das mich wahrgenommen hat. Das einzige, das noch nicht …« Er verstummte.

»Aber wenn das hier das Moor ist«, murmelte ich. »Wo ist dann das Meer?« Panik ergriff mich. »Wo ist das Meer?« Verzweifelt strampelte ich meine Füße frei, die bereits wieder vom Schlamm bedeckt worden waren.

»Marina!«, rief der Mann, als ich an ihm vorbei rannte. Ich hörte nicht auf ihn. Mein Weg führte mich tief in den Wald hinein, getragen von der Hoffnung, dass das Wasser mich auf seiner anderen Seite erwarten würde.

»Marina! Halt!« Ich spürte, dass der Mann mir folgte, doch ich hielt nicht inne.

Allmählich wurde mir klar, was vor sich ging. Das Moor wollte mich dem Meer entziehen. Es wollte mich für sich haben, mich vereinnahmen. Es nahm mir sämtliche Erinnerung an meine Fluchtversuche und gaukelte mir vor, dass es selbst der Ort meiner Sehnsucht war. Damit ich nicht davonlief. Damit ich bei ihm blieb, bis es zu spät war.

Aber das würde ich nicht zulassen.

Ich lief zwischen den Bäumen hindurch, durch den Morast, durch die Nacht. Ich ließ den Wald hinter mir, und mein Herz schlug schneller, als …

Kraftlos sank ich auf die Knie. Nicht einmal der Anflug eines Meeresrauschens lag in der Luft. Der einzige Anblick, der sich mir bot, war der von einer Schar Häuser.

Mein Leben war eine Lüge gewesen. Und mein Tod war näher, als ich es jemals für möglich gehalten hatte.

Der Mann kam neben mir zum Stehen. »Ich danke dir!«, Er klang so erleichtert, als wäre dies hier der Ort, an den er sich gesehnt hatte.

»Wofür?«, hauchte ich. Ich konnte den Blick nicht von den Häusern wenden. Mich beschlich das Gefühl, dass sie zu den letzten Dingen gehörten, die ich jemals sehnen würde.

»Du hast mich nach Hause gebracht. Schon wieder.«

Stille. Ich verstand nicht.

»Erinnerst du dich?« Er beugte sich zu mir hinunter. »Mein Name ist Luca. Vor ein paar Nächten bereits hatte ich mich ebenfalls im Wald verlaufen. Ein Licht in der Ferne hat mich zurückgeführt. Das musst du gewesen sein. Du hast mir das Leben gerettet, Marina.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das Meer ist das Einzige, woran ich mich erinnere.«

Luca strich mir über das erstarrte Haar. »Du hast mich nach Hause gebracht, Marina. Also werde ich dir denselben Gefallen tun.«

Ich hob den Blick und begegnete seinem. Seine Augen waren dunkel, aber nicht so schrecklich wie die Farbe des Moors. Sie waren warm und freundlich. Sie waren alles, was das Moor vorgegeben hatte, zu sein, um mich mit Frohsinn zu mästen und dann bei lebendigem Leibe zu vereinnahmen.

Für einen kurzen Augenblick durchzuckten einzelne Bilder mein Bewusstsein. Bilder voller Glück, Bilder von Luca.

»Wir müssen uns aber beeilen«, sagte er nach einer Ewigkeit. »Die Sonne wird bald aufgehen.«

Er nahm meine Hand, um mir aufzuhelfen. Selbst als ich auf eigenen Beinen stand, hielt er mich weiterhin fest. Wir waren schnell, doch auch der Mond bewegte sich unablässig am Himmel.

»Warum hast du dich alleine in den Wald gewagt?«, fragte ich, seine Nähe tat mir gut und lenkte mich ab von meinen rasenden Gedanken. »Wie hast du dich verlaufen?«

»Beim ersten Mal«, war seine Antwort, »war das nichts weiter als Neugierde auf den Wald. Ich war nicht allein, aber meinen Kumpanen habe ich nach einer Weile aus den Augen verloren. Und heute … bin ich zurückgekehrt, um dich zu finden.«

Bei diesen Worten wurde ich mit einer Wärme erfüllt, die ich noch nie im Inneren meines Körpers gespürt hatte. »Weshalb?«

Er wich meinem Blick aus, nicht jedoch meiner Frage. »Selbst aus der Entfernung hast du mich fasziniert. Und ich wollte die Person kennenlernen, die mich gerettet hat.«

»Ich bin keine Person«, erwiderte ich leise. »Ich bin ein Irrlicht.«

Der Sog, der mein ganzes Leben lang an mir gezerrt hatte, wurde immer stärker. Ich bemerkte ihn erst, als er mich zu zerreißen drohte – weil ich es gewohnt war, ihn zu spüren. Er war schon immer da gewesen; doch je weiter ich mich vom Moor entfernte, desto stärker zog es an mir, versuchte mit aller Kraft, mich dorthin zurückzuholen, wo Luca mich gefunden hatte.

Dennoch wusste ich, dass ich es schaffen konnte.

Ich wurde schneller und schneller, zog Luca unablässig hinter mir her, bevor wir eine Düne erklommen, und …

Meine Heimat war mir auf einmal wieder ganz nah.

Still und leise lag das Meer unter uns, und ich hielt den Atem an.

Gespannt starrte ich auf das Wasser, aber nichts passierte. »Du hast mich angelogen«, stellte ich fest. »Das ist nicht das Meer.«

Erstaunen spiegelte sich auf Lucas Miene wider, die nur von meinen Strahlen erhellt wurde. »Doch«, sagte er. »Das ist es.«

Langsam schüttelte ich den Kopf. »Wo sind dann die Vögel und die Kinder und das Sonnenlicht?«

»Es ist Nacht«, klärte Luca mich auf. »Nachts schlafen die Kinder, die Vögel und auch die Sonne. Sie ruhen sich aus. Und das solltest du auch.«

Ich starrte in diese furchtbar kalte und leblose Dunkelheit, die nichts mit meiner Sehnsucht gemein hatte. »Nein«, entgegnete ich. »Ich will nicht mehr schlafen. Ich werde alles vergessen.« Ich atmete tief durch, und Meerwasser entwich aus meinen Augen.

 

»Hab keine Angst, Marina«, sagte Luca sanft und strich mit seinen Daumen über mein Gesicht, wischte den nassen Schlamm fort, der es bedeckte. »Du bist wie eine kleine Sonne. Überall wo du dich aufhältst, wird die Nacht weichen.« Während er sprach, wurde mein Licht heller und heller. Am meisten schien es dort zu leuchten, wo er mich berührte. »Das hier ist dein Zuhause, Marina. Hier gehörst du hin.«

Lange blickte ich ihn an, und die Gewissheit, die sich langsam in mein Bewusstsein geschlichen hatte, war nun allgegenwärtig. »Das Meer ist nicht das, wonach ich mich am meisten sehne.« Luca wirkte verwirrt, und ich legte meine Hand auf seine. »Ich bin keine Nixe. Ich gehöre nicht in das Wasser. Ich bin ein Licht, aber im Gegensatz zur Sonne fehlt mir die Wärme. Doch … deine Wärme tut mir gut. Ich …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte – weil ich meine Gefühle selbst nicht zu beschreiben wusste.

Nachdenklich sah er mich an. »Du wirkst nicht so sehr wie ein Mensch, Marina. Doch meine Augen brennen nicht, wenn ich dich ansehe. Es ist sehr angenehm. Und du bist wunderschön.« Er machte eine Pause. »Aber du musst ins Meer, nach Hause. Wenn du möchtest, werde ich dich jeden Tag besuchen kommen.«

»Du wirst dich wieder verlaufen, wenn du niemanden hast, der dich führt.«

Er schwieg, denn ich hatte recht.

»Bitte lass mich nicht gehen, Luca«, wimmerte ich, und im nächsten Moment lag ich in seinen Armen. Er drückte mich an sich, und seine Wärme wurde allgegenwärtig. Mir wurde klar, dass genau das mein Zuhause war. Hier würde ich bleiben, für immer …

Es geschah ohne jegliche Vorwarnung.

Unversehens entriss es mich Lucas Griff. Ich wurde durch die Luft geschleudert, ehe ich unsanft auf dem Boden aufprallte.

Und noch immer zog es an mir, zerrte an meinen Beinen und schleifte mich immer weiter von dem Menschen fort, von der Wärme, die er ausstrahlte. Der erste Sonnenstrahl des Tages stach in meinen Augenwinkel.

»Marina!«, rief Luca aus und setzte mir nach, doch je weiter ich mich vom Meer entfernte, desto größer wurde der Sog, der diesmal nicht von meiner Heimat ausging, sondern von meinem sicheren Tod.

Ich krallte mich am Boden fest, aber das Moor zog unablässig an mir, und so schlitterte ich über den Grund, Kratzer zogen sich über meine Haut, und ich wurde blind für alles um mich herum.

Ich schrie und wehrte mich. Gegen das Moor kam ich nicht an. Ich hörte Lucas Stimme. Lange, laut, mit einer Verzweiflung, die mir das Herz brach. »Ich werde dich zurückholen! Marina!«, war alles, was ich verstand, ehe sie in weiter Ferne verklang und die Dunkelheit mich abermals umhüllte und ich für immer versank in einem Meer, das keines war.

Ich heiße Marina

Ich bin ein Irrlicht

Ich bin immer da

Doch du siehst mich nicht.

Erst in der Nacht

Wenn der Mond erscheint

Erlange ich die Kraft

Mich aus dem Moor zu befreien.

Und irgendwann

Ich glaube fest daran

Sind wir zusammen

Nie mehr gefangen.

Doch nun vergess’ ich die Welt

Tief unten im Schlamm

Der mich quält

Dem ich nicht entfliehen kann.

Ich hoffe, du hörst, wie meine Seele zu dir spricht,

Denn vielleicht kehre ich niemals wieder.

Doch versprich mir eins, Luca,

Vergiss mich nicht.

Über die Autorin

Annie Waye ist eine junge Autorin mit einer alten Seele, die sich in den weitesten Sphären der Phantastik bewegt. Sie hat viele Namen und Gesichter, die auf der ganzen Welt zu Hause sind. Sie schreibt, um den phantastischen Charakteren und fremden Welten Leben einzuhauchen, die sie seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr loslassen. Auf Facebook, Instagram und ihrer Website (www.anniewaye.de) hält sie Interessierte über ihr Leben und Schaffen auf dem Laufenden.