Allgemeine Staatslehre

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III. Wie lässt sich Herrschaft rechtfertigen und
wann ist Herrschaft legitim?
1. Zur Rechtfertigung von Herrschaft

Der Blick auf die ersten menschlichen Gemeinschaften hat gezeigt, dass Herrschaft kein Phänomen der Neuzeit oder des modernen Staates ist, sondern seit jeher existiert – herrschaftsfreie und umfassend egalitäre (zwangsfreie) Gesellschaften dürfte es historisch nicht gegeben haben.[515] Dieser empirische Befund schließt aber weder die theoretische noch die praktische Möglichkeit herrschaftsfreier Gemeinschaften und politischer Ordnungen aus. Und er sagt auch nichts darüber aus, dass und wie sich Herrschaft rechtfertigen lässt: Daraus, dass Herrschaft ist, folgt nicht, dass Herrschaft sein darf. Diese Frage nach der Rechtfertigung staatlicher Herrschaft bildet eine der zentralen Problemstellungen der politischen Philosophie und politischen Ideengeschichte, mit der sich alle großen StaatstheoretikerInnen von der Antike bis heute, von Platon über Thomas Hobbes bis zu Hannah Arendt immer wieder beschäftigt haben.[516] Sie stellt sich, weil Herrschaft und damit |91|einhergehende Machtverhältnisse mit erheblichen Freiheitsbeschränkungen und Gewaltakten einhergehen können. Gleichwohl galten herrschaftsfreie Zustände lange Zeit als nicht wünschenswerte Unordnung, die es zu vermeiden galt; als ernsthafte oder anzustrebende Alternative zu staatlichen Strukturen wurden sie nicht angesehen. Als geistesgeschichtliche Strömung entwickelte sich der Anarchismus, dem es aus dem genannten Grund um die Überwindung jeglicher Form von Herrschaft geht, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts,[517] als sich die Konsequenzen der Zentralisierung der Macht und die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen – nicht nur im Staat, sondern auch in den Gesellschaftsstrukturen – auch aufgrund der Industrialisierung deutlich zeigten. Anarchie wurde von den ersten AnarchistInnen nun nicht mehr als Unordnung interpretiert, sondern mit Pierre-Joseph Proudhon[518] positiv besetzt und als „Ordnung ohne Herrschaft“ verstanden (womit sich auch das anarchistische Symbol – das A vor dem O – erklären lässt).[519] Herrschaftsfreiheit wurde für die AnhängerInnen des Anarchismus zum anzustrebenden Ideal, weil sich jedwede Form der Herrschaft über das Individuum nicht rechtfertigen lasse.

Während es dem Anarchismus als politischer Bewegung[520] damit insgesamt um die Überwindung staatlicher und sonstiger Herrschaftsstrukturen zur Befreiung des Menschen geht,[521] ein Ziel, das allerdings – im Unterschied zum Marxismus – ohne die temporäre Instrumentalisierung des Staates erreicht werden sollte,[522] lassen sich zwei Hauptströmungen mit einem abweichenden Freiheitsverständnis unterscheiden. Der individualistische Anarchismus (William Goodwin, Max Stirner) geht davon aus, dass jede Form von Gesellschaft eine Einschränkung der freien Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen darstellt. Das Ziel muss daher die Erlangung der Freiheit des Individuums von jedweder Gesellschaft sein, mithin die innere Befreiung des Einzelnen. Einige dieser Denkrichtung zuzurechnenden VertreterInnen haben sich denn auch zeitweise vollständig von gesellschaftlichen Bindungen gelöst, um sich ungestört und umfassend in der Natur auf das eigene Ich zu besinnen. Indem dieser Ansatz die soziale Komponente menschlichen |92|Zusammenlebens zwar nicht umfassend aber doch größtenteils negiert, ist er im Hinblick auf die Organisation großer Gesellschaften offenkundig jedoch nicht anschlussfähig, die auf eine gewisse Ordnung angewiesen sind: „Mit dem Grundsatz, nur dem eigenen Willen untertan zu sein, nur der selbstgegebenen Ordnung sich fügen zu wollen, wird […] der Gedanke der Ordnung zunächst überhaupt abgelehnt.“[523] Um es deutlicher zu sagen: Wir werden uns nicht alle in den Wald zurückziehen und zugleich unsere sozialen Zugehörigkeiten (Familie) aufgeben können (oder wollen), ohne unsere menschliche Natur als soziales und mit anderen notwendig interagierendes oder, mit Hannah Arendt, als handelndes Wesen zu negieren: „Handeln, im Unterschied zum Herstellen, ist in Isolierung niemals möglich; jede Isoliertheit, ob gewollt oder ungewollt, beraubt der Fähigkeit zu handeln. So wie das Herstellen der Umgebung der Natur bedarf, die es mit Material versorgt, und einer Umwelt, in der das Fertigfabrikat zur Geltung kommen kann, so bedarf das Handeln und das Sprechen der Mitwelt, an die es sich richtet.“[524]

Für den kollektiven Anarchismus[525] als der zweiten Hauptströmung gilt dieser Einwand freilich nicht, da es diesem nicht um die Freiheit von, sondern um die Freiheit zur Gesellschaft geht. Für die VertreterInnen dieser Spielart (Pierre-Joseph Proudhon, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Emma Goldman) ist das Leben in einer Gesellschaft ohne Herrschaft also theoretisch wie praktisch denkbar und damit zugleich notwendig, der kollektive Anarchismus „bejaht die Welt des Sozialen.“[526] Herrschaftslosigkeit ist für Pierre-Joseph Proudhon nicht mit dem Zustand des Chaos oder noch drastischer – wie in Thomas Hobbes’ Naturzustand – einem Krieg aller gegen alle gleichzusetzen, kann vielmehr mit einer für sämtliche Mitglieder des Gemeinwesens vorteilhaften, umfassend freiheitlichen, weil natürlichen Ordnung[527] einhergehen. Die bestehenden staatlichen Ordnungen sind von diesem natürlichen Ideal allerdings weit entfernt und daher nicht zu rechtfertigen. Für die Zustände in autokratischen Staaten fällt es nicht schwer, die Kritik der AnarchistInnen zu teilen: Der Staat agiert hier nicht mehr als Garant für Sicherheit, er stellt vielmehr selbst das größte Sicherheitsrisiko für den Einzelnen dar[528] – man denke an das Terrorregime des Nationalsozialismus, aktuell an Autokratien wie Nordkorea, Weißrussland oder Saudi-Arabien.

|93|Die staatstheoretische Antwort auf solche Gewaltexzesse war unter anderem der demokratische Verfassungsstaat. Dieser beseitigt Herrschaft allerdings nicht,[529] versucht sie lediglich einzuhegen und mit der Verwurzelung in den BürgerInnen selbst ertragbar zu gestalten, bleibt für AnarchistInnen aber deshalb nicht akzeptabel. Als problematisch erweist sich für diese schon die Vorstellung einer durch staatliche Institutionen erfolgenden Repräsentation der Gesamtbevölkerung,[530] einem auf Alexander Hamilton zurückgehenden Konzept, auf dem alle demokratischen Verfassungsstaaten heute beruhen.[531] Von einer „echten“ Repräsentation könne schon im Hinblick auf bestehende Minderheiten keine Rede sein. Aber auch AnhängerInnen der Mehrheit könnten ihre einmal erteilte Zustimmung bezüglich einer bestimmten Frage jederzeit widerrufen.[532] Repräsentation sei eine reine Fiktion, die mit dem freien Willen der Mitglieder einer Gemeinschaft nicht in Einklang zu bringen sei. Wer dauerhaft frei sein wolle, könne nicht repräsentiert werden, jede Demokratie erweise sich zumindest für manche als Tyrannei der Mehrheit.[533] Die irreale Fiktion der Repräsentation zeige sich im alltäglichen Zwang, den auch demokratische Verfassungsstaaten einsetzen müssten, um ihre Entscheidungen durchzusetzen: Warum braucht es „legitime Gewalt“, warum braucht es Wasserwerfer und Schlagstöcke, wenn der demokratische Verfassungsstaat zu jeder Zeit die Interessen aller seiner Mitglieder „repräsentiert“?[534] Von der Rousseau’schen Idee eines damit einhergehenden „Zwangs zur Freiheit“ halten AnarchistInnen wenig.

Diese anarchistische Kritik an den Zuständen in demokratischen Verfassungsstaaten lässt sich nicht als völlig abwegig vom Tisch wischen. Auch wenn man ihr theoretisch begegnen kann, lässt sich an den faktischen Auswirkungen demokratischer Herrschaft kaum etwas leugnen.[535] Hinzu kommen weitere Kritikpunkte an demokratischer Herrschaft, die den Finger in bekannte Wunden legen. Eine institutionelle und innovationshemmende Verstarrung sowie bürokratische Absurditäten[536] dürften nur zwei solcher Wunden sein, die jeder in seinem privaten Umfeld bereits erfahren hat und die sich in vielen Staaten auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie wieder gezeigt haben. Auch die Universitätsverwaltung entwickelt ständig und aus |94|sich heraus (also quasi intentionslos) Rationalitäten und Verfahrensweisen, die wenigen nutzen, einmal eingeführt aber praktisch nicht reformiert, geschweige denn beseitigt werden können.

Das zentrale Defizit des kollektiven Anarchismus liegt daher weniger in der kritischen Analyse bestehender Herrschaftsordnungen und -praktiken als in der fehlenden Entwicklung theoretisch fundierter und praktisch umsetzbarer Alternativen zu einer (demokratischen) staatlichen Herrschaftsstruktur, die einerseits Sicherheit und Ordnung wahren, andererseits zu jedem Zeitpunkt die völlige Freiwilligkeit jedes einzelnen Individuums zu garantieren vermögen. Schon der Weg dorthin bleibt unter Beachtung anarchistischer Ideale kaum möglich.[537] Es ist dieser Widerspruch, der unauflöslich scheint und der sich auch durch eine „Atomisierung“[538] der Staatsgewalt nicht beseitigen lässt. So ist die von Proudhon vorgeschlagene Föderation freier (kleiner) Assoziationen zwar umfassend freiwillig und ohne jede Form der formalen Über- und Unterordnung konstruiert. Sie erweist sich aber als theoretisch hilflos bei der Frage, wie sie mit Individuen umgehen soll, die sich diesem Ordnungskonzept (freiwillig) entziehen oder den anarchistischen Weg generell nicht mitgehen wollen: Im kollektiven Anarchismus müssen faktisches Sein und normatives Sollen stets harmonisch zusammenfallen:[539] „Wenn das Sein des subjektiven Verhaltens von vornherein in keinen Gegensatz zum Sollen der objektiven Ordnung geraten kann, dann ist jeder Zwang überflüssig, dessen Zweck allein ist, das subjektive Verhalten der objektiven Ordnung zu konformieren.“[540] Wo es jedoch nicht gelingt, Sein und Sollen zur dauerhaften Kongruenz zu bringen – und es ist bisher in keiner Gemeinschaft, erst Recht keiner komplexen, jemals gelungen – bleibt der kollektive Anarchismus theoretisch wie praktisch mehr oder weniger ratlos zurück. Die notwendige Harmonie ist gestört[541] und kann nicht proaktiv wiederhergestellt werden: Da jede Form des Zwangs zur freiwilligen Kooperation selbst gegenüber gewalttätigen Mitgliedern nach der eigenen Maxime ausgeschlossen ist, bleibt den AnarchistInnen am Ende nur die Hoffnung[542] auf eine |95|Einsicht aller in die damit einhergehende Art des guten Lebens: „Zugleich mit dem Entbehrlichwerden der Herrschaft wird der Mensch von selbst ein anderer werden, und der herrschaftslose Zustand wird in allem ein lichtes Bild menschlicher Vollkommenheit in jeder Hinsicht und schönsten Zusammenlebens zeigen.“[543] Bei den zahlreichen Versuchen, diese theoretischen und optimistischen Konzeptionen in die reale Welt zu übertragen, ist diese Hoffnung allerdings immer wieder enttäuscht worden und nicht selten in erheblichen Gewaltakten geendet. Für die Ordnung einer größeren Gesellschaft erscheint es daher kaum ratsam, allein auf diese Hoffnung zu setzen – die Wette einer alsbaldigen „Vervollkommnung des Menschen“[544] wäre allzu riskant,[545] wo es aktuell mancherorts schon an einer grundlegenden zwischenmenschlichen Solidarität zu mangeln scheint.[546] Auch dafür bot die Coronapandemie zahlreiches Anschauungsmaterial.

 

Gerade für die im Jetzt angesiedelte Allgemeine Staatslehre scheint die gesamte allgemeine Herrschaftsdebatte der AnarchistInnen damit auf den ersten Blick wenig interessant. Moderne Staaten sind Realität, Herrschaftslosigkeit hat es bisher nicht gegeben und Versuche eine solche in größeren Gemeinwesen zu verwirklichen sind an den selbst gesetzten Maßstäben immer wieder gescheitert, entweder im Sande verlaufen oder in Gewalt geendet: „Vielleicht wird man erstaunt sein darüber, dass eine Staatslehre sich mit Träumereien, etwas weniger hart ausgedrückt: mit Utopien beschäftigt.“[547] Doch wäre ein solcher Schluss voreilig, auch Herbert Krüger zieht ihn, wie andere Lehrbücher,[548] nicht. Denn zum einen hat sich gezeigt, dass die anarchistische Kritik an Herrschaft (auch demokratischer Herrschaft) und den damit einhergehenden Folgen (Verstarrung, Fantasielosigkeit) real ist. Entgegen einem noch immer weit verbreiteten Bild hat der Anarchismus in seiner Analyse der bestehenden (auch der demokratischen) Herrschaftsordnung |96|eine Menge zu bieten – und erst recht sind AnarchistInnen nicht die „antiautoritären Bombenleger“, als welche sie seit jeher und bis heute allzu pauschal diffamiert werden.[549] Diese anarchistische Kritik nicht nur zur Kenntnis, sondern an- und aufzunehmen, tut damit auch der Allgemeinen Staatslehre gut, der es nicht darum gehen darf, den modernen Staat im Allgemeinen noch den demokratischen Verfassungsstaat im Besonderen als in ihrer konkreten Form alternativlos darzustellen. Durch den „Blick von außen“ lassen sich spezifische Herrschaftsprobleme besser erkennen und analysieren sowie Reformen initiieren – wer Anarchismus sagt, meint nicht immer gleich Revolution.[550] Vor allem aber zeigen die anarchistischen Debatten auf, dass sich Herrschaft trotz aller Empirie zwar nicht von selbst versteht, aber in der Notwendigkeit kollektiver und verbindlicher Entscheidungsfindung, der Beseitigung beziehungsweise Verhinderung sozialer Ungleichheiten und der (institutionellen) zwischenmenschlichen Konfliktlösung ihre Rechtfertigung aber zugleich ihre Grenze findet.[551] Denn zur praktischen Lösung dieser aus empirischer Sicht unvermeidlichen gesellschaftlichen Probleme haben anarchistische Vorstellungen bisher nichts oder wenig Taugliches beizutragen vermocht. Ein einigermaßen friedliches und sozial erträgliches Zusammenleben in größeren Gruppen hat es bisher nur in wie auch immer gearteten Herrschaftsordnungen gegeben; gerade in funktionierenden demokratischen Verfassungsstaaten – wie Norwegen, Dänemark, Deutschland, Australien, USA, Irland, Frankreich, Schweden, Japan, Uruguay – ist das Leben so schlecht nicht. Darüber hinaus lassen sich mit der Aufnahme anarchistischer Diskurse auch gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen besser einordnen und verstehen. Dem Anarchismus geht es nicht nur um die Abschaffung staatlicher, sondern der Herrschaft an sich, die sich in vielen tradierten Gesellschaftsstrukturen (vor allem im Institut des Privateigentums,[552] des |97|modernen Finanzkapitals aber auch in den Geschlechterbeziehungen) bisweilen sehr gemütlich eingerichtet hat. Als letzte größere anarchistisch motivierte Protestbewegung sei an „Occupy Wall Street“[553] aus dem Jahre 2011 erinnert. Auf diese gesellschaftlichen Verkrustungen hinzuweisen und Verbesserungen anzumahnen, ist auch das Verdienst dieser Bewegungen. Schließlich versteht sich der Anarchismus seit jeher auch als Philosophie des guten Lebens und kann vor diesem Hintergrund bereichernd wirken, wenn es darum geht, das konkrete staatliche Leben in einer Form zu organisieren, die für möglichst viele als lebenswert und wertvoll angesehen wird und als Alternative zu heutigen Selbstoptimierungstendenzen fungieren kann. Nicht zuletzt Fragen der Staatsorganisation im Hinblick auf die föderale und regionale Struktur der Staaten sind hier angesprochen – im Anarchismus lassen sich Ansätze finden wie lokale Politik bürgernäher gestaltet werden könnte. Gleichwohl zeigt sich aus der Perspektive der Allgemeinen Staatslehre damit aber eine Verschiebung der Fragestellung: Steht für den Anarchismus die Verneinung der allgemeinen Herrschaftsrechtfertigung im Zentrum, geht es der Allgemeinen Staatslehre um die Organisation faktisch bestehender, prinzipiell gerechtfertigter und auch in naher Zukunft nicht verschwundener Herrschaft, mithin um die konkrete Ausgestaltung „guter“ Herrschaft.[554] Denn auch wenn an Herrschaft vorerst kein Weg vorbei führt, heißt das nicht, dass jede Form der Herrschaft hinzunehmen wäre. Herrschaft ist und bleibt eine notwendige Zumutung und die Ausmaße dieser Zumutung möglichst gering zu halten, eine beständige Aufgabe. Diese Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaft[555] muss für eine moderne Allgemeine Staatslehre im Zentrum |98|stehen.[556]

2. Die Legitimität staatlicher Herrschaft
a) Zum Begriff der Legitimität

Wann kann eine Herrschaftsordnung als „gut“ bezeichnet werden? Diese Frage kann nur aus der Perspektive der Herrschaftsunterworfenen sinnvoll beantwortet werden.[557] Eine Herrschaft ist mithin genau dann gut, wenn sie von den Herrschaftsunterworfenen als gut angesehen und aus diesem Grund anerkannt wird. Der Begriff der Legitimität steht diesem Verständnis nach für die soziale Anerkennung der Herrschaftsordnung als prinzipiell gerecht[558] („gut“) und ist von Legalität (Einhaltung rechtlicher Vorgaben) und Legitimation (ausreichende demokratische Rückbindung) zu unterscheiden.[559] Als ein vornehmlich faktisches Phänomen hängt diese soziale Anerkennung zentral von den Wertevorstellungen der Herrschaftsunterworfenen ab, ist damit freilich zugleich normativ fundiert. Die Herrschaftsordnung muss dieses (normative) gesellschaftliche Wertesystem spiegeln, wenn sie die Chance generieren will, als legitim anerkannt zu werden.[560] Solange dieser Zusammenhang besteht, kann theoretisch jede Herrschaftsordnung eine solche Legitimität erzielen. Legitimität bezieht sich in dieser Form nur auf die gesamte Herrschaftsordnung, nicht auf konkrete Einzelentscheidungen.[561] Eine Herrschaftsordnung kann auch dann als legitim angesehen werden, wenn einzelne Entscheidungen nicht von allen akzeptiert, sogar mehr oder weniger offen abgelehnt werden.[562] Legitime Herrschaft schließt daher Zwangsmaßnahmen im Einzelfall nicht aus; sie sind im modernen Staat (auch im demokratischen Verfassungsstaat) eine alltägliche Erscheinung – angefangen beim abgeschleppten PKW bis hin zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe. Soll eine Herrschaftsordnung dauerhaft stabil bleiben, müssen solche Zwangsmaßnahmen gleichwohl die Ausnahme bleiben: „Denn der Legitimitätsglaube des Volkes ist die wichtigste Grundlage für den dauernden Bestand einer Machtposition“,[563] da andernfalls „innere[r] Bestand, Festigkeit und Kontinuität“[564] derselben gefährdet sind.[565] Es ist dieser Legitimitätsglaube der Bevölkerung, der gewährleistet, dass die politische Ordnung verbindliche Entscheidungen zu tragbaren sozialen Kosten treffen und durchsetzen kann, weil die rechtliche Ordnung dann in ihrem Kern freiwillig befolgt wird.[566] Ohne Legitimität wäre es mittelfristig unmöglich, den mit jeder Herrschaftsordnung verbundenen Verbindlichkeitsanspruch effektiv und umfassend durchzusetzen – schon in personeller Hinsicht. Mit anderen Worten: Erst Legitimität versetzt ein politisches System in die Position, zu tragfähigen Kosten dauerhaft zu bestehen.[567] Autoritäre Systeme müssen einen Großteil ihrer Ressourcen in den Erhalt ihrer Herrschaftsstrukturen (und nicht in ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung) stecken. Die wohlhabendsten und zufriedensten Gesellschaften sind nicht zufällig sämtlich Demokratien.

b) Voraussetzungen der Legitimität[568]

Wie Legitimität generiert werden kann, ist weiterhin nicht abschließend geklärt und bleibt eine zentrale Fragestellung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre. Max Weber hat in seiner Herrschaftssoziologie mit der legalen, traditionalen und charismatischen Herrschaft zwar drei Formen legitimer Herrschaft beschrieben.[569] Wie eine für den demokratischen Verfassungsstaat – und nur um diesen soll es im Folgenden gehen – allein in Betracht kommende legale legitime Herrschaftsordnung im Einzelnen ausgestaltet sein muss, hat er aber nicht beantwortet. Als wertefundiertes Konzept lässt sich die Frage, welche Voraussetzungen eine Herrschaftsordnung erfüllen |100|muss, um eine Chance auf soziale Anerkennung zu entwickeln, allgemeingültig auch nicht beantworten.[570] Jede Gesellschaft bedarf abhängig von ihren konkreten normativen Wertevorstellungen die zu ihr passende Herrschaftsordnung. Die konkreten Anforderungen können sich von Gesellschaft zu Gesellschaft erheblich unterscheiden und auch in der Zeit verändern – die Gesellschaft von heute hat in vielerlei Hinsicht andere Vorstellungen und Wertefundierungen als zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenn es hier um die generellen Voraussetzungen für die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates gehen soll, dann liegt dem also eine gewisse Pauschalisierung zu Grunde, die die bestehenden Wertedifferenzen und -veränderungen innerhalb demokratischer Gesellschaften bewusst vernachlässigt. Das erscheint allerdings deshalb gerechtfertigt, weil alle demokratischen Gesellschaften grundlegende normative Wertevorstellungen teilen müssen, da sie andernfalls schon nicht als demokratisch angesehen werden könnten. In den Details bestehen Differenzen, doch sind diese eben nicht so grundlegend, dass sie einer allgemeinen Theorie der Legitimität demokratischer Verfassungsstaaten entgegenstehen würden.

Den Ausgangspunkt einer solchen Legitimitätstheorie muss das demokratische Versprechen der gleichen politischen Freiheit aller bilden, das zugleich das zentrale Wertefundament bildet, auf dem jede Demokratie errichtet ist.[571] Es ist dieses gegenseitige Versprechen, das selbst auf demokratischem Wege – also durch Mehrheitsentscheidung – nicht abgeschafft werden könnte, ohne dass die Herrschaftsordnung ihren demokratischen Charakter verlöre. Aus diesem Versprechen folgt das Erfordernis, dass im demokratischen Verfassungsstaat die gesamte konstituierte Staatsgewalt im Volk ihren Ausgangspunkt finden muss: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“.[572] Freilich ist diese Rückführbarkeit der Staatsgewalt auf das Legitimationsendsubjekt, die sogenannte Legitimation der Staatsgewalt, für sich genommen noch nicht ausreichend, um die erforderliche Legitimität der gesamten demokratischen Ordnung zu generieren.[573] Sie ist notwendige, aber keine hinreichende Legitimitätsvoraussetzung. Das bestätigt ein Blick auf solche Ordnungen, die das demokratische Prinzip radikal im Rousseau’schen Sinne verwirklichen und schnell in einer Tyrannei der Mehrheit münden können. Die Minderheit, die Teil der Gesamtgesellschaft ist, wird eine solche radikal-demokratische Ordnung nicht als legitim anerkennen können. Die Idee des demokratischen Verfassungsstaates beruht vielmehr darauf, die ungebändigte Mehrheitsherrschaft nicht nur zu ermöglichen, sondern zugleich rechtlich |101|einzuhegen und zu zähmen (insbesondere durch die Gewährleistung von Grundrechten) und dadurch für alle ertragbar zu gestalten.[574] Und schließlich wird eine demokratische Herrschaftsordnung nur dann mit sozialer Anerkennung rechnen können, wo sie den Herrschaftsunterworfenen im Vergleich zur Herrschaftsfreiheit erkennbare Vorteile bringt.[575] Aus diesen knappen Überlegungen lassen sich für den demokratischen Verfassungsstaat drei Legitimitätsanforderungen formulieren: Erstens ausreichend demokratische Teilhabe aller an der staatlichen Herrschaft, zweitens eine hinreichende Begrenzung der staatlichen Herrschaft sowie drittens die ausreichende Leistungsfähigkeit der Herrschaft.[576] Diese Elemente können hier nur sehr knapp skizziert werden.[577]

 

 Ausreichende Teilhabe an der Herrschaft. Das von der Verfassung gewährleistete Legitimationsniveau der zentralen Organe (Parlament, Regierung, Rechtsprechung) muss zu den konkreten gesellschaftlichen Erwartungen passen. Es ist daher nur bedingt möglich, bestehende Verfassungsordnungen unbesehen auf andere Gemeinwesen zu übertragen.[578] Jede Gesellschaft entwickelt im Laufe der Jahre ihre eigene „Demokratiekultur“. Während Deutschland mit der auf Ernst-Wolfgang Böckenförde zurückgehenden „Legitimationskettenkonzeption“ ein vergleichsweise strenges Konzept materieller demokratischer Rückbindung entwickelt hat, das dem Parlament eine zentrale Rolle zuweist („Wesentlichkeitstheorie“), ist das angloamerikanische Verständnis formaler. Als per se undemokratisch präsentiert sich dieser von der deutschen Konzeption abweichende Zustand nicht, erklärt aber, warum sich das Bundesverfassungsgericht auch mit der demokratischen Ordnung der Europäischen Union schwer tut und gerade VerfassungsjuristInnen und PolitologInnen unterschiedlicher Traditionen bisweilen schlicht aneinander vorbei reden.[579] Angesichts dieses Wechselspiels zwischen verfassungsrechtlicher Ordnung und demokratischen Erwartungen der Gesellschaft wäre es verfehlt, stets nach größtmöglicher demokratischer Rückkopplung zu streben. Zwar dürfte eine Gesellschaft für sich genommen nur selten etwas gegen eine ausgeprägte |102|Legitimation einzuwenden haben. Doch bedeutet mehr demokratische Rückkopplung in der Regel auch eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Herrschaftsmodells: Über alles abzustimmen mag besonders demokratisch erscheinen, zu einer sinnvollen Gestaltung wäre ein solches Gemeinwesen aber schon aus zeitlichen Gründen unfähig. Die Ermöglichung effektiver Herrschaft als einer weiteren Legitimitätsvoraussetzung setzt einer solchen Rückkopplung strukturelle Grenzen – und auch diese werden in den unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften an unterschiedlichen Stellen liegen. Leitlinie im Hinblick auf das Ausmaß demokratischer Teilhabe muss daher nicht ihre Maximierung, sondern die Verhinderung spürbarer Repräsentativitätsdefizite sein, Situationen also, in denen sich signifikante Teile der Bevölkerung nicht mehr hinreichend im politischen Prozess repräsentiert sehen. Unter welchen Voraussetzungen das der Fall ist, hängt erneut von der politischen Kultur ab. Gleiches gilt auch für die Frage, wie die Verfassungsordnung auf solche Situationen reagieren sollte. Wie zuletzt Armin Schäfer und Michael Zürn aufgezeigt haben, bestehen hier in vielen demokratischen Verfassungsstaaten aktuell gewisse Defizite.[580] Die Allgemeine Staatslehre ist dazu aufgerufen, diese allgemeinen Anforderungen im Einzelnen – in abstrakter als auch konkreter Form – zu entfalten und aufzuzeigen, wie sich diese auf die Legitimität eines Gemeinwesens auswirken können. Anschließend gilt es darzulegen, wie bestehende Defizite (theoretisch) behoben werden können.[581]

 Ausreichende Begrenzung der Herrschaft. Nur wenn zentrale und höchstpersönliche Lebensbereiche der demokratischen Mehrheitsentscheidung entzogen sind, kann ein Gemeinwesen damit rechnen, dass die Mehrheitsentscheidungen von der überstimmten Minderheit akzeptiert werden. Erneut steht diese Legitimitätsanforderung in einem Spannungsverhältnis zu den anderen beiden Anforderungen. Denn einerseits werden dem demokratischen Prozess dadurch Gegenstände entzogen und der privaten Ebene zugeordnet, auf der jedoch nicht demokratisch entschieden wird. Je weiter dieser Raum der Dunkelheit gezogen wird, der der staatlichen Ausleuchtung entzogen ist, desto kleiner ist der öffentliche (demokratische) Raum. Damit wird andererseits auch die Effektivität der Herrschaft begrenzt. Wie bei der Frage der ausreichenden Teilhabe an der Staatsgewalt muss jede Gesellschaft daher für sich selbst entscheiden, wie weit sie diesen |103|Raum der Dunkelheit dehnen, welche Entscheidungen sie also noch der staatlichen oder schon der privaten Ebene zuordnen will. Hier lassen sich – abgesehen von gewissen (menschenrechtlichen) Mindeststandards – keine festen Grenzen abstecken. Dabei gilt es zu beachten, dass das Ausmaß dieses Raumes zugleich Einfluss auf die Vielfalt eines Gemeinwesens hat. Gemeint ist damit allerdings nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Vielfalt. Jede Verfassungsordnung kann und muss also auch darüber entscheiden, welche Selbstverwaltungsrechte außerhalb allgemeiner demokratischer Verfahren sie welchen kollektiven Identitäten (etwa Religionsgemeinschaften) zuweisen will.[582]

 Ausreichende Leistungsfähigkeit der Herrschaft. Herrschaft ist kein Selbstzweck, für das Individuum vielmehr nur hinnehmbar, wenn sich für dieses im Vergleich zur Herrschaftslosigkeit Vorteile ergeben. Wo die BürgerInnen diese Vorteile nicht mehr zu erkennen vermögen, werden sie der konkreten Herrschaftsordnung die Legitimität verweigern, sich von dieser abwenden oder diese sogar aktiv bekämpfen.[583] Erneut ist damit noch nicht gesagt, welche konkreten Leistungen sich eine demokratische Gesellschaft – abgesehen von der grundlegenden Forderung nach Friedenssicherung – im Einzelnen erhofft. Hier sind es wieder die kulturellen Prägungen, die in der Verfassungsordnung ihre individuelle Spiegelung finden müssen. Tendenziell erwarten angloamerikanische Gesellschaften weniger staatliche Leistungen als europäische, fokussieren ihre Erwartungen eher auf die Begrenzung der Herrschaft und setzen stärker auf die individuellen (privaten) Fähigkeiten des Einzelnen. Das erklärt die verbreitete Skepsis in den USA im Hinblick auf ein staatliches Gesundheitssystem, ebenso wie den bisweilen etwas verstörenden Wunsch, Handfeuerwaffen zur eigenen (privaten) Verteidigung besitzen zu wollen. In Europa und insbesondere in den skandinavischen Ländern ist das anders. Wo Erwartungen und Leistungen auseinanderfallen, kann das in der Verfassungsordnung selbst oder in konkreten Entscheidungen der politischen Funktionsträger liegen. Ohne die Details analysieren zu können, scheint die Legitimitätskrise in vielen westlichen Demokratien auch in den neuen und vor allem globalisierungsbedingten sozialen sowie kulturellen, ökonomischen und ökologischen Verwerfungen (und der nicht ausreichenden Entschädigung der „VerliererInnen“ dieser Prozesse) ihre Ursache zu finden.[584] Hier wird man also den Blick schärfen müssen, um die gesellschaftlichen Erwartungen mit den vom Staat zu erbringenden (Schutz-) Leistungen in Einklang |104|zu bringen.[585] Die Erkenntnis, dass die Erwartungen in unterschiedlichen Gesellschaften in dieser Hinsicht stark voneinander abweichen und zwar angesichts der „Heterogenität von Lebens- und Wirtschaftsweisen“[586] insbesondere im Hinblick auf das Sozial- und Wirtschaftssystem spricht im Ergebnis dagegen, Herrschaft universal organisieren zu wollen, mithin gegen die Errichtung eines Weltstaates.

Diese drei Elemente, die im modernen Staat in den Staatsstrukturprinzipien Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat gespiegelt werden, stehen – das sollte deutlich geworden sein – in einem Spannungsverhältnis zueinander. Das passende „Mischungsverhältnis“ kann nicht nur zwischen einzelnen Staaten variieren, sondern sich auch innerhalb eines Staatswesens im Zeitablauf verändern. Das ergibt sich aus ihrer Werteabhängigkeit. Verändern sich die Wertvorstellungen einer Gesellschaft kann das folglich (erhebliche) Auswirkungen auf die Legitimität einer Herrschaftsordnung haben. „Conditions change, public expectations develop, and societal values (including legitimation norms) evolve.“[587] Denkbar sind auch kurzfristige und situationsbedingte (nicht verstetigte) Erwartungsveränderungen, auf die die Verfassungsordnung reagieren können muss. Das zeigt sich etwa im Krisenfall, der gemeinhin als „Stunde der Exekutive“ gilt:[588] Legitimitätstheoretisch zeigt sich hier meist eine Verschiebung der Erwartungen hin zur Effektivität staatlichen Handelns (Beseitigung der Krise) und damit zugleich weg von Teilhabe und Begrenzung. Bei länger andauernden Krisen – zuletzt der Coronapandemie – fallen die Erwartungen allerdings alsbald wieder in ihre Normallage zurück: Weil eine schnelle Krisenbewältigung nicht gelingt, wird dann auch wieder mehr Teilhabe an und mehr Begrenzung der Herrschaft gefordert (ergo: mehr Parlamentsbeteiligung und Aufhebung krisenbedingter Grundrechtsbeschränkungen). Aus diesen Überlegungen folgt zugleich: Das Alter einer politischen Ordnung ist kein automatischer Stabilitätsfaktor, kann sich sogar zur Belastung entwickeln, wenn die Legitimitätserwartungen der aktuellen Gesellschaft nicht mehr gespiegelt werden. Beobachten lässt sich das aktuell in Großbritannien, wo das althergebrachte politische System nicht mehr umfassend in der Lage zu sein scheint, die erforderlichen Integrationsleistungen für eine moderne pluralistische Gesellschaft zu erbringen.[589] Dass es sowohl |105|in Schottland wie auch in anderen Teilen des Landes Sezessionsbestrebungen gibt, dürfte auch damit zusammenhängen. Passt sich die politische Ordnung solchen Werteveränderungen nicht an – durch stillen Verfassungswandel oder andere Reformen – droht die Revolution, an deren Ende eine neue legitime Herrschaftsordnung steht.[590] Bestehende Legitimität ist nichts für die Ewigkeit, sie muss durch die Herrschaftsordnung ständig neu generiert werden.[591] Es sind dann die BürgerInnen, die im Smend’schen Sinne in einem täglichen (geistigen) Plebiszit darüber entscheiden, inwieweit dies gelungen ist. Damit ist die Frage nach der Legitimität staatlicher Herrschaftsordnungen wegen ihrer engen Verknüpfung mit sozialen und politischen Transformationen auch für die Allgemeine Staatslehre keine, die jemals abschließend beantwortet werden könnte:[592] „A crisis of legitimacy is a crisis of change, and therefore its roots, as a factor affecting the stability of democratic systems, must be sought in the character of change in modern society.“[593]

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