Allgemeine Staatslehre

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Allgemeine Staatslehre
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Alexander Thiele

Allgemeine Staatslehre

Begriff, Möglichkeit, Fragen im 21. Jahrhundert

2. Auflage

Mohr Siebeck GmbH & Co. KG


Inhaltsverzeichnis

  Vorwort

  A. Begriff und Verortung der Allgemeinen Staatslehre I. Der Staat als Gegenstand II. Die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre Wissenschaft III. Über einen bestimmten Staat hinausreichendes Erkenntnisinteresse IV. Ein Definitionsvorschlag

  B. Zur Möglichkeit einer Allgemeinen Staatslehre im 21. Jahrhundert I. Verliert die Allgemeine Staatslehre ihren Gegenstand? II. Fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an einer adäquaten Methode? III. Mangelt es der Allgemeinen Staatslehre an der notwendigen Problemnähe?

 C. Zehn Fragen an eine Allgemeine Staatslehre im 21. JahrhundertI. Was ist der „moderne Staat“ und wie ist sein Verhältnis zur Gesellschaft?1. Der moderne Staat als Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie3. Der demokratische Verfassungsstaat4. Der völkerrechtliche Staatsbegriff5. Weitere Staatsbegriffe6. Das Verhältnis von Staat und GesellschaftII. Wie entstehen Staaten, welche staatlichen Wandlungsprozesse lassen sich unterscheiden und wie und wann gehen Staaten unter?1. Entstehung von Staaten2. Transformatorische Prozesse und Verfassungsgebung3. Untergang von Staaten beziehungsweise „Failed States“III. Wie lässt sich Herrschaft rechtfertigen und wann ist Herrschaft legitim?1. Zur Rechtfertigung von Herrschaft2. Die Legitimität staatlicher Herrschaft3. Exkurs: Widerstandsrecht, ziviler Ungehorsam und ProtestIV. Welche (politischen) Regierungssysteme lassen sich unterscheiden?1. Klassische Typologien2. Moderne Typologie3. Die demokratischen Regierungssysteme4. Demokratieindizes5. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreV. Was sind die Grundelemente demokratischer Verfassungsstaaten und wie finanzieren sich diese?1. Gewaltenteilung2. Elemente der Herrschaftsteilhabe (Demokratieprinzip)3. Elemente der Herrschaftsbegrenzung (Rechtsstaatsprinzip)4. Elemente der Leistungsfähigkeit: Staatsaufgaben (Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip)5. Exkurs: Die Finanzierung des demokratischen VerfassungsstaatesVI. Welches sind die staatlichen Herrschaftsträger im politischen Prozess?1. Das Staatsvolk2. Das Parlament3. Staatsleitende Organe der Exekutive4. Die Bürokratie5. Rechtsprechung6. Kultur der Kooperation und ZurückhaltungVII. Welches sind die gesellschaftlichen Herrschaftsträger im politischen Prozess?1. Politische Parteien2. Interessenverbände3. Kirchen und Religionsgemeinschaften4. (Internationale) Unternehmen und Superreiche5. Finanzmarktakteure6. Öffentliche Meinung7. ExpertInnen („Expertokratie“)8. Das Problem des GeldesVIII. Welche föderalen und kommunalen Untergliederungen lassen sich im demokratischen Verfassungsstaat unterscheiden?1. Bundesstaatlichkeit2. Kommunale und regionale Selbstverwaltung3. Städte und „Megacities“4. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreIX. Wie ist die internationale und supranationale Kooperation demokratischer Verfassungsstaaten ausgestaltet?1. Völkerrechtliche Kooperationen2. Supranationale Kooperation3. Aufgabe der Allgemeinen StaatslehreX. Sollte der moderne Staat eine Zukunft haben?1. Denationalisierung der Staatenwelt2. Die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates3. Die Sicherung eines interstaatlichen Mindestschutzes

  D. Ausblick

  Literaturverzeichnis

  Sach- und Namensregister

[Zum Inhalt]

Vorwort

Moderne Staatlichkeit befindet sich in stetem Wandel, sieht sich fortdauernd vor neue Herausforderungen gestellt. Selten hat sich das so eindrücklich gezeigt, wie in den zwei Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage, in denen allein aufgrund der Coronapandemie zahlreiche Fragen staatlicher Organisation und Handlungsfähigkeit (Regierungssystem, Föderalismus, Exekutivlastigkeit, Parlamentsbeteiligung, Grundrechte) und der Legitimität von Herrschaftsordnungen in besonderer Weise auf die (politische und wissenschaftliche) Tagesordnung gerückt sind. Weltweit wurden die Gesellschaften in den Lockdown geschickt, Ausgangssperren verhängt und Kontaktverbote ausgesprochen. Der sich vermeintlich in Auflösung befindliche moderne Staat war zurück und zeigte mit großer Wucht, wozu er im Ausnahme- und Krisenfall (selbst gegenüber der scheinbar so autarken „Wirtschaft“) in der Lage ist. Dabei offenbarten sich zugleich Unterschiede im Umgang mit der Pandemie: Einerseits zwischen demokratischen und autokratischen Systemen, anderseits aber auch zwischen etablierten demokratischen Verfassungsstaaten, die auf diese Herausforderung mit eigenen Strategien reagierten – wobei in populistisch regierten Staaten eine Strategie bisweilen kaum erkennbar war (man denke an das Vorgehen Donald Trumps, Jair Bolsonaros, Boris Johnsons oder Narendra Modis, das, wie Adam Tooze festhält, teilweise schlicht auf Leugnung der Gefahren beruhte). Die Allgemeine Staatslehre hat die Aufgabe, diese aktuellen Entwicklungen bei ihrem ganzheitlichen Versuch, den Staat „in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion zu begreifen“ (Hermann Heller) aufzunehmen, ohne ihre historischen Wurzeln zu vernachlässigen oder in tagesaktuelle Nacherzählungen zu verfallen. Die Coronapandemie hat daher an zahlreichen Stellen Eingang in die zweite Auflage gefunden, zudem wurden weitere Aspekte aufgenommen oder eingehender behandelt (Digitalisierung, die Rolle von ExpertInnen, „Modern Monetary Theory“, die Funktion von Protest). Allgemeine Staatslehre ist – das bestätigt sich einmal mehr – ein dynamisches Lehr- und Forschungsfeld, das Erklärungsangebote für zahlreiche, auch jüngere Entwicklungen machen will und machen kann. Wie Martin Kriele treffend betont, ist damit zugleich jede Generation aufgerufen, ihre eigene Allgemeine Staatslehre zu verfassen. Ältere Werke werden dadurch nicht obsolet. Ihre grundlegenden Ergebnisse und Einsichten bleiben relevant – man denke an die bedeutenden Werke von Georg Jellinek, Hermann Heller, Hans Kelsen oder Herbert Krüger. Für die |VI| Beschreibung aktueller Problemlagen (Supranationalisierung, Digitalisierung, Populismus, Urbanisierung, Coronapandemie), ihre systematische Erfassung sowie für die Entwicklung von Lösungsangeboten können sie aber zwangsläufig weniger beitragen.

Vor diesem Hintergrund formuliert diese Einführung nach einer Verortung und generellen Rechtfertigung des Forschungsfeldes weiterhin zehn Fragen an eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet – das wäre auch gar nicht möglich. Gleichwohl geben die Antworten einen Überblick nicht nur über den Forschungsstand, sondern zeigen zugleich neue Aspekte auf, denen sich eine moderne und interdisziplinär ausgerichtete Allgemeine Staatslehre meines Erachtens widmen sollte. Sie wollen auf diesem Wege zum eigenen Weiterdenken und Vertiefen anregen. Das Buch richtet sich damit nicht nur an Studierende der Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, die sich einen ersten Eindruck von der Materie verschaffen wollen. Es adressiert vielmehr auch diejenigen, denen es um eine intensivere Behandlung dieser Thematik geht. Die Fragen (und Antworten) bauen zwar aufeinander auf, müssen aber nicht am Stück und nacheinander gelesen werden. Sie können und sollen auch als Anregung für diejenigen dienen, die nach interessanten Forschungsprojekten suchen. Der Fußnotenapparat ist daher umfangreich, wurde für die zweite Auflage noch einmal um aktuelle Beiträge ergänzt und umfasst nicht nur (deutsche) rechtswissenschaftliche, sondern auch politik-, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Literatur, um eine angemessene (erste) Vertiefung zu ermöglichen. Das Konzept unterscheidet sich dadurch partiell von anderen Lehrbüchern. Kritik ist damit ebenso erwartbar wie willkommen (Dank daher nicht zuletzt an Thomas Vesting für seine kritische Besprechung der ersten Auflage).

 

Auch für die zweite Auflage habe ich mich bei vielen Personen zu bedanken, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben. Das betrifft zunächst Jona Buhrke, Tabea Nalik, Victoria Kautzner, Johanna Kramer, Katharina Kriebel, Cederic Meier, Lara Schmidt, Karolin Schwarz, Clara Wolf und Felicitas Wolf. Sie haben das Manuskript nicht nur (mehrfach) Korrektur gelesen, sondern zudem wertvolle Hinweise zu seiner Verbesserung gegeben. Sarah Ehls hat wesentliche Impulse für das Design des Umschlagmotivs geliefert, das bei der zweiten Auflage unverändert geblieben ist. Pia Lange hat in unzähligen Gesprächen und mit ihren Anmerkungen und Anregungen erneut zum Gelingen beigetragen. Daniela Taudt vom Verlag Mohr Siebeck hat das Manuskript gemeinsam mit Rebekka Zech und Lisa Laux wie stets hervorragend betreut. Vielen Dank!

Gewidmet ist auch diese Auflage meinem viel zu früh verstorbenen akademischen Lehrer Werner Heun. Vor mittlerweile mehr als zwanzig Jahren saß ich an der Universität Göttingen erstmals in seiner Vorlesung zur Allgemeinen Staatslehre und war von Anfang an fasziniert – nicht nur vom |VII| Thema, sondern insbesondere von den (historischen) Kenntnissen und der Belesenheit des Dozenten. Dass ich Jahre später ausgerechnet an seinem ehemaligen Schreibtisch ein einführendes Lehrbuch zur Allgemeinen Staatslehre verfassen würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

Berlin, im Dezember 2021 Alexander Thiele

[Zum Inhalt]

A. Begriff und Verortung
der Allgemeinen Staatslehre

„Die wichtigste, auf menschlicher Willensorganisation beruhende soziale Erscheinung aber ist der Staat […].“

Georg Jellinek [1]

„[D]ie Basis aller juristischen Betrachtungen ist nach wie vor die rechtsdogmatische Festlegung der Begriffe.“

Hans Peters [2]

Was ist Allgemeine Staatslehre? In welchem Verhältnis steht die Allgemeine Staatslehre zum Staatsrecht, zur (vergleichenden)[3] Verfassungslehre, zur Staats-, Politik- aber auch zur Sozial- und Wirtschaftswissenschaft? Ist eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert in Zeiten voranschreitender Globalisierung und eines (vermeintlichen) Untergangs des modernen Staates noch zeitgemäß? Ist sie im ausgefächerten Wissenschaftssystem noch möglich? Und wenn ja: Wie könnte ein angepasstes und auf aktuelle Entwicklungen reagierendes Lehr- und Forschungsprogramm aussehen, das versucht, Tradition und Gegenwart der Disziplin miteinander zu versöhnen?

Die Antwort auf diese Fragen fällt schwerer als man angesichts der langen, in das 19. Jahrhundert zurückreichenden[4] und vornehmlich deutschsprachigen[5] Tradition der Allgemeinen Staatslehre vermuten würde.[6] Eine |2|allgemeingültige Definition „dieses in die Jahre gekommenen Disziplinformats“[7] fehlt weiterhin, man wird sogar sagen können, dass die Beschreibung ihres Gegenstandes den ersten Streitpunkt unter denjenigen darstellt, die sich der Allgemeinen Staatslehre verschrieben haben. Es besteht dadurch eine erhebliche Unsicherheit, wenn man zu bestimmen versucht, womit sich die Allgemeine Staatslehre beschäftigt oder womit sie sich beschäftigen sollte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass (klassische) Lehrbücher auf diesem Gebiet nicht nur eine individuelle Begrifflichkeit zugrunde legen, sondern zugleich individuelle Schwerpunkte setzen und damit ihren eigenen (wissenschaftlichen) Weg gehen. In der Konsequenz unterscheiden sich die Lehrbücher signifikant in Inhalt, Aufbau und Konzeption. Anders ausgedrückt: Allgemeine Staatslehre ist nicht gleich Allgemeine Staatslehre. Der Großteil der Lehrbücher – und das gilt gleichermaßen für ältere wie für neuere Werke – verzichtet auf eine knappe und einprägsame Definition und wählt stattdessen den Weg der beschreibenden Erläuterung, in der weniger dargelegt wird, was Allgemeine Staatslehre generell ist oder sein sollte als vielmehr, was der jeweilige Verfasser darunter versteht.[8] Für die Vorlesungen, die an den unterschiedlichen Fakultäten gehalten werden, gilt nichts anderes, zumal diese bisweilen mit der Verfassungsgeschichte und anderen Grundlagenfächern kombiniert werden und schon dadurch divergierende Schwerpunkte setzen. Zum juristischen Pflichtstoff zählt die Allgemeine Staatslehre ohnehin – wenn überhaupt – nur als Bestandteil der Grundlagenfächer.[9] Was Studierende erwarten können, die diese Vorlesung besuchen, erfahren sie daher erst zu Beginn des Semesters und es variiert in Abhängigkeit von den DozentInnen. Hier zeigt sich bereits ein Unterschied zu den Kerngebieten des öffentlichen Rechts. Inhalt und Aufbau der gängigen Lehrbücher weisen dort eine große Ähnlichkeit auf, was daran liegt, dass eine prinzipielle Einigkeit über den behandelten Gegenstand und auch über die Art der Darstellung besteht. Das gilt für den Bereich des Staatsrechts (insbesondere für die Grundrechts-Lehrbücher), ebenso aber für das Verwaltungsrecht.[10] Deutlich wird dies auch in den Prüfungsordnungen der Landesjustizprüfungsämter, die in diesen Bereichen vergleichsweise kongruent ausfallen.

|3|Diese unterschiedlichen Lehrverständnisse spiegeln die wissenschaftliche Welt der Allgemeinen Staatslehre. Ein konsentiertes Forschungsprogramm fehlt,[11] was allerdings nicht zwingend als Defizit angesehen werden muss, sondern auch als wissenschaftliche Offenheit einer sich entwickelnden Programmatik im (globalen) Kontext interpretiert werden kann. Wichtiger als wissenschaftlicher Konsens, so ließe sich formulieren, ist dann die konstante Debatte über Begriff und Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre. Diese Debatte hält die Allgemeine Staatslehre am Leben; käme sie an ihr Ende, dürfte das das Ende der Allgemeinen Staatslehre in ihrer bisherigen „experimentellen“ Form sein.

Auf den folgenden Seiten soll vor diesem Hintergrund ein Beitrag zu dieser Debatte geleistet und ein Vorschlag gemacht werden, was unter einer modernen Allgemeinen Staatslehre zu verstehen sein könnte, welche Aufgaben eine solche im 21. Jahrhundert sinnvollerweise (noch) wahrnehmen kann und an welchen Stellen sich konkreter Forschungsbedarf entdecken lässt. Anders formuliert: Es geht um die Beantwortung der an die Schiller’sche Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1789 anknüpfenden Frage: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Allgemeine Staatslehre?

Betrachtet man die bestehenden Vorstellungen von und Beschreibungen der Allgemeinen Staatslehre vor diesem Hintergrund, lassen sich drei Gemeinsamkeiten herausschälen, die – bei allen Unterschieden im Detail und in der Gewichtung – das weitgehend konsentierte Fundament der Allgemeinen Staatslehre bilden. Sie werden im Folgenden skizziert (I–III) und liegen der knappen Definition zugrunde, die anschließend vorgeschlagen wird (IV).

Fußnoten

1

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 4.

2

H. Peters, in: Verwaltungsakademie Berlin, Gegenwartsfragen der Kommunalverwaltung, S. 139 (140).

3

Dazu etwa A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010.

4

Vgl. C. Möllers, Der vermisste Leviathan, S. 9 f.

5

Eine entsprechende Disziplin findet sich allein im deutschsprachigen Raum (also in Deutschland, Österreich und der Schweiz), vgl. A. Voßkuhle, Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (2). Siehe knapp zur historischen Entwicklung auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 5. Relativierend allerdings C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (359 f.).

6

Siehe auch R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 15: „Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“

7

M. Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: O. Depenheuer/C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1, Rn. 5.

8

Vgl. etwa H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, S. 1: „Abstrakt-begriffliche Definitionen wären hier allerdings wenig fruchtbar.“

9

Ob das vor dem Hintergrund der im Jahr 2012 veröffentlichten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für das juristische Studium sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, gerade weil die Allgemeine Staatslehre als interdisziplinäre und internationale Wissenschaft geeignet ist, Erklärungsansätze für die vielfältigen globalen Entwicklungen anzubieten.

10

Das schließt Unterschiede im Detail und in den Schwerpunktsetzungen natürlich nicht aus. Gerade bei den klassischen Lehrbüchern „weiß“ man aber als LeserIn was einen erwartet. Und auch die Vorlesungen sind in diesen Bereichen zumindest inhaltlich ähnlich aufgebaut.

11

Siehe auch O. Lepsius, Besprechung von Thomas Vesting, Staatstheorie, JZ 2019, 991 (992): „Wie immer bei Staatslehren ist unklar, was eigentlich genau mit dem Erkenntnisgegenstand ‚Staat‘ erforscht werden soll.“

I. Der Staat als Gegenstand

Bei der Allgemeinen Staatslehre geht es erstens um eine Betrachtung des kulturellen, sozialen und normativen Phänomens „Staat“ beziehungsweise „Staatlichkeit“: „Der Untersuchungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre ist der Staat“, heißt es bei Burkhard Schöbener und Matthias Knauff[12] gleich zu Beginn ihres Werkes, für Georg Jellinek ist Aufgabe der Staatslehre „Erkenntnis der Erscheinung des Staates nach allen Richtungen seines Daseins“[13], Roman Herzog zählt die Staatslehre zu den Wissenschaften, „die sich mit dem Staat befassen“[14] und Hans Herbert von Arnim sowie Herbert Krüger |4|streben gar die Entwicklung einer „Theorie des Staates an sich“[15] respektive eine „wahrhaft(e) Lehre vom Staate“[16] an. Zwar lehnt Hermann Heller eine Untersuchung des „Wesens“ des Staates insoweit ab, als eine solche vom Staat als eines „unveränderlichen Ding[s] mit zeiträumlich konstanten Merkmalen“[17] ausgeht. Gleichwohl will aber auch er „den Staat begreifen in seiner gegenwärtigen Struktur und Funktion.“[18]

Die Feststellung der Staatszentriertheit der Allgemeinen Staatslehre mag auf den ersten Blick banal erscheinen – wie sollte es bei einer Wissenschaft anders sein, die den Staat schon im Namen trägt? Gleichwohl geht mit ihr eine Begrenzung des zu behandelnden Gegenstandes einher, gerade im Vergleich zu den Wirtschafts-, Politik- sowie anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Diese können und müssen Teil einer Allgemeinen Staatslehre nur sein oder tragen zu dieser nur bei, soweit es um Fragestellungen geht, die in einer Nähebeziehung zum modernen Staat oder zur Staatlichkeit stehen. Diese Wissenschaften weisen zur Allgemeinen Staatslehre also Schnittmengen auf, überlappen sich mit dieser aber nicht vollständig. Welcher Art und wie konkret diese Nähebeziehung ausgestaltet sein muss, bleibt offen und lässt sich nicht abschließend angeben. Tatsächlich gibt es – wie Georg Jellinek treffend formuliert – kaum ein „Gebiet menschlicher Gemeintätigkeit, das nicht in Beziehungen zum Staate stünde“.[19] Hier dürfte ein Grund für die abweichenden Inhalte der Lehrbücher zur Allgemeinen Staatslehre und die divergierenden Forschungsfragen liegen. Welche Nähebeziehung als ausreichend, welche Berührungspunkte als unerheblich eingeordnet werden, wird nicht einheitlich beurteilt. An der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Allgemeinen Staatslehre von den anderen Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ändert dieser Befund jedoch nichts, oder anders: Die Allgemeine Staatslehre geht nicht vollständig in diesen anderen Wissenschaften auf,[20] so wie auch diese nicht in der Allgemeinen Staatslehre aufgehen. Es ist vor diesem Hintergrund kein Widerspruch, wenn das zu skizzierende Forschungsprogramm auch gesellschaftliche Gruppierungen und Phänomene (etwa Gewerkschaften, internationale Unternehmen und Investmentfonds, Geschäftsbanken, Bürgerinitiativen [„Fridays for Future“] oder Rundfunk, Fernsehen und soziale Medien) in den Blick nimmt, solange zu jedem Zeitpunkt verdeutlicht wird, woraus sich – nach Ansicht des Verfassers – die spezifische Nähebeziehung zum Staat oder zum Phänomen Staatlichkeit ergibt.

 

|5|Die Untersuchung des Staates erfolgt nicht nur empirisch betrachtend, sondern zugleich normativ bewertend; es geht mit Hans Herbert von Arnim darum, zu beschreiben, zu erklären, zu bewerten und zu kritisieren sowie um das Entwickeln von Verbesserungsvorschlägen.[21] Die Allgemeine Staatslehre ist Seins- und Sollenswissenschaft zugleich.[22] Die ausschließliche Beschreibung des Bestehenden, gewissermaßen der „staatlichen Tatsachen“, wäre zwar möglich. Und es steht außer Frage, dass mit der damit einhergehenden Systematisierung der weltweiten Staatenvielfalt und der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ein Mehrwert verbunden wäre. Die unterschiedlichen Formen moderner Staatlichkeit und die historisch-pfadabhängigen Wandlungsprozesse (nicht zuletzt auf dem afrikanischen Kontinent)[23] sind auch für ExpertInnen kaum noch zu überblicken. Der Staat ist nicht statisch, sondern „Prozess“,[24] mehr „atmende(s) Wesen als statische Konstruktion“,[25] was sich in der Coronapandemie in besonderer Weise gezeigt hat. Eine solche, rein beschreibende und ordnende Allgemeine Staatslehre verlöre aber ihren Charakter als kritische Wissenschaft, schrumpfte zur „positivistischen Begleitwissenschaft“ und wäre in einer solchermaßen faden und blutleeren Form nicht in der Lage, Impulse für die Entwicklung der Staaten zu liefern und Fehlentwicklungen zu thematisieren. Eine solche Allgemeine Staatslehre könnte mit jeder Ausprägung von Staatlichkeit leben – der Staat und die Staatenwelt wären wie sie sind: Der Hobbes’sche Leviathan mal mehr und mal weniger gebändigt, mal gewalttätig, mal schwach bis zur Bedeutungslosigkeit. Für eine neutrale Allgemeine Staatslehre stellten sich daran anknüpfende Fragen nicht. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die Erosion des demokratischen Verfassungsstaates,[26] ja sogar die Entstehung neuartiger autoritärer Staatsformen wäre für sie lediglich Anlass zur Anpassung der gefundenen Ergebnisse aber niemals Ausgangspunkt für Kritik oder (lautstarke) Empörung. Eine solche Allgemeine Staatslehre aber kann es nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht (mehr) geben:[27] „Staatslehre muss auch kritisch sein“.[28] Ähnlich |6|formuliert Herbert Krüger: „Eine Staatslehre lässt sich gewiss nicht ohne inneres Beteiligtsein schreiben, um von dem Sinn für Staatlichkeit und ihre Würde ganz zu schweigen.“[29] Wo Menschen gefoltert, Meinungen unterdrückt, JournalistInnen inhaftiert, Medien behindert und Oppositionelle gegängelt werden, darf eine moderne Allgemeine Staatslehre nicht in unparteiischer Lethargie, Langeweile und Beliebigkeit verharren. Auch die Auswirkungen des vorherrschenden Wirtschaftssystems auf den sozialen Zusammenhalt wird sie nicht unkommentiert lassen können. Allgemeine Staatslehre ist nicht wertneutral, ohne dass dazu Übereinstimmung in der Ausgestaltung des normativen Referenzmodells bestehen müsste, an dem die reale Staatenwelt gespiegelt wird. Es ist aber Aufgabe einer jeden Allgemeinen Staatslehre ein Referenzmodell anzubieten und zur Diskussion zu stellen.[30] Nach hier vertretener Ansicht kommt allein der (denationalisierte)[31] demokratische Verfassungsstaat[32] als Referenzmodell in diesem Sinne in Betracht.[33] Nur dieser geht von der gleichen (politischen) Freiheit aller – dem demokratischen Grundversprechen – sowie der unveräußerlichen Menschenwürde jedes Individuums unabhängig von Rasse, Geschlecht, politischer Anschauung oder sexueller Orientierung aus.[34] Seine Struktur, Ausgestaltung und Charakteristika sollten daher auch im Forschungsprogramm der Allgemeinen Staatslehre im Zentrum stehen. Beide Ebenen – also die tatsächliche und die normative Ebene – gilt es freilich in der Darstellung durchgehend und deutlich erkennbar voneinander zu scheiden: „Stets sollte also klar sein, ob eine Aussage die tatsächlichen Gegebenheiten beschreibt oder sie kritisch bewertet und eine bessere Alternative vorschlägt, kurz, ob man von dem spricht, was ist, oder von dem, was sein soll.“[35]

Die Einigkeit im Hinblick auf ihren zentralen wissenschaftlichen Gegenstand – den Staat – darf nicht mit einer wissenschaftlichen Einigkeit hinsichtlich des zugrundeliegenden Staatsbegriffs verwechselt werden. Angesichts „der Mannigfaltigkeit, die der Staat darbietet“[36] ist dieser Befund nicht |7|überraschend – „der Staat“ kann nicht nur auf unterschiedliche Weise betrachtet, sondern auch auf unterschiedliche Art definiert werden:[37] „Man kann sehr Verschiedenes als ‚Staat‘ bezeichnen.“[38] Tatsächlich bildet die Frage nach dem Wesen des modernen (neuzeitlichen) Staates und den diesen prägenden Merkmalen einen zentralen Diskussionspunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung innerhalb der Allgemeinen Staatslehre.[39] Sie bleibt ein zentraler Forschungsbereich und dürfte es angesichts des steten Wandels von Staatlichkeit und neuartiger Herausforderungen (Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung) dauerhaft bleiben.[40] Auch die unten (und zuvor bereits an anderer Stelle)[41] präsentierten historischen Wesensmerkmale, die den modernen Staat der Neuzeit prägen und von vorherigen staatlichen (oder staatsähnlichen) Gemeinwesen unterscheiden, sind nur eine Momentaufnahme. „It may seem curious that so great and obvious a fact as the state should be the object of quite conflicting definitions, yet such is certainly the case.“[42] Auch insoweit ist es dem Verfasser überlassen, sich „seinen modernen Staat zu schaffen“ oder (in den Worten Egon Friedells) gerade im Hinblick auf die staatliche Entwicklungsgeschichte seine „Legende“ über den modernen Staat zu erzählen[43] und in den Diskurs einzupflegen – stets in kritischer Auseinandersetzung mit den dazu in Vergangenheit und Gegenwart vorzufindenden Vorschlägen, Ansätzen und Ideen.[44]