Albert, der Volksmusik-Migrant oder Die Marketing-Gesellschaft

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Albert, der Volksmusik-Migrant oder Die Marketing-Gesellschaft
Font:Smaller АаLarger Aa

Alexander Falk

Albert, der Volksmusik-Migrant

oder

Die Marketing-Gesellschaft

Vielen Dank an Ideengeber wie Christian Bluhm, Alexandra Kröll, Thomas Kleimann und Wolfgang Dietz.

Das vorangestellte Zitat ist der folgenden Quelle entnommen: Ulrich Brieler, Der neoliberale Charakter, in: Freitag 48/2005.

In postmoderner Spiel- und Unart enthält der Text weitere, nicht belegte, zitierte Stellen.

Das Lied »Du« schrieben Christian Bluhm und Alexander Falk.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen in diesem Buch wären rein zufällig, sind vom Autor nicht beabsichtigt und im Zweifelsfall einzig dem Sujet geschuldet.

»Albert, der Volksmusik-Migrant oder Die Marketing-Gesellschaft«

© 2015 Alexander Falk

Verleger: A. Falk, 63679 Schotten

E-Mail: a_falk (at) web.de

1. Auflage März 2015

Durchgesehene Auflage März 2019

Immer ist das Subjekt unterwegs, ohne jemals anzukommen, ein lebenslanger Arbeitseinsatz. (…)

Der neoliberale Charakter meldet seine Dringlichkeit da an, wo die hochtechnologische Produktionsweise einen Menschentypus fordert, der die eigene Verwertung autonom organisiert. Der Kern dieser Subjektivität ist die Selbst-Fixierung als Ware. Man soll es selbst tun, und es geht ums ganze Selbst. War vor nicht so langer Zeit die Behauptung: »Der Kerl verkauft sich ja!« ein Vorwurf erster Güte, so fragt man heute: »Warum verkaufst Du Dich nicht richtig?« Der Wettlauf zur Warenförmigkeit ist das erklärte Programm des neoliberalen Charakters. (…)

Von überall her erklingt die Aufforderung an den neoliberalen Menschen: Du bist nichts, wenn Du nichts aus Dir machst! Kein Fetzen Leben darf sich der Verwertbarkeit entziehen. (…)

Was das Leben sein soll, wird durch Lifestile-Magazine, Managementknigges und Anleitungen zum Glücklich-Sein diktiert, aber vor allem und allem als Grundlage dienend durch die alltägliche Einreihung ins Unvermeidliche einer käuflichen Existenz. (…)

Der neoliberale Charakter wird uns noch viel Freude bereiten.

Ulrich Brieler, Der neoliberale Charakter

Am Kopierer

Während das Klingelzeichen zum zweiten Mal ertönte und somit den freitagmorgendlichen Unterrichtsbeginn an der Hjalmar-Schacht-Schule signalisierte, beäugte Andreas Meier kritisch abermals das Bedienfeld des neuen Kopierers, dessen an verschiedenen Stellen angebrachten Lämpchen drohend rot leuchteten.

»Papierstau! Schritt 4 von 12: Öffnen Sie die Abdeckplatte D 4 und entfernen Sie das Papier«, stand auf dem Display. Da Meier für die ersten vier Schritte bereits zehn Minuten gebraucht hatte, erschien ihm die Lage zunehmend hoffnungslos. Die neuen Kopierer, für deren Anschaffung sich die Schulleiterin jüngst auf der Gesamtkonferenz ausgiebig beklatschen ließ und deren Benutzung anschließend in einem 20-minütigen »Crash-Kurs« von einem jungen pickligen IT-Fachmann (der sich als ehemaliger Schüler von Meier erwies, den er schon längst vergessen hatte) mit einer 50-seitigen »Power-Point«-Präsentation vorgestellt worden war, stellten leider in ihrer Kompliziertheit offenbar ein Problem für einen erheblichen Teil des Kollegiums dar. Meier hatte dann auch an diesem Morgen den Kopierer im besagten blockierten Zustand vorgefunden, ein anderer Kollege hatte scheinbar schon am gestrigen Tage oder früh am heutigen Morgen die Versuche eingestellt, den Papierstau zu beheben.

In diesem Moment gab ein leises Piepsen dem Politiklehrer zu verstehen, dass er sich neu am Display der Maschine anzumelden habe, da seit einer Minute das Bedienfeld nicht betätigt worden war. Meier ächzte und suchte in seiner Schultasche nach dem gerade in ihr versenkten Zettel, auf dem er sich seine Nummer zum Login aufgeschrieben hatte. Da sich »ein gerne anonym bleibend wollender Kollege« bei der Schulleiterin beschwert hatte, dass die ihm zugewiesene vierstellige Nummer »nicht sicher« sei und er keine Lust habe, am Schluss des Schuljahres »einen Haufen Geld« nachzuzahlen, bekam jedes Mitglied des Kollegiums (mit Ausnahme der Referendare) im Anschluss an ein dreitägiges Kopiermoratorium eine neue zehnstellige Ziffernkombination zugeteilt, die sich Meier partout nicht merken konnte.

Nachdem er schließlich den Zettel gefunden und seine Kennzahl eingegeben hatte, blickte sich Meier hilfesuchend um, allerdings war die einzige Kollegin, welche sich im Raum befand, Manuela Hansen, die in der Nähe der Tür ihr Make-up vor (und während) der ersten Unterrichtsstunde im Spiegel über dem Waschbecken sorgfältig auf Vordermann brachte. Sie zu fragen erübrigte sich von selbst, da sie – wie Meiers bester Freund und Kollege Dieter Wollschick meinte – vermutlich den Kopierer niemals benutzen würde, um nicht in Gefahr zu laufen, ihre langen, an jedem Wochentag anders lackierten, Fingernägel abzubrechen. Wollschick gab sogar zum Besten, er habe gesehen, dass sich Manuela von ihrer Referendarin Klassenarbeiten und Arbeitsblätter kopieren lies, wobei er meinte, dass sie nur die Betreuung als Mentorin für Hermine Hohlingshausen übernommen hätte, um sich solche Arbeiten zu ersparen. Meier hingegen war eher der Überzeugung, dass seine Kollegin, die seit Ende ihres Referendariats vor zwei Jahren alles tat, um »endlich« Oberstudienrätin zu werden, die Mentorenschaft einzig als strategische Ergänzung für ihr »Portfolio« betrachtete: Schließlich hatte sie es geschafft, im vergangenen Jahr geschätzte zwei Dutzend Unterrichtstage auf Fortbildungen zu verbringen, den Vorsitz in der »Ge­sund­heits­gruppe« zu übernehmen sowie jüngst unter großem Getöse und der tätigen Mithilfe ihrer Referendarin den Beauty und Wellness-Ausschuss der HSS zu gründen.

Meier fuhr sich frustriert durch seine graumelierten fast schulterlangen Haare, seufzte und zog abermals die obere Abdeckplatte des Kopiergeräts beiseite, wobei ihm ein nach Toner riechender Schwall warmer Luft entgegenstieg. Immer noch konnte er nirgends ein Blatt Papier entdecken, welches in der Maschine für die Fehlermeldung sorgte.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und hektisch eilte Hermine Holingshausen, bewaffnet mit einem »Moderatorenkoffer« sowie einem bunten Stapel A3-Plakate in den Raum. Ihr direkt auf den Fersen war wie immer Meiers eigener Schützling, der Referendar Jonas Hutmann. Dessen zunehmend verzweifelten Versuche, Hermine zu Diensten zu sein, sorgten bei Meier, Wollschick und einigen weiteren Kollegen für ständige Belustigung.

Hermine warf sich scharf herum, wobei ihre langen blonden Haare dem beflissenen Jonas fast ins Gesicht schlugen und drückte ihrem Mit-Referendar den mitgeschleppten Berg von Unterrichtsmaterial in die Hände. Ihre Mentorin zuckte derweil mit keiner Miene und zog weiter gewissenhaft mit dem Eyeliner ihre Augenbrauen nach.

»Oh je, Andreas, brauchst du etwa noch länger am Kopierer?« fragte Hermine mit ihrer etwas piepsigen Stimme. Bei diesen Worten rückte sie nahe an Meier heran, so dass dieser den Duft ihres dezent-verführerischen Parfüms wahrnahm.

»Äh, das weiß ich nicht. Das Ding ist mal wieder gestört«, meinte Meier.

»Ach, vielleicht kann ja Jonas mal einen Blick darauf werfen?« gab Hermine von sich.

Hutmann drängte sich aufgrund dieses Stichworts sofort beflissen an Hermine heran, gab seinem Mentor die Materialien und ging auf die Knie, um einen besseren Blick in die unteren Bereiche des Kopierers zu erhaschen. In sich hineingrinsend dachte Meier, dass Jonas Hutmann dabei auch Hermines nackten Beinen – sie trug einen kurzen Rock – bis auf circa zehn Zentimeter nahekam, was wohl einen erfreulichen Nebeneffekt für den Referendar darstellte.

Fieberhaft begann Hutmann an dem Kopierer herumzuhantieren und an verschiedenen Rollen zu drehen, ohne dass sich der Zustand irgendwie änderte.

»Mh, ich kann hier wirklich nichts finden«, hörte Meier Hutmann schließlich von unten herauf murmeln. Lauter fügte er hinzu: »Aber so schnell gebe ich nicht auf.«

Meier suchte währenddessen im Raum einen Platz für das Unterrichtsmaterial von Hermine und hatte sich endgültig damit abgefunden, ohne die Kopien mit gehöriger Verspätung seinen Unterricht zu bestreiten. In diesem Moment wurde die Tür abermals mit einem Ruck aufgerissen: Henrietta-Sophia von Ahlen betrat resolut, die Anwesenden abschätzig betrachtend, den Raum.

»Na, Andreas, hast du mal wieder den Kopierer kaputt gemacht?« fuhr sie ihn unverzüglich an.

Meier und von Ahlen waren einander durch ihre tiefe persönliche Abneigung verbunden. Der Politikfachleiter hatte jüngst unter anderem verhindert, dass seine Kollegin, für die von ihr gegründete Gender AG der HSS, 30 Exemplare des »Klassikers« Das kontrasexuelle Manifest von Beatriz Preciado zu Lasten des Fachs Politik bestellen konnte. Prompt hatte von Ahlen das Werk daraufhin von der Elternspende anschaffen lassen.

Die Gender AG war vielen männlichen Kollegen ein Dorn im Auge, allerdings traute sich so gut wie niemand, offen dagegen Stellung zu beziehen. Von Ahlen hatte die Arbeitsgemeinschaft unter dem Beifall der Schulleitung, des Schulamtes und der dortigen Gleichstellungsbeauftragten vor gut einem Jahr gegründet. Ein großer überregionaler Zeitungsartikel rundete den Coup von Ahlens ab und ihre Beförderung zur Oberstudienrätin erfolgte postwendend. Meier hingegen, der sich seit fast 20 Jahren im Schuldienst abmühte, war immer noch Studienrat.

Ein weiterer Punkt, der ihn gegen seine Kollegin einnahm, war die Tatsache, dass diese die Fakultas für das Fach Politik zuerkannt bekommen hatte, obwohl sie im Studium neben dem Abschluss im Hauptfach Ernährungswissenschaften nur einen Bachelor of arts für Gender studies erlangt hatte.

 

»Nein, Henrietta-Sophia, den Kopierer habe ich schon so vorgefunden. Es muss dementsprechend ein Kollege gewesen sein, der ihn so hinterlassen hat«, beeilte sich Meier anzumerken. Er hatte den Satz kaum beendet, als er auch schon von der Oberstudienrätin zurechtgewiesen wurde:

»Das muss heißen: ›Es muss eine Kollegin oder ein Kollege gewesen sein, die oder der den Kopierer so hinterlassen hat‹«, verbesserte von Ahlen den Politiklehrer. »Selbst wenn es vermutlich ein männliches Teil des Kollegiums war, kannst du nicht sicher sein und somit muss ich dich wieder einmal bitten, eine diskriminierende Sprache zu unterlassen. Ich habe es ja schon einmal deutlich gemacht, dass ich es besonders von dir als Repräsentant für das Fach Politik erwarte, dass du ein wenig Fingerspitzengefühl beweist und das sexistische generische Maskulinum meidest.«

Meier grinste fast unmerklich in sich hinein, da von Ahlen in ihrer gegenderten Rede die Bezeichnung »männliches Teil« verwendet hatte, wohl um die noch schlimmere Bezeichnung »Mitglied« zu umgehen. Er vermied es, eine direkte Antwort zu geben und legte Hermines Materialienstapel auf den Boden neben den Stahlschrank mit Schülerakten. Währenddessen drängte seine Kollegin den Referendar beiseite, drückte unten an eine der Papier führenden Rollen und zog ein Blatt zerknittertes Papier heraus. Sie musterte dieses kurz aufmerksam, um herauszubekommen, wer für den Papierstau verantwortlich war und steckte es dann wortlos in ihre Tasche.

Jonas Hutmann sah inzwischen beschämt, dass die Warnleuchten an dem Kopierer erloschen und dieser scheinbar wieder funktionsfähig war. Zu allem Überfluss bedankte sich Hermine nun auch noch bei von Ahlen für ihren Einsatz, während er mit tonerverschmiertem Hemd danebenstand.

»Darf ich zuerst, Andreas?« fragte Hermine Meier mit einem Augenaufschlag. »Es ist echt dringend, ich habe in der dritten Stunde einen Unterrichtsbesuch.«

Meier nickte nur, fröstelnd unter dem gestrengen Blick von Ahlens. Manuela Hansen hatte inzwischen offenbar den Raum verlassen, denn als Meier sich an diese wenden wollte, war der Platz am Waschbecken verwaist.

Hermine legte inzwischen einen Stapel clipartverzierter Arbeitsblätter und Reflexionsbögen in den Einzug des Kopierers und drückte die grüne Taste. Zu ihrer Überraschung geschah allerdings erst einmal nichts.

»Huch, Frau von Ahlen, der Kopierer geht immer noch nicht! Oh je, was wird nur aus meinem UB?« sagte sie mit leicht panischem Ausdruck in der Stimme.

Bevor von Ahlen antworten konnte, sah Jonas Hutmann seine Chance, den Fauxpas von eben wieder gutzumachen. Er berührte Hermine leicht an der Schulter, schob sie sanft ein wenig nach links und stellte sich vor das Display.

»Schau mal, Hermine, das ist nur die Warnmeldung, die jetzt immer ausgegeben wird, bevor du drucken kannst.«

»Welche Warnmeldung denn?« fragte die Referendarin verwundert.

»Sie sollten regelmäßig Ihre dienstlichen E-Mails lesen«, mischte sich von Ahlen ein. »Frau Schindler hat an diesem Wochenende alle Kolleginnen und Kollegen darauf hingewiesen, dass aufgrund des hohen Kopieraufkommens in Zukunft vor dem Drucken drei Hinweise erfolgen werden …«

Sie schob abermals den armen Jonas Hutmann zur Seite und begab sich an das Display.

»… wobei der erste Hinweis, wie Sie hier sehen können, lautet: ›Handelt es sich bei der geplanten Kopie um einen dienstlichen Inhalt?‹ Hiermit bestätigen Sie, dass Sie keine Privatkopie tätigen. Ich erinnere nur an die humorlosen Kopien des Kollegen Wallmann, der niveaulose Karikaturen zur Belustigung seiner Tischkollegen im Lehrerzimmer vervielfältigt hat.«

Von Ahlen machte eine Pause und betrachtete kurz die zuoberst liegende Kopiervorlage.

»Frau Hohlingshausen! Hier in der vierten Zeile schreiben Sie: ›Erörtern Sie die Problematik mit Ihrem Tisch­nachbarn.‹ Dies muss – wie Sie wissen sollten – heißen: ›Erörtern Sie die Problematik mit Ihrer Tischnachbarin oder Ihrem Tischnachbarn.‹ Ich kann mir nicht vorstellen, dass mensch im Studienseminar eine solche diskriminierende Sprache duldet. Korrigieren Sie dies umgehend! Wer ist eigentlich Ihre Ausbilderin oder Ihr Ausbilder?«

Hermine wurde ganz bleich und stammelte:

»Frau Gering.«

Sie nahm den Stapel Kopien schnell wieder an sich.

»Ich verbessere das sofort, Frau von Ahlen. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Sie hatte die Worte kaum gesagt, als sie auch schon fast aus der Tür war. Zurück blieb konsterniert Jonas Hutmann, welcher kurz darauf Hermines auf dem Boden liegenden Stapel aufraffte und die Verfolgung der Blondine aufnahm.

Henrietta-Sophia von Ahlen blickte kurz Andreas Meier an und murmelte etwas davon, dass sich die Referendarin noch nicht einmal am Kopierer abgemeldet habe. Sie nahm sich einen Stapel Klausurpapier aus dem Schrank und ging anschließend ebenfalls von dannen, wobei sie die Tür laut ins Schloss fallen lies.

Meier hingegen, welcher es aufgegeben hatte, sich die Masse an E-Mails seiner Schulleiterin genauer anzusehen und eine große Anzahl einmal die Woche ungelesen direkt löschte, trat an den Kopierer und legte nun doch endlich seine vorbereiteten Blätter hinein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er bereits zehn Minuten zu spät war. Nach dem Drücken des grünen Knopfes durfte er tatsächlich die von seiner Kollegin zitierte Meldung bewundern. Als er mit einem »Ja« bestätigt hatte, dass ein dienstlicher Inhalt vorlag, gab der Kopierer eine weitere Warnmeldung aus: »Ist der geplante Kopiervorgang wirklich relevant? Bedenken Sie auch alternative Unterrichtsmöglichkeiten.«

Meier drückte kopfschüttelnd abermals auf den Knopf. Die Nachricht wurde umgehend durch eine weitere Frage ersetzt:

»Haben Sie Interesse daran, sich den CO2-Fußabdruck Ihres Kopiervorgangs anzeigen zu lassen? (Bei diesem Service handelt es sich um ein Projekt der Klasse BG11b mit freundlicher Unterstützung Ihrer Stadtwerke.)«

Nach einem angetippten »Nein« und einem darauffolgenden »Ja« auf die Frage »Sind Sie wirklich sicher?« startete der Kopierer letztendlich tatsächlich.

Während Meier mit vor Wut geballten Fäusten vor dem Gerät stand, hörte er, wie sich die Tür wieder öffnete.

»Jetzt bitte nicht noch eine Auseinandersetzung mit der Luger, weil ich noch nicht im Unterricht bin«, dachte Meier. Besagte Kollegin war die Leiterin des Beruflichen Gymnasiums der HSS und sehr darauf bedacht, dass »Unterrichtsausfälle und Verspätungen der Vergangenheit angehören«, wie sie auf der Homepage bezüglich ihrer Schulform verkünden ließ.

Glücklicherweise handelte es sich bei der Person, welche eingetreten war aber nicht um Frau Luger. Der Mann, welcher vor Meier stand, war diesem unbekannt. Der Politiklehrer schätzte das Alter des Ankömmlings auf gut 30 Jahre, er war knapp 1,80 Meter groß, bebrillt, hatte glatte, relative kurze Haare mit Geheimratsecken und war an sich eine absolute Durchschnittserscheinung. Das auffälligste Merkmal stellte dar, dass er einen Anzug trug, eine Tatsache, die an der Schule eine absolute Seltenheit war. Der ehemalige Schulleiter Eichler hatte zwar mehrfach betont, dass er es begrüßen würde, wenn zumindest die Lehrkräfte, welche im kaufmännischen Teil der Schule tätig seien, sich »standesgemäß und angemessen im Anzug beziehungsweise Kostüm kleiden« würden, seine Aufrufe erwiesen sich aber als zwecklos. Nur Manuela Hansen, damals noch Referendarin, erschien postwendend seit dieser Zeit im Kostüm oder Hosenanzug. Nachdem sie allerdings ihre feste Stelle an der Schule innehatte, gab sich dies relativ schnell.

Meier befürchtete schon, dass der vor ihm Stehende Mitglied der Schulinspektion sei, welche – so die immer wieder propagierte Horrorvorstellung der Schulleiterin Schindler – einen unangekündigten Besuch vornahm. Dies hätte Meier in arge Erklärungsnot gebracht, warum er mehr als eine Viertelstunde nach Unterrichtsbeginn immer noch weit entfernt von seinen Schutzbefohlenen war. Glücklicherweise wurde seine Befürchtung sofort zerstreut, denn der Anzugträger sagte:

»Guten Morgen, mein Herr. Zacharias Lewsky mein Name. Ich soll hier vertretungsweise tätig werden und suche den Direktor.«

Meier fiel sofort der leichte ostdeutsche Dialekt des offenbar neuen Kollegen auf. Er nahm seine Kopien und streckte die Hand aus.

»Hallo, ich bin Andreas Meier, ich unterrichte Wirtschaftslehre und Politik. Ich zeige dir, wie du zu Frau Schindler findest.«

Lewsky starrte kurz irritiert auf die dargebotene Hand, schüttelte diese dann gedankenverloren und fragte:

»Frau Schindler? Ist das die Sekretärin des Rektors oder ist hier an einer Berufsschule tatsächlich eine Frau die Chefin?«

Meier grinste über diese Frage und antwortete süffisant:

»So ist es. Frau Schindler ist hier die Chefin und nicht nur das: Unsere ganze Schulleitung besteht aus Frauen, mit Ausnahme des stellvertretenden Schulleiters Einmann.«

»Ach, du liebe Güte. Na, da lobe ich mir die Uni, wo ich eigentlich arbeite.«

Meier blickte Lewsky fragend an. Dieser fuhr fort:

»Na, ich habe nach meinem Master als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Professor Freimann am Lehrstuhl Sales Management angefangen und bin gerade mitten in meiner Promotion, …«

Während Lewsky redete, zückte er sein Smartphone und sah kurz darauf, ohne aber seinen Vortrag zu unterbrechen.

»… da ich sowohl einen Abschluss als Betriebswirt als auch als Wirtschaftspädagoge habe, dachte ich, ein wenig profilbildende Erfahrung im Schuldienst könnte nicht schaden. Man weiß ja nie, wie die Zukunft an der Uni oder in der freien Wirtschaft so aussieht.«

»Ah, ja. Na dann komm mal mit. Ich muss mir nur noch schnell die Finger waschen, das Tonerzeugs ist einfach eklig.«

Lewsky blickte fragend von seinem Smartphone auf, welches er wieder studierte, so dass sich Meier zu einer weiteren Erklärung genötigt sah. Er deutete auf den Kopierer.

»Das Teil hatte mal wieder einen Kopierstau. Fürchterlich!«

Meiers neuer Kollege packte sein Mobiltelefon wieder in die Tasche, besah forschend seine eigenen Hände, schüttelte dann den Kopf und meinte:

»Na ja, so was kann mir nicht passieren. Ich glaube nicht, dass ich dieses Gerät …«, er nickte in Richtung des Kopierers, »… jemals benutzen werde. Kopien sind ja sowas von 90er-mäßig. Die Schüler sollten sich gleich darauf einstellen, mit mir ausschließlich durch Face­book, Whats App oder meine Homepage zu kommunizieren.«

Meier und Lewsky verließen den Raum, wobei Letzterer stets einen halben Meter hinter dem Lehrer blieb und gelegentlich sein Smartphone aus der Tasche zog, um kurz darauf zu sehen.

Nachdem sie ein Stück durch den Korridor gegangen waren, wies der Politik-Fachleiter aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Gebäude.

»Dort drüben sitzt die Verwaltung, einfach die Treppe hoch und dann rechts und schon bist du da, wo du hinwillst.«

Lewsky murmelte ein Dankeschön, während Meier ihn noch einmal kurz musterte und sich dann eilig in Richtung seines Klassenraums aufmachte.