Die Intelligenz der Pflanzen

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Euglena gegen Paramecium: ein Kampf mit gleichen Waffen

Abgesehen von den kulturellen Faktoren, die wir im ersten Kapitel beleuchtet haben, wird unser Bild vom Pflanzenreich durch zwei weitere Faktoren beeinflusst: den Faktor Evolution und den Faktor Zeit.

Schauen wir uns zunächst die Evolution an. Was verstehen wir überhaupt unter Evolution? »Evolution« bezeichnet einen langsamen, fortlaufenden Prozess der Umweltanpassung, in dem lebende Organismen die Eigenschaften auswählen, die ihr Überleben am ehesten garantieren. Um sich an ihren Lebensraum anzupassen, erwerben oder verlieren Arten – allerdings im Verlauf sehr langer Zeiträume – bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten. Dabei kann es auch zu makroskopischen Veränderungen zwischen ursprünglichen und später entwickelten Organismen kommen. Die Evolution hat für die Differenzierung zwischen Tier- und Pflanzenreich eine ganz entscheidende Rolle gespielt – und ist heute Teil des Problems, wenn es um unser Verständnis von Pflanzen geht. Eine Zeitreise soll das näher erläutern.


Paramecium und Euglena im Vergleich: Die beiden Organismen ähneln sich sehr, doch Euglena besitzt einen zusätzlichen Augenfleck (Fotorezeptor), mit dem sie Licht wahrnehmen kann.

Bekanntlich gehörten Algen, also pflanzliche Lebewesen, zu den ersten einzelligen Organismen auf der Erde. Durch Fotosynthese erzeugten sie den Sauerstoff, der die weitere Entwicklung des Lebens erst ermöglichte. Zwischen pflanzlichen und tierischen Zellen gab es allerdings, genauso wie heute, geringere Unterschiede, als man gemeinhin glaubt.

Natürlich sind pflanzliche Zellen komplexer als tierische. Sie besitzen nicht nur ein Organell mehr, die Chloroplasten, in denen die Fotosynthese stattfindet, sondern auch eine wesentlich robustere Außenwand. Doch abgesehen davon sind sich beide Zelltypen äußerst ähnlich. Will man also unbedingt einen Vergleich zwischen beiden ziehen, dann schneiden die raffinierten pflanzlichen Zellen besser ab. Wie kann es dann sein, dass ein »tierischer« Einzeller als komplexer und höher entwickelt, kurzum als besser gilt als ein pflanzlicher?

Stellen wir doch einmal einen tierischen und pflanzlichen Einzeller gegenüber: Auf der einen Seite sehen wir Paramecium, zu Deutsch Pantoffeltierchen, auf der anderen Euglena. Wenn wir Paramecium als Tier bezeichnen, nehmen wir uns allerdings eine gewisse Freiheit heraus, weil es heute wie andere Protozoen dem Reich der Protisten zugeordnet wird. Doch bis vor wenigen Jahren galt es zweifelsfrei als Tier, und auch der Begriff Protozoon definiert es, wie der Name sagt, als Proto-Tier (Protozoon kommt von griechisch prótos, Erstes, und zôon, Tier).

Das Pantoffeltierchen ist ein winziger, rundum bewimperter Einzeller. Seine Wimpern fungieren als Ruder, mit deren Hilfe es sich im Wasser fortbewegen kann. Betrachtet man es unter dem Mikroskop, faszinieren seine eleganten Bewegungsabläufe, die auf ein raffiniertes Verhalten schließen lassen. Paramecium ist ein Einzeller mit verblüffenden Fähigkeiten, zweifellos ein Held unter den Lebewesen – der an die Worte denken lässt, die Herbert Spencer Jennings (1868–1947) 1906 in Behavior of Lower Organisms (Das Verhalten der niederen Organismen) bezüglich eines anderen tierischen Einzellers formulierte: »Wenn die Amöbe so groß wäre wie ein Walfisch […], so glaube ich, wäre es keine Frage […], dass wir ihr in ähnlicher Weise (wie dem Hunde) gewisse Bewusstseinszustände zuschrieben.«

Auf der anderen Seite der Arena sehen wir ein weiteres Wunder der Schöpfung: die winzige, einzellige Grünalge Euglena. Sie wird heute ebenfalls den Protisten zugeordnet, ist aber zweifellos pflanzlicher Natur – auch wenn sie auf Deutsch unzutreffend Augentierchen heißt.

Der Vergleich dieser sehr einfachen Lebewesen und ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten ermöglicht uns, zur Ursache der Vorurteile vorzudringen, die unseren Blick auf die Pflanzenwelt normalerweise verstellen. Was haben diese beiden Einzeller gemeinsam, und was trennt sie? Stimmt es, dass tierische Lebewesen Intelligenz besitzen, und sei sie noch so rudimentär, Pflanzen aber nicht?

Betrachten wir zunächst das Pantoffeltierchen. Der winzige Einzeller verfügt über erstaunliche Fähigkeiten: Beispielsweise kann er Nahrung erkennen und sich zu ihr hinbegeben.

Euglena benötigt zum Leben selbstverständlich ebenfalls Energie und deckt ihren Energiebedarf, wie andere Pflanzen auch, mittels Fotosynthese. Wenn das Licht einmal knapp wird, verfällt sie allerdings nicht dem Trübsinn, sondern verhält sich wie ein typischer Jäger: Sie kann Nahrung erkennen und sich zu ihr hinbegeben. Ja, sie ist eine Pflanze, und sie kann sich fortbewegen! Die mikroskopisch kleine Alge kann mithilfe ihrer winzigen Geißeln tatsächlich schwimmen.

Sowohl Paramecium als auch Euglena können sich natürlich auch fortpflanzen. Sieht man beide im Wasser umherschwimmen, lässt sich kaum ein Unterschied ausmachen. Doch keine voreiligen Schlüsse: Durch das Pantoffeltierchen wandern elektrische Signale, die Informationen von einer Körperseite zur anderen weiterleiten. Deshalb hat man es auch swimming neuron, schwimmende Nervenzelle genannt, und die Definition trifft zweifelsfrei zu. Doch Euglena durchqueren vergleichbare elektrische Impulse. Also wieder umsonst: Es herrscht Gleichstand.

Haben Paramecium und Euglena also dieselben Fähigkeiten? Geht der Wettkampf zwischen Tier und Pflanze unentschieden aus? Mitnichten. Allerdings endet die Sache anders als erwartet. Denn nicht das Pantoffeltierchen, sondern Euglena hat noch ein Ass im Ärmel: die Fotosynthese. Dank Fotosynthese kommt sie schließlich kampflos zum Sieg. Euglena hat sogar ein rudimentäres Auge, das Lichtfrequenzen wahrnimmt, und kann sich folglich immer dort aufhalten, wo das Licht für die Fotosynthese am besten ist.

Doch wenn Euglena dieselben Fähigkeiten wie das Pantoffeltierchen besitzt, noch dazu sehen und Sonnenlicht in Energie verwandeln kann, wieso hat dann noch niemand Euglena eine »schwimmende Nervenzelle« genannt oder ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten auf andere Weise gelobt? Schwer zu sagen. Rational lässt sich jedenfalls nicht erklären, warum die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Überlegenheit pflanzlicher gegenüber tierischer Zellen belegen, kaum beachtet werden.

Vor fünfhundert Millionen Jahren

Doch wenden wir uns nun erneut dem anfangs erwähnten evolutionsbedingten Hindernis zu und blicken ungefähr fünfhundert Millionen Jahre zurück. Damals nahm die Differenzierung zwischen Pflanzen- und Tierreich ihren Anfang, und die ersten Organismen schlugen, vereinfacht gesagt, einen von zwei Lebenswegen ein: Die Pflanzen optierten für ein sesshaftes Leben, während die Tiere ein Nomadenleben wählten. Übrigens drängt sich hier die reizvolle Parallele auf, dass auch die Menschheit erst große Kulturen hervorbrachte, als sie sesshaft wurde.

Doch zurück zu den Pflanzen. Sie waren nun gezwungen, alles Lebensnotwendige aus Boden, Luft und Sonne zu beziehen. Die Tiere ernährten sich dagegen von anderen Tieren oder von Pflanzen und entwickelten daher vielfältige Fortbewegungsarten (Laufen, Fliegen, Schwimmen etc.). Die Ersteren nennt man »autotroph« (von griechisch autós, von selbst, und trophé, Nahrung), also selbstgenügsam, weil sie zum Überleben keine anderen Lebewesen brauchen, Letztere hingegen »heterotroph« (von griechisch éteros, andere, und trophé, Nahrung).

Im Laufe von Generationen hat diese anfängliche Entscheidung zu weiteren grundlegenden Unterschieden zwischen Tier- und Pflanzenreich geführt. Heute kann man beide geradezu als Yin und Yang, als das Schwarz und Weiß des Ökosystems bezeichnen: Pflanzen sind sesshaft, Tiere mobil, Pflanzen passiv und Tiere aggressiv, Tiere sind schnell und Pflanzen langsam. Es ließen sich noch Dutzende solcher Gegensatzpaare finden, doch das Ergebnis bleibt dasselbe: In den letzten fünfhundert Millionen Jahren haben sich Pflanzen- und Tierreich beträchtlich auseinanderentwickelt.

Aus der allerersten Entscheidung – Sesshaftigkeit oder Nomadenleben – hat sich im Laufe der Zeit eine erstaunliche Differenzierung in Körperbau und Lebensweise ergeben. Denn die Tiere optierten dafür, sich durch Bewegung (oder Flucht) zu verteidigen, zu ernähren und zu vermehren.

Die Pflanzen wollten dasselbe durch eine sesshafte Lebensweise erreichen. Sie mussten also nach eigenen, originellen Lösungen suchen – zumindest aus unserer Sicht, die ja, was wir nicht vergessen dürfen, die der Tiere ist.

Jede Pflanze ist eine Kolonie

Nehmen wir ein Beispiel: Weil die sesshafte Pflanze leicht zur Beute von Tieren wird, hat sie eine Form des »passiven Widerstands« entwickelt. Ihr Körper ist modular aufgebaut, das heißt, jeder Körperteil ist wichtig, aber letztendlich keiner unverzichtbar. Im Vergleich zur Tierwelt bietet der pflanzliche Körperbau einen wesentlichen Vorteil – vor allem, wenn man bedenkt, wie viele hungrige Pflanzenfresser es auf der Erde gibt und dass Pflanzen ihnen nicht entfliehen können. Durch ihren modular aufgebauten Organismus macht es Pflanzen jedoch nichts aus, angefressen zu werden! Welches Tier könnte das von sich behaupten?

Wie wir noch sehen werden, beruht die Physiologie der Pflanzen auf anderen Prinzipien wie die der Tiere. Während sich in der Tierwelt im Laufe der Evolution beinah alle lebenswichtigen Funktionen in nur wenigen Organen wie Gehirn, Lunge oder Magen konzentriert haben, hüteten sich die wehrlosen Pflanzen davor, ihre Fähigkeiten in nur wenigen neuralgischen Bereichen zusammenzufassen. Sie verhielten sich damit ähnlich wie ein Mensch, der sein Geld aus Angst vor Einbrechern nicht an einem Ort aufbewahrt, sondern an mehreren Stellen versteckt, oder der bei Geldanlagen das Risiko streut, um eventuelle Verluste so gering wie möglich zu halten. Beim Menschen nennen wir das eine kluge Entscheidung.

 

Pflanzliche Funktionen sind nicht an bestimmte Organe gebunden: Pflanzen atmen ohne Lungen, ernähren sich ohne Mund und Magen, stehen aufrecht ohne Skelett und treffen, wie wir sehen werden, Entscheidungen, obwohl sie kein Gehirn besitzen.

Dank ihrer physiologischen Eigenschaften gerät eine Pflanze selbst dann nicht in Lebensgefahr, wenn man sie beträchtlicher Teile beraubt. Manche Pflanzen können auf 90 bis 95 Prozent ihrer Bestandteile verzichten und sich aus winzigen Überbleibseln völlig neu entwickeln. Eine kahl gefressene Wiese kann sich in nur wenigen Tagen vollständig regenerieren. Um dieses Phänomen zu beobachten, braucht es nicht einmal einen Pflanzenfresser: Wer im Garten schon einmal den Efeu gestutzt hat oder regelmäßig seinen Rasen mäht, weiß, wovon wir sprechen. Die sesshaften Pflanzen entschieden sich evolutionsstrategisch also für einen teilbaren Körper, um gegen Feinde besser gewappnet zu sein. Weil die Verteidigungsstrategie der Tiere hingegen auf Bewegung beruht, entwickelten sie keine Regenerationsfähigkeit – oder nur äußerst selten. Ein abgetrennter Eidechsenschwanz wächst bekanntlich nach, doch für Fuß, Arm oder Kopf gilt das nicht. Entfernt man dagegen Pflanzenteile, überlebt die Pflanze nicht nur, sondern nutzt dies bisweilen sogar zu ihrem Vorteil. Denken wir nur an die kräftigende Wirkung eines Baumschnitts. Die Pflanze verdankt diese Fähigkeit ihrem besonderen Körperbau: Pflanzen bestehen aus repetitiven Modulen, das heißt, Zweige, Stamm, Blätter und Wurzeln setzen sich aus jeweils einfacheren eigenständigen Modulen zusammen, die wie Legosteine ineinandergreifen.

Unserer Geranie auf dem Balkon sieht man das nicht gerade an, sie scheint eher ein einzelnes Lebewesen. Doch trennt man ein Stück von ihr ab und pflanzt es ein – vermehrt sie also, wie der Gärtner sagt, über Stecklinge –, dann schlägt der Steckling Wurzeln und entwickelt sich zu einer neuen Pflanze. Aus unserem Arm oder einem Elefantenfuß können sich dagegen keine neuen Organismen entwickeln, und getrennt vom Körper sind sie gar nicht lebensfähig.

Nicht zufällig sprechen wir von uns als »Individuen«. Der aus dem Lateinischen stammende Begriff setzt sich aus in (nicht) und dividuus (teilbar) zusammen: Unser Körper ist in der Tat nicht teilbar. Würde man uns halbieren, könnten unsere beiden Hälften nicht eigenständig weiterleben, sondern müssten sterben. Wenn wir dagegen eine Pflanze in der Mitte durchschneiden, sind beide Teile lebensfähig. Aus einem einfachen Grund: weil eine Pflanze kein Individuum ist. Darum ist es auch wenig passend, einen Baum, Kaktus oder Busch mit einem Menschen oder Tier zu vergleichen. Eine Pflanze stellt man sich besser als Kolonie vor, weil ein Baum wesentlich mehr Ähnlichkeit mit einem Bienen- oder Ameisenvolk hat als mit einem einzelnen Tier.

Die evolutionsgeschichtlich uralten Pflanzen zeigen sich damit ultramodern. Heutige Internet-Technologien wie soziale Netze beruhen nämlich vielfach auf Gruppenbeziehungen und auf dem Konzept der »emergenten Eigenschaften«, wie sie für Superorganismen oder Schwarmintelligenz typisch sind. Solche emergenten Eigenschaften besitzen einzelne Elemente nicht von sich aus, sondern immer nur im Zusammenspiel mit anderen. So entfalten beispielsweise Bienen oder Ameisen als Kolonie eine höhere kollektive Intelligenz als jedes einzelne Tier, aus denen die Kolonie besteht. Im Kapitel über die pflanzliche Intelligenz wird davon noch die Rede sein (siehe S. 119 ff.).

Ein Zeitproblem

Kehren wir noch einmal zu den Ursachen zurück, die uns daran hindern, Pflanzen als das zu sehen, was sie sind, nämlich soziale, komplexe und entwickelte Organismen wie wir. Es gibt noch ein zweites, ein zeitliches Problem, das es uns so schwermacht, Pflanzen in ihrer Komplexität zu erfassen.

Bekanntlich kann die Lebenserwartung von Art zu Art sehr unterschiedlich sein. Ein Mensch lebt ungefähr achtzig Jahre, eine Biene nicht einmal zwei Monate, eine Riesenschildkröte kann deutlich über hundert Jahre alt werden. Zudem unterscheiden sich die Arten in ihrem Lebensrhythmus: Manche Tiere fallen in einen Winterschlaf, manche bewegen und vermehren sich weit schneller als wir, andere weit langsamer. Eigentlich sollte also unschwer zu erkennen sein, dass die zeitlichen Maßstäbe des Lebens recht unterschiedlich ausfallen. Doch die Realität sieht anders aus. Denn wenn Ereignisse so langsam ablaufen, dass unser Auge sie nicht wahrnehmen kann, verlieren sie für uns jede Bedeutung. Man könnte über das Verhältnis von Menschen und Pflanzen auch sagen – und dies ist absolut wertfrei zu verstehen: Menschen sind »schnell« und Pflanzen »langsam«. Sehr langsam sogar!

Die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen uns und ihnen ist sogar so gewaltig, dass sie zu echten Wahrnehmungsstörungen führt. Man könnte von einem Trompe-l’œil oder einer optischen Täuschung auf zeitlicher Ebene sprechen. Wir wissen beispielsweise nur zu gut, dass Pflanzen sich bewegen: Sie wachsen zum Licht, weichen Gefahren aus oder neigen sich in Richtung Kletterhilfe. Seit einigen Jahrzehnten können wir ihr Bewegungsvermögen, das schon Darwin beobachtet hat, sogar fotografisch festhalten und, so sollte man meinen, nun auch richtig einschätzen. Schließlich finden wir im Internet mit nur wenigen Klicks zahllose Videos von sich öffnenden Blüten und keimenden Pflanzen. Und doch bleiben Pflanzen in unserer Wahrnehmung bewegungsunfähige Wesen.

Wir blicken gebannt auf die Videos, wir erfahren durch sie eine Menge über die Bewegung von Pflanzen, und dennoch: Die Bilder können unsere felsenfeste, großteils instinktive Überzeugung nicht im Geringsten erschüttern, Pflanzen ständen den Mineralien näher als den Tieren. Unsere Sinne sind unfähig, pflanzliche Bewegungen wahrzunehmen, folglich verhalten wir uns so, als wären Pflanzen unbelebt. Wir wissen, dass Pflanzen wachsen und sich folglich bewegen, doch weil wir ihre Bewegungen nicht sehen und daher kein wirkliches Bewusstsein dafür entwickeln können, halten wir Pflanzen trotz allem für bewegungsunfähig.

Doch wo liegen die tieferen Gründe für unseren hartnäckigen Widerstand – der jeglicher Vernunft widerspricht? Wir leben schließlich in einer hoch technisierten Gesellschaft, in der wir unglaublich viele Dinge nicht mehr unmittelbar erfahren können. Dennoch würde es uns nicht im Traum einfallen, an ihrer Leistungsfähigkeit zu zweifeln. Obwohl die allerwenigsten wissen, wie Fernseher, Telefon oder Computer funktionieren, leugnet niemand ihre technischen Eigenschaften, weil er ihre Funktionsweise nicht sinnlich begreifen kann. Bei unseren Erkenntnissen über Universum und Materie sind wir sogar auf unvorstellbar komplizierte Vorrichtungen angewiesen, und trotzdem würde niemand die komplexe Struktur der Atome je infrage stellen – dabei liegt deren Wahrnehmung fernab aller unserer Möglichkeiten. Schule und Bildung spielen hier natürlich eine nicht unerhebliche Rolle. Doch warum gilt das dann nicht für Pflanzen? Die These mag gewagt klingen, doch es spricht einiges für sie: Vermutlich verhindert eine »psychische Blockade«, dass unser Instinktverhalten allen kulturellen Vermittlungsversuchen widersteht. Das wollen wir näher erläutern.

Wir sind, naturgegeben, von den Pflanzen absolut abhängig – ähnlich wie Kinder von ihren Eltern. Ein Kind durchlebt eine Entwicklungsphase, in der es seine Abhängigkeit von den Eltern komplett leugnet: die Pubertät. In dieser Phase will es sich befreien und psychisch eigenständig werden – bevor es schließlich viele Jahre später wirklich selbstständig wird. Dieser Mechanismus könnte in ähnlicher Form auch für unser Verhältnis zu den Pflanzen gelten. Niemand ist gern abhängig. Abhängigkeit geht immer mit einem Gefühl der Schwäche einher, mit Verletzlichkeit, an die niemand gerne erinnert werden will.

Wir wollen nicht anerkennen, von wem wir abhängig sind, weil wir uns sonst nicht frei fühlen würden. Unsere Abhängigkeit von den Pflanzen ist so allumfassend, dass wir sie am liebsten vollständig verdrängen möchten. Wahrscheinlich wollen wir nicht daran erinnert werden, weil schon allein der Gedanke Ohnmachtsgefühle in uns auslöst. Von wegen Herrscher der Welt! Klar, unsere These ist ein wenig kühn. Doch sie eignet sich auf jeden Fall sehr gut dazu, das Kräfteverhältnis zwischen uns und dem Pflanzenreich zu verdeutlichen.

Leben ohne sie: ein Ding der Unmöglichkeit

Wenn die Pflanzen morgen von der Erde verschwinden würden, wäre in wenigen Wochen, allerhöchstens Monaten alles menschliche Leben erloschen, und in kürzester Zeit gäbe es keine höher entwickelten tierischen Lebensformen mehr auf unserem Planeten. Würde der Mensch dagegen von der Erde verschwinden, hätten die Pflanzen in nur wenigen Jahren alles zurückerobert, was wir ihnen entrissen haben, und sämtliche Spuren menschlicher Zivilisation wären in kaum hundert Jahren überwuchert. Das sollte eigentlich genügen, um das biologische Kräfteverhältnis zwischen Pflanze und Mensch zurechtzurücken.

Man kann es auch so ausdrücken: In der Biologie leben wir noch immer im aristotelisch-ptolemäischen Zeitalter. Vor der kopernikanischen Wende dachten die Menschen, die Erde sei der Mittelpunkt des Universums und alle Himmelskörper kreisten um sie. Nachdem Galileo Galilei dieses anthropozentrische Weltbild mit Mühe entthront hatte, dauerte es noch Jahrhunderte, bis es endgültig aus den Köpfen verschwand. Die Biologie, so kann man sagen, ist dem vorkopernikanischen Denken weiter verhaftet. Sie glaubt, der Menschen sei das wichtigste Lebewesen, um das sich alles dreht. Weil der Mensch sich über alle erhoben hat, hält sie ihn für den absoluten Herrscher über die Natur. Zugegeben, ein gleichermaßen faszinierender wie tröstlicher Gedanke. Doch leider stimmt er nicht. Unsere Lage ist nämlich bei Weitem nicht so glorreich. Das Pflanzenreich stellt sage und schreibe 99,5 Prozent der gesamten Biomasse auf der Erde; das heißt, wenn man das Gewicht aller Lebewesen auf der Erde mit 100 ansetzt, entfallen, je nach Annahme, zwischen 99,5 und 99,9 Prozent auf die Pflanzen. Anders gesagt, der Anteil tierischer Lebensformen – einschließlich des Menschen – beträgt verschwindende 0,1 bis 0,5 Prozent.

Der Mensch hat wahrlich sein Bestes gegeben, um möglichst viele Wälder zu roden, doch die Pflanzen bleiben die unumstrittenen Könige unter den Lebewesen. Zum Glück, denn nur darum ist Leben auf der Erde überhaupt noch möglich.

Wie jeder weiß, stehen die Pflanzen am Anfang der Nahrungskette. Alles, was wir essen, auch Fleisch oder Fisch, ist entweder pflanzlicher Natur oder ernährt sich von Pflanzen.

Nun sollte man meinen, der Mensch mache bei seiner Ernährung wenigstens reichlich Gebrauch von der pflanzlichen Vielfalt, doch auch das ist nicht der Fall. Den größten Teil unserer Kalorien beziehen wir aus nur sechs Pflanzen. Die Ernährungsgrundlage beinah der gesamten Menschheit bilden Zuckerrohr, Mais, Reis, Weizen, Kartoffeln, Soja und wenige andere Pflanzen. Sie sind unsere Nutzpflanzen und damit ganz besondere Lebewesen. Mit der Kultivierung von Pflanzen ist es ein wenig wie mit der Aufzucht von Tieren. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum sich unsere fleischliche Nahrung fast ausschließlich auf Rind, Huhn und Schwein beschränkt und warum keine einzige Kultur mit Vorliebe Löwe, Gnu, Wolf, Bär oder Schlangen verzehrt? Deren Fleisch ist genauso genießbar wie das von Kühen oder Hühnern. Warum also? Ganz einfach: Unsere Nutztiere lassen sich leichter aufziehen. Bär mag gut schmecken, doch seine Aufzucht gestaltet sich schwierig. Ebenso eignen sich nicht alle Pflanzen für die intensive Landwirtschaft. Auch wenn es viele essbare Pflanzen gibt, lassen sich die meisten nicht industriell anbauen, weil sie sich nicht entsprechend entwickelt haben. Es sind Wildpflanzen, ebenso wie Tiger und Bär Wildtiere sind. Der Hund dagegen hat sich sogar als neue Art aus dem Wolf entwickelt, weil er gemerkt hat, dass es sich als Begleiter des Menschen bequemer und einfacher leben ließ als in der freien Wildbahn. Im Lauf der Evolution hat sich so eine ideale Partnerschaft herausgebildet, von der beide profitieren: Während der Mensch den Hund füttert und versorgt, schützt dieser ihn und leistet ihm Gesellschaft. Einige Pflanzen haben auf ähnliche Evolutionsstrategien gesetzt: Sie nähren den Menschen, und er schützt sie dafür vor Schädlingen, hegt und pflegt sie und verbreitet vor allem ihre Samen bis in die letzten Winkel der Erde.

 

Doch nicht nur, was die Nahrungskette betrifft, sind wir von Pflanzen abhängig. Gleiches gilt auch für den Sauerstoff. Bekanntlich erzeugen Pflanzen den Sauerstoff, den wir zum Atmen brauchen. Schon weniger bewusst ist vielen vielleicht, dass auch ein Großteil unserer Energieressourcen von Pflanzen stammt und dass wir die Energiequellen, die wir seit Jahrtausenden nutzen, den Pflanzen verdanken.

Betrachten wir die Energieressourcen auf unserer Erde doch einmal näher: Zuallererst wurden sie in Pflanzen gespeichert, weil diese Sonnenenergie in chemische Energie verwandelten. Dank der wundersamen Fotosynthese können Pflanzen Sonnenlicht und Kohlendioxid aus der Luft in Zucker umformen, in ein höchst energiehaltiges Molekül also – wie jeder weiß, der schon einmal kalorienarme Kost zu sich nehmen musste. Das war der erste grundlegende Schritt – aus dem dann durch weitere die Energiequellen entstanden, die wir heute nutzen: seien es Holz oder Kohle, Erdöl oder andere fossile Brennstoffe.

»Die Pflanzen«, schrieb Anfang des vergangenen Jahrhunderts der russische Botaniker Kliment Timiryazev (1843–1920), »sind das Verbindungsglied zwischen Erde und Sonne.« Und er hatte recht, denn der Mensch verdankt ihnen beinah alle seine Energiequellen.

Fossile Brennstoffe wie Kohle, Kohlenwasserstoff, Öl oder Gas sind im Grunde nichts anderes als unterirdisch gespeicherte Sonnenenergie, die pflanzliche Organismen während verschiedener geologischer Zeitalter durch Fotosynthese in der Biosphäre fixiert haben. Von wegen Mineralstoffe, wie manche noch immer behaupten! Fossile Energiequellen sind in Wahrheit organische Ablagerungen.

Wir sind also nicht nur in puncto Sauerstoff und Nahrung vom Pflanzenreich abhängig, sondern auch in einem weiteren wichtigen Punkt: unserer Energie. Allein deshalb müssten wir eigentlich alles, was grünt und blüht, vergöttern. Aber es geht noch weiter, denn nehmen wir unsere Medikamente: Beinah alle unsere Arzneimittel werden aus pflanzlichen Molekülen gewonnen oder nach deren Vorlage synthetisch nachgebildet.

Pflanzen sind aus der Medizin nicht wegzudenken – und das gilt für alle Kulturen weltweit, ob Ost oder West, Industrie- oder Entwicklungsländer. Doch Pflanzen entfalten ihre wohltuende Wirkung auf den Menschen nicht nur indirekt, als Arzneimittel. Vielfach wirkt schon die Gegenwart von Pflanzen unmittelbar positiv auf unser psychophysisches Befinden.

Dass wir Nutznießer der Pflanzen sind, weil sie Sauerstoff produzieren, Kohlendioxid und Schadstoffe absorbieren und somit einer weiteren Erderwärmung entgegenwirken, ist heute Allgemeingut. Dass sie unser Wohlbefinden aber noch auf andere Weise beeinflussen, zeigen jetzt neue eindrucksvolle Forschungsergebnisse. Pflanzen können durch ihre Gegenwart Stress mindern, die Konzentrationsfähigkeit erhöhen und zu einer schnelleren Genesung beitragen.

Allein der Anblick einer Pflanze wirkt entspannend, wie entsprechende Messungen von physiologischen Parametern zeigen. Krankenhauspatienten, die aus ihrem Zimmer ins Grüne blicken, benötigen weniger Schmerzmittel und können früher entlassen werden als Patienten in Zimmern, die nur Aussicht auf Gebäude und Asphalt bieten. Bei Krankenhausneubauten in Nordeuropa plant man heute deshalb, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, ausreichend Platz für Pflanzen ein. Manchmal können Patienten sogar auf einer ganzen Etage im Grünen wandeln.

In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Studien mit der Wirkung von Grünpflanzen auf Kinder und Jugendliche beschäftigt. Die ersten Ergebnisse dieser Untersuchungen sind, vorsichtig formuliert, signifikant.

Eine Forschergruppe ließ beispielsweise Studenten einer amerikanischen Universität bestimmte Prüfungen in ihren Studentenzimmern absolvieren.

Studenten, die von ihrem Zimmer ins Grüne schauten, zeigten bei der Prüfung, die ihnen eine gewisse Konzentration abverlangte, wesentlich bessere Ergebnisse. Wer bei der Prüfung dagegen auf Beton blickte, löste die Aufgaben bedeutend schlechter.

Wie mehrere Versuche in Florenz belegen, ist die Verbesserung der Konzentrationsleistung bei Grundschülern sogar noch offenkundiger. Studien zeigen außerdem, dass es in Alleen weniger Autounfälle und in Wohnvierteln mit viel Grün weniger Selbstmorde und Kriminalität gibt. Pflanzen wirken sich demnach zweifelsfrei positiv auf unsere Stimmung, unsere Konzentration, auf Lernerfolg und allgemeines Wohlbefinden aus.

Pflanzen scheinen daher auch bei längeren Weltraummissionen unverzichtbar, nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch, weil ihr Anblick beruhigt.

Bisher weiß man noch wenig darüber, warum Pflanzen das psychophysische Wohlbefinden von Menschen steigern. Die Gründe liegen wahrscheinlich in unserer Vergangenheit, in unserem instinktiven Wissen, dass unsere Gattung ohne Pflanzen nicht lebensfähig ist. Das Gefühl der Ruhe in Gegenwart von Pflanzen erwächst vermutlich aus der archaischen Gewissheit, dass uns das pflanzliche Grün alles bietet, was wir zum Überleben brauchen. Damals ebenso wie heute.

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