Die Intelligenz der Pflanzen

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Die Väter der Botanik: Linné und Darwin

Die Klassifizierung der Pflanzen machte den Arzt, Forschungsreisenden und Naturkundler, der besser unter dem Namen Carl von Linné (1707–1778) bekannt ist, weltberühmt – und brachte ihm den Ruf des »großen Systematikers« ein. Allerdings wird ihm der Ruf nur teilweise gerecht, denn Linné widmete sich, neben seiner bedeutenden Klassifizierungstätigkeit, ein Leben lang der Forschung.

Linné war ein überaus origineller Denker. So bestimmte er die »Fortpflanzungsorgane« und das »Sexualsystem« der Pflanzen als grundlegendes Kriterium seiner Taxonomie – was ihm kurioserweise zugleich einen Universitätslehrstuhl und eine Verurteilung wegen »Unmoral« einbrachte. Denn es war zwar bekannt, dass Pflanzen ein Geschlecht besitzen, doch die Erforschung desselben zu Klassifizierungszwecken löste einen Skandal aus. Und Linné vertrat noch eine andere neuartige Theorie, die nur aus purem Zufall nicht ebenso angegriffen wurde. Er behauptete nämlich schlicht und einfach, dass Pflanzen schlafen.

Nicht einmal im Titel der kurzen Abhandlung Somnus plantarum (Der Schlaf der Pflanzen) von 1755 ließ Linné die übliche Vorsicht walten, mit der Wissenschaftler sich damals vor möglichen Angriffen schützten. In dem Werk ging er einfach vom damaligen Forschungsstand und eigenen Beobachtungen der veränderten nächtlichen Blattstellung aus und folgerte lapidar, dass Pflanzen schlafen. Anmerken muss man vielleicht, dass Wissenschaftler erst heute im Schlaf eine grundlegende biologische Funktion sehen, die mit hoch entwickelten Gehirnaktivitäten zusammenhängt. Doch wie auch immer – Linnés Idee stieß jedenfalls auf keinerlei Widerspruch. Heute dagegen wird seine Theorie vielfach angezweifelt; und wären Linné die vielfältigen Funktionen des Schlafes bekannt gewesen, wer weiß, ob er seine Beobachtungen nicht selbst anders interpretiert und Pflanzen jede mit Tieren vergleichbare Aktivität abgesprochen hätte. In einem Fall hat er zumindest genau das getan: nämlich bei den fleischfressenden Pflanzen. Linné kannte einige fleischfressende Pflanzen sehr gut, beispielsweise die Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula), und hat zweifellos beobachtet, wie sich die Pflanze über einem Insekt schließt und es verdaut. Eine insektenfressende Pflanze war für ihn jedoch so wenig mit der starren Rangordnung der Natur – und der niederen Stufe der Pflanzen – vereinbar, dass er wie andere seiner Zeitgenossen zahllose Erklärungen ersann, um nicht zugeben zu müssen, was offensichtlich war. Er stellte, ohne irgendeinen wissenschaftlichen Nachweis, die abenteuerlichsten Behauptungen auf: Die Insekten sterben gar nicht, sie halten sich freiwillig oder aus Bequemlichkeit im Inneren der Pflanze auf, sie besuchen die Pflanze aus purem Zufall und nicht, weil sie bewusst angelockt werden, oder die Pflanzenfalle klappt rein zufällig zu. Nie und nimmer sei die Pflanze jedenfalls in der Lage, ein Tier zu erbeuten. Ganz offensichtlich war das widersprüchliche Bild der Pflanzenwelt im Kopf des großen schwedischen Botanikers noch höchst lebendig.

Erst mit Charles Darwin und seiner Abhandlung Insectenfressende Pflanzen von 1875 sollten sich die Dinge wandeln. Darwin erkannte schließlich an, dass sich pflanzliche Organismen auch von Tieren ernähren. Mit der ihm eigenen Vorsicht ging er allerdings nicht so weit, solche Pflanzen, wie heute, als »fleischfressend« zu bezeichnen – obwohl er sogar Mega-Fleischfresser wie Nepenthes-Arten kannte, die Kleintiere wie Ratten und andere verspeisen. Von wegen »Insektenfresser«!

Doch wir sollten uns nicht über Darwin und seine Vorsicht mokieren – ebenso wenig wie über Galileo Galilei und andere Wissenschaftler vergangener Jahrhunderte. Gerade ihre »Diplomatie« sorgte nämlich dafür, dass sich manch revolutionäre Idee langsam, aber sicher ihren Weg ins allgemeine Bewusstsein – und das der extrem konservativen Wissenschaftszirkel – bahnen konnte.

Was Linné betrifft, stellt sich natürlich die Frage, warum er für seine dreiste Behauptung, dass Pflanzen schlafen, nicht angegriffen oder aus der Wissenschaftswelt ausgeschlossen wurde. Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand. Seine Theorie galt lange Zeit als dermaßen unsinnig, dass man es nicht für nötig befand, sie anzufechten. Und wen interessierte schon, ob Pflanzen schlafen oder nicht, wenn dem Schlaf keine besondere Funktion zukam?

Heute kennen wir die lebenswichtigen zerebralen Funktionen, die mit diesem physiologischen Vorgang zusammenhängen. Doch noch vor zehn Jahren dachte selbst die Wissenschaft, nur höher entwickelte Tiere würden schlafen. Bis der italienische Neurowissenschaftler Giulio Tononi den Gegenbeweis erbrachte: Im Jahr 2000 wies er nach, dass sogar ein einfaches Insekt wie die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) in einen wohlverdienten Schlaf fällt.

Nur Pflanzen sollen also nicht schlafen? Die einzig plausible Erklärung dafür ist, dass schlafende Pflanzen nicht in das Bild passen, das wir uns vom Pflanzenreich machen.

Der Mensch ist das höchstentwickelte Lebewesen. Oder?

Unsere Vorstellung vom Pflanzenreich und der »Hierarchie der Lebewesen«, der wir nunmehr seit Jahrhunderten anhängen, geht bis auf Charles de Bouelles (1479–1567) und seine Schrift De sapiente (Vom Wissen) von 1509 zurück.


Die »Hierarchie der Lebewesen« im Liber de sapiente (1509) von Charles de Bouelles: Sie prägt noch heute unsere Vorstellung von der Natur.

Eine Abbildung aus dem Werk verrät mehr als tausend Worte: Sie zeigt, auf Treppenstufen angeordnet, die belebte und unbelebte Natur. Auf den Fels – der lapidar »est«, also einfach existiert – folgen die Pflanzenwelt – die »est et vivit«, also existiert und lebt – und die Tierwelt – die »sentit«, Empfindungsvermögen besitzt – und schließlich der Mensch, der »intelligit« und damit als Einziger vernunftbegabt ist. Die Vorstellung der Renaissance, Lebewesen seien unterschiedlich entwickelt und beseelt, wirkt bis heute fort und gehört zu unserem kulturellen Erbe, von dem wir uns nur schwer lösen können. Da nützt es wenig, dass uns Charles Darwin bereits 1859, vor über 150 Jahren, in seinem Grundlagenwerk Über die Entstehung der Arten das Leben auf der Erde erklärt hat. Mit Blick auf Darwins Werk stellte der große Biologe Theodosius Dobzhansky übrigens fest: »Nichts in der Biologie hat Sinn, außer im Lichte der Evolution.«

Die Theorien des großen Charles Darwin, der zugleich Biologe, Botaniker, Geologe und Zoologe war, gehören heute zum kollektiven Wissen der Menschheit. Trotzdem ist sogar in der Wissenschaft die Annahme weiterhin fest verankert, Pflanzen seien passive Wesen, die weder zu Empfindung noch zu Kommunikation, Verhalten oder Kalkül in der Lage seien. Dabei beruht sie allein auf einer völlig falschen Vorstellung von der Evolution.

Darwin selbst hat zweifelsfrei gezeigt, dass schon der Ausgangspunkt falsch gewählt ist. Denn es gibt keine mehr oder weniger entwickelten Organismen: Alle heutigen Lebewesen bilden laut Darwin die Spitze ihres Entwicklungszweigs, sonst wären sie nämlich ausgestorben. Wir sagen es noch einmal klar und deutlich: Wer nach Darwin an der Spitze der Entwicklungskette steht, hat im Laufe der Evolution seine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt.

Der begnadete Naturforscher wusste, dass Pflanzen äußerst feine, komplexe Geschöpfe sind, die über weit mehr Fähigkeiten verfügen, als man gemeinhin denkt. Einen Großteil seines Lebens und Werks – genauer gesagt sechs Bände und ungefähr siebzig Aufsätze – widmete er der botanischen Forschung. Häufig belegte er damit seine Evolutionstheorie, die ihm schließlich unsterblichen Ruhm einbringen sollte. Doch Darwins enorme Forschungsleistungen auf dem Gebiet der Botanik stehen stets im Hintergrund – was einmal mehr bezeugt, wie wenig Beachtung das Pflanzenreich bis heute in der Wissenschaft findet.

In seinem 1994 erschienenen Buch One Hundred and One Botanists (Hundert und ein Botaniker) schreibt Duane Isely:

Über Darwin wurde mehr geschrieben als über jeden anderen Biologen […]. Doch Botaniker nennen ihn die wenigsten […]. Dass er über seine Pflanzenstudien verschiedenste Bücher verfasste, wird zwar von allen Darwinisten erwähnt, doch eher beiläufig, etwa nach dem Motto: »Manchmal brauchte der große Denker wohl ein wenig Zerstreuung.«

Darwin hat mehrfach erklärt, er halte Pflanzen für die außergewöhnlichsten Lebewesen, die ihm je begegnet seien: »Mit großer Freude habe ich in der Hierarchie der Lebewesen stets die Pflanzen gerühmt.« In seinem 1880 erschienenen Grundlagenwerk The Power of Movement in Plants (Das Bewegungsvermögen der Pflanzen) äußert er sich näher dazu. Darwin ist ein Forscher alter Schule, der die Natur beobachtet und daraus Gesetzmäßigkeiten ableitet. Wenngleich ihm ausgefeilte Versuchsanordnungen fremd sind, beschreibt er in seinem Werk Hunderte von Versuchen, die er mit seinem Sohn Francis durchgeführt hat, und erläutert, wie vielfältig sich Pflanzen bewegen können. Ihr Bewegungsvermögen beschränkt sich dabei meist nicht nur auf den oberirdischen Teil der Pflanze, sondern betrifft auch die Wurzel, die Darwin als eine Art »Kommandozentrale« betrachtet.

Dem letzten Absatz seiner Werke widmet der britische Naturforscher stets besondere Aufmerksamkeit. Denn dort legt er seine Schlussfolgerungen einfach und allgemein verständlich dar. Ein wunderbares Beispiel dafür ist der berühmte Schluss der Entstehung der Arten:

 

Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und daß, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise schwingt, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.

Im letzten Absatz seines Werks Das Bewegungsvermögen der Pflanzen unterstreicht Darwin seine Überzeugung, dass sich in den pflanzlichen Wurzeln so etwas wie das Gehirn niederer Tiere verbirgt (auf S. 127 f. werden wir darauf noch einmal zurückkommen). Und tatsächlich besitzen Pflanzen Tausende von Wurzelspitzen, von denen jede mit einem »Rechenzentrum« ausgestattet ist. Wir wählen hier bewusst den Begriff »Rechenzentrum«, um noch dem hartnäckigsten Kritiker klarzumachen, dass weder Darwin noch heutige Forscher je behauptet haben, Wurzeln besäßen ein – nussförmiges oder dem menschlichen ähnliches – Gehirn, das bloß jahrtausendelang übersehen worden sei. Vielmehr geht die Wissenschaft davon aus, dass ein pflanzliches Äquivalent in den Wurzelspitzen zahlreiche Funktionen des Tiergehirns ausführen kann. Kein Grund zur Panik also.

Darwins These hätte eine beträchtliche Wirkung entfalten können – wenn er sich nicht davor gehütet hätte, sie in seinen Büchern weiterzuentwickeln. Das Bewegungsvermögen der Pflanzen verfasste er in hohem Alter. Er wusste, dass Pflanzen intelligente Organismen sind, aber ebenso, dass er mit dieser These erneut in ein Wespennest stechen würde. Und da er schon genug Mühe hatte, seine Kritiker davon zu überzeugen, dass der Mensch vom Affen abstammt, überließ er die Weiterentwicklung seiner botanischen Theorie anderen, vor allem seinem Sohn.

Die Theorien und Forschungsarbeiten von Charles Darwin hatten großen Einfluss auf Francis Darwin (1848–1925), seinen Sohn, der die väterlichen Forschungen fortführte. Francis Darwin gehörte zu den weltweit ersten Lehrstuhlinhabern für Pflanzenphysiologie und war Verfasser der ersten englischsprachigen Abhandlung über die neue Disziplin. Ende des 19. Jahrhunderts galten Pflanzen und Physiologie noch als unvereinbare Konzepte. Doch Francis Darwin, der mit seinem Vater jahrelang Pflanzen und deren Verhalten erforscht hatte, hielt sie schließlich sogar für intelligent. Bei der Eröffnung des Jahreskongresses der British Association for the Advancement of Science am 2. September 1908 sagte der inzwischen weltberühmte Botaniker ohne jede diplomatische Zurückhaltung: »Pflanzen sind intelligente Lebewesen.« Seine Aussage löste, wenig überraschend, einen Sturm der Entrüstung aus. Francis Darwin blieb nichtsdestotrotz bei seiner These und veröffentlichte in der Zeitschrift Science noch im selben Jahr einen dreißigseitigen Artikel zu dem Thema.

Seine These stieß auf enorme Resonanz und entfachte in der Presse eine weltweite Debatte, bei der sich zwei wissenschaftliche Lager unversöhnlich gegenüberstanden: auf der einen Seite die Anhänger von Francis Darwin, die angesichts der erdrückenden Beweislage von der Intelligenz der Pflanzen überzeugt waren, auf der anderen Seite all jene, die seine These entrüstet ablehnten. Genau wie im alten Griechenland!

Bereits einige Jahre zuvor hatte Charles Darwin einen regen Briefwechsel mit einem italienischen Botaniker geführt, dessen Namen heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Federico Delpino (1833–1905) zählte zu den bedeutendsten Naturforschern seiner Zeit: Er ist der eigentliche Erfinder der Pflanzenbiologie. Der außergewöhnliche wissenschaftliche Denker und Leiter des Botanischen Gartens von Neapel war, unter anderem durch seinen Briefwechsel mit Darwin, davon überzeugt, dass Pflanzen intelligent sind, und beschäftigte sich in vielen Versuchen mit der Symbiose von Pflanzen und Ameisen, der sogenannten Myrmekophylaxis (von griechisch múrmex, Ameise, und phílos, Freund).

Darwin wusste nur allzu gut, dass zahlreiche Pflanzen nicht nur in der Blüte Nektar erzeugen – obwohl Nektar natürlich überwiegend in der Blüte erzeugt wird, um Insekten als Pollenträger anzulocken. Er beobachtete auch, dass der süße Nektar Ameisen anzieht, erforschte das Phänomen aber nie näher, weil er annahm, dass die Pflanze mit den sogenannten »extrafloralen Nektarien« lediglich Reststoffe absondere. Delpino war in diesem Punkt völlig anderer Meinung als sein berühmter Lehrmeister. Denn Nektar, so wusste er, ist ein energiereicher Stoff, dessen Produktion für die Pflanzen sehr aufwendig ist. Warum, so fragte er sich, sollten sie ihn dann wieder absondern? Es musste noch eine andere Erklärung geben. Aufgrund seiner Beobachtungen kam Delpino zu dem Schluss, dass »Ameisenpflanzen« eine ausgefeilte Verteidigungsstrategie verfolgen und extraflorale Nektarien ausscheiden, um damit Ameisen anzulocken: Denn wie brave Soldaten schützen die wohlgenährten Ameisen die Pflanze vor ihren Feinden, den Pflanzenschädlingen. Jeder, der sich schon einmal auf einer Wiese niedergelassen und die Bisse der aggressiven Hautflügler zu spüren bekommen hat, weiß, wovon Delpino redet. Ameisen rotten sich bei Gefahr auf der Stelle zusammen, greifen den potenziellen Räuber an und zwingen ihn zum Rückzug! Wer wollte da noch abstreiten, dass beide Arten davon prächtig profitieren?


Der Artikel der »New York Times« über Francis Darwin, der auf dem Jahreskongress der British Association for the Advancement of Science 1908 erklärte: Pflanzen besitzen eine grundlegende Intelligenz.

Auf dem Foto von links nach rechts: D.G. Hogarth, W. Dunstan, A.G. Harcourt, S. Hartland, T. Anderson, R.T. Glazebrook, C. Hawkesley, G. Darwin, A.S. Woodward, S. Dewar, C. Foster, F. Darwin, W.A. Herdman, A.C. Haddon, A. Geikie, S. Vincent, E. Brabook, O. Lodge

Bei den Ameisen, die auf diese Weise ihre Futterquelle verteidigen, gehen die Insektenforscher von intelligentem Verhalten aus, doch die Botaniker sehen die Sache bis heute völlig anders. Nur wenige gestehen den Pflanzen ein intelligentes – oder absichtsvolles – Verhalten zu und betrachten die extraflorale Nektarabsonderung als eine bewusste Strategie, mit der sich Pflanzen ihre ungewöhnlichen Bodyguards geneigt machen.

Pflanzen: die ewigen Zweiten

Kein Wunder also, dass zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir Pflanzenversuchen verdanken, häufig erst nach Jahren – und nach analogen Tierversuchen – von der Wissenschaftswelt anerkannt werden. Selbst bedeutsame Entdeckungen über Grundvorgänge des Lebens sind nicht davor gefeit, mehr oder minder ignoriert oder völlig unterschätzt zu werden, solange sie die Pflanzenwelt betreffen. Erst wenn Tiere ins Spiel kommen, erlangen sie dann mit einem Schlag Berühmtheit.

Das gilt etwa für die Erbsenversuche von Gregor Johann Mendel (1822–1884): Sie läuteten die Geburtsstunde der Genetik ein, doch ihre Ergebnisse blieben vierzig Jahre lang völlig unbeachtet – bis die Genetik mit den ersten Tierversuchen einen Boom erlebte. Dasselbe Schicksal ereilte Barbara McClintock (1902–1992). Allerdings mit glücklicherem Ausgang: Sie erhielt für ihre Entdeckung der genomischen Instabilität 1983 schließlich den Nobelpreis.

Bis zu ihrer bahnbrechenden Entdeckung hielt man das Genom (Erbgut) für statisch und dachte, es könne sich im Laufe eines Lebens nicht verändern. Die »Konstanz des Genoms« war als wissenschaftliche Lehrmeinung quasi unantastbar. In den 1940er-Jahren entdeckte Barbara McClintock, dass dieses Prinzip jedoch nicht unter allen Bedingungen galt, und bewies dies mit mehreren Forschungsarbeiten über Mais.

Sie hat eine grundlegende Entdeckung gemacht. Doch den Nobelpreis erhielt sie erst vierzig Jahre später. Warum? Ganz einfach. Sie hat Pflanzen untersucht, und weil ihre Beobachtungen der herrschenden Lehrmeinung widersprachen, galt sie in der Wissenschaft lange als Außenseiterin. Bis analoge Forschungen an Tieren in den Achtzigern schließlich gezeigt haben, dass genomische Instabilitäten auch bei anderen Arten vorkommen. Barbara McClintock verdankt die verdiente Anerkennung durch den Nobelpreis nicht allein ihrer Forschungsleistung, sondern erst der »Wiederentdeckung« ihrer Ergebnisse anhand von Tierversuchen.

Selbstverständlich ist die genomische Instabilität kein Einzelfall. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: von der Entdeckung der Zellen – die erstmals bei Pflanzen gelang – bis zur RNA-Interferenz, für die Andrew Fire und Craig C. Mello 2006 den Nobelpreis erhielten. Sie haben im Wesentlichen an einem Wurm (Caenorhabditis elegans) die RNA-Interferenz wiederentdeckt, die Richard Jorgensen bereits zwanzig Jahre zuvor für die Petunie nachgewiesen hatte. Fazit: Studien über Petunien nimmt kein Mensch zur Kenntnis, aber analoge Forschungen an einem gemeinen Wurm (immerhin ein Tier) sind den Nobelpreis für Physiologie und Medizin wert.

Wir könnten hier noch etliche Beispiele anführen, das Ergebnis bleibt dasselbe: Die Pflanzenwelt steht hintan, auch in der Wissenschaft. Gleichwohl werden Pflanzen in der Forschung häufig verwendet, da sie den Tieren in ihrer Physiologie ähneln, und natürlich, weil Pflanzenversuche weniger ethische Fragen aufwerfen. Doch was macht uns überhaupt so sicher, dass die ethischen Probleme bei Pflanzen geringer sind? Vielleicht gelingt es uns ja, mit diesem Buch zumindest gewisse Zweifel an dieser Vorstellung zu wecken.

Zweifellos wird der Mensch die Pflanzenwelt eines Tages genauso achten wie die Tierwelt, und Wissenschaftler werden endlich, was auch wesentlich sinnvoller ist, an Pflanzen forschen, weil sie sich von Tieren unterscheiden, und nicht, weil sie diesen ähneln. Der Forschung eröffnen sich damit völlig neue Horizonte. Allerdings muss man sich wohl fragen: Welcher brillante Forscher wird sich den Pflanzen widmen, wenn ihm die wissenschaftliche Anerkennung dann grösstenteils versagt bleibt?

Unsere Geringschätzung der Pflanzenwelt ist, wie wir gesehen haben, in unserer Kultur tief verwurzelt. Ob im Alltag oder in der Wissenschaft: Die allgemeine Wertehierarchie verbannt die Pflanzen auf die unterste Stufe der Lebewesen. Ein ganzes Reich, das Pflanzenreich, wird völlig unterschätzt, obwohl unser Überleben und unsere Zukunft auf der Erde genau davon abhängen.

ZWEITES KAPITEL
Die Pflanze, das unbekannte Wesen


SEIT ANBEGINN DER MENSCHHEIT, also seit ungefähr zweihunderttausend Jahren, leben wir mit den Pflanzen zusammen. Zweihunderttausend Jahre. Man sollte meinen, dies sei ausreichend Zeit, um jemanden wirklich kennenzulernen. Doch weit gefehlt. Wir wissen nicht nur aberwitzig wenig über die Pflanzenwelt, sondern betrachten sie vermutlich noch immer genauso wie der erste Homo sapiens.

Das lässt sich selbstverständlich kaum beweisen, aber durch ein einfaches Beispiel leicht untermauern. Versuchen wir einmal, ein Tier – eine Katze – näher zu beschreiben. Was könnten wir über eine Katze sagen? Sie ist klug, geschickt, anschmiegsam, umgänglich, opportunistisch, flink und geschmeidig. Und versuchen wir nun, eine Pflanze näher zu beschreiben. Was könnten wir beispielsweise über eine Eiche sagen? Sie ist groß, dicht belaubt, knorrig, sie duftet. Und was noch? Bestenfalls fällt uns etwas zu ihrer Schönheit oder Nützlichkeit ein, niemals würden wir ihr aber irgendwelche auch nur im Entferntesten »sozialen« Eigenschaften zuschreiben. Die Katze haben wir dagegen als umgänglich bezeichnet – übrigens würde auch »einzelgängerisch« ihr Verhältnis zur Umwelt bestens beschreiben. Wir gestehen Pflanzen keine Intelligenz zu, aber Katzen schon, und ebenso wenig würden wir eine Eiche je als umgänglich bezeichnen.

Aber irgendetwas stimmt hier doch nicht. Denn wären die Pflanzen wirklich dermaßen dumme, unsoziale Wesen, die mit ihrer Umwelt keinerlei Beziehung aufnehmen können, dann hätten sie auf diesem Planeten doch gar nicht überleben und sich weiterentwickeln können. Wäre es um die Pflanzen wirklich so schlecht bestellt, hätte die natürliche Auslese ihnen längst den Garaus gemacht.

Davon abgesehen, zeigen wissenschaftliche Forschungen schon seit Jahrzehnten, dass Pflanzen Empfindungsvermögen besitzen, komplexe soziale Beziehungen knüpfen und untereinander und mit der Tierwelt kommunizieren können. In den nächsten Kapiteln beschäftigen wir uns damit ausführlicher. Doch wie kann es sein, dass der Mensch bis heute Pflanzen nur als Rohstoff, als Nahrungsquelle oder schmückendes Beiwerk betrachtet? Was hindert uns bloß daran, unsere erste, oberflächliche Einschätzung der Pflanzenwelt zu korrigieren?