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Der Graf von Monte Christo

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Achtes Kapitel.

Der Einbruch

Am andern Tage nach dem von uns mitgeteilten Gespräche begab sich der Graf von Monte Christo wirklich mit Ali und mehreren Dienern und mit Pferden, die er probieren wollte, nach Auteuil. Zu dieser Abreise, an die er am Tage vorher nicht dachte, und an welche Andrea eben so wenig dachte, bestimmte ihn hauptsächlich die Ankunft von Bertuccio, der, aus der Normandie zurückgekehrt, Nachrichten vom Hause und von der Korvette überbrachte.



Das Haus war bereit und die Corvette, welche seit acht Tagen in einer kleinen Bucht mit ihrer Equipage von sechs Mann vor Anker lag, konnte, nachdem sie alle Förmlichkeiten erfüllt, auf den ersten Wink ihres Gebieters wieder in See gehen.



Der Graf lobte den Eifer von Bertuccio und forderte ihn auf, sich zu einer schnellen Abreise fertig zu halten, da sich sein Aufenthalt in Frankreich nicht mehr über einen Monat ausdehnen würde.



»Ich muß nun vielleicht in einer Nacht von Paris nach dem Treport reisen,« sagte er zu ihm, »und will acht Relais auf der Straße aufgestellt haben, welche mir fünfzig Lieues in zehn Stunden zu machen erlauben.«



»Euere Exzellenz hat früher diesen Wunsch kundgegeben,« antwortete Bertuccio, »und die Pferde stehen bereit, ich habe sie selbst angekauft und in den bequemsten Orten, nämlich in Dörfern, wo gewöhnlich Niemand anhält, einquartiert.«



»Es ist gut,« sprach Monte Christo, »ich bleibe einen oder zwei Tage hier, richten Sie sich dem gemäß ein.«



Als Bertuccio hinauszugehen im Begriff war, um alle Befehle in Beziehung auf diesen Aufenthalt zu erteilen, öffnete Baptistin die Thüre: er brachte einen Brief auf einem Plättchen von Vermeil,



»Was machen Sie hier?« fragte der Graf, als er ihn ganz mit Staub bedeckt erblickte, »ich habe Sie nicht verlangt, wie mir scheint?«



Ohne zu antworten, näherte sich Baptistin dem Grafen, bot ihm den Brief und sprach:



»Wichtig und dringend.«



Der Graf öffnete den Brief und las.



»Herr von Monte Christo wird benachrichtigt, daß in dieser Nacht ein Mensch in sein Haus auf den Champs-Elysées dringen wird, um Papiere zu stehlen, die er in dem Sekretär des Ankleidezimmers eingeschlossen glaubt. Man weiß, daß der Graf von Monte Christo mutig genug ist, um nicht seine Zuflucht zu einem Einschreiten der Polizei zu nehmen, zu einem Einschreiten, das denjenigen, welcher ihm diesen Rath gibt, gewaltig gefährden müßte. Der Herr Graf kann sich durch eine Öffnung aus dem Schlafzimmer in das Cabinet, oder sich im Cabinet in Hinterhalt legend selbst Gerechtigkeit verschaffen. Viele Leute und offenbare Vorsichtsmaßregeln würden sicherlich den Bösewicht entfernen und den Herrn Grafen der Gelegenheit berauben, einen Feind kennen zu lernen, den durch einen Zufall die Person entdeckte, die dem Grafen diesen Rath gibt, welchen zu wiederholen sie vielleicht nicht Gelegenheit hätte, wenn dieses Unternehmen scheitern und der Bösewicht ein anderes versuchen würde.«



Der Graf glaubte zuerst, es wäre eine List von Dieben, eine plumpe Falle, die ihm eine geringe Gefahr bezeichnete, um ihn einer ernsten Gefahr preiszugeben. Er wollte den Brief, trotz der Empfehlung und vielleicht gerade wegen der Empfehlung des anonymen Freundes, zu einem Polizeikommissär tragen lassen, als ihm plötzlich der Gedanke kam, es könnte wirklich ein Feind von ihm sein, den er allein zu erkennen vermöchte, und von dem er allein, vorkommenden Falles, Nutzen zu ziehen im Stande wäre, wie dies Fiesco bei dem Mohren getan, der ihn hatte ermorden wollen.



Man kennt den Grafen; wir brauchen nicht zu sagen, daß es ein Geist voll Kühnheit und Kraft war, der sich gegen das Unmögliche mit jener Energie anstemmte, welche allein die erhabenen Menschen bildet. Durch das Leben, das er geführt, durch den Entschluß, den er gefaßt und gehalten, vor nichts zurückzuweichen, war der Graf dahin gelangt, daß er unbekannte Genüsse in den Kämpfen fand, die er zuweilen gegen die Natur, welche Gott ist, und gegen die Welt unternahm, welche ganz wohl für den Teufel gelten kann.



»Sie wollen mir nicht meine Papiere stehlen, sie wollen mich töten,« sagte Monte Christo; »es sind keine Diebe, es sind Mörder. Der Polizeipräfect soll sich nicht in meine Privatangelegenheilen mischen. Ich bin meiner Treue reich genug, um bei dieser Sache das Budget seiner Verwaltung jeder Ausgabe zu überheben.«



Der Graf rief Baptistin zurück, der, nachdem er den Brief überreicht, das Zimmer verlassen hatte.



»Sie begeben sich sogleich nach Paris und bringen alle Diener Hierher,« sagte er zu ihm. »Ich brauche alle meine Leute in Auteuil.«



»Soll nicht irgend Jemand zu Hause bleiben, Herr Graf?« fragte Baptistin.



»Ja wohl, der Portier.«



»Der Herr Graf wolle bedenken, daß es weit von der Loge bis zum Hause ist.«



»Nun?«



»Man könnte die ganze Wohnung ausplündern, ohne daß er den geringsten Lärmen hören würde.«



»Wer könnte dies tun?«



»Diebe.«



»Sie sind ein Einfaltspinsel, Herr Baptistin; sollten die Diebe die ganze Wohnung ausplündern, so werden Sie mir doch keine so große Unannehmlichkeit bereiten, als mir ein schlecht geleisteter Dienst bereiten würde.«



Baptistin verbeugte sich.



»Sie verstehen mich,« sprach der Graf; »Sie bringen alle Ihre Kameraden mit, vom ersten bis zum letzten; alles Übrige aber bleibe im gewöhnlichen Zustand; Sie werden die Läden des Erdgeschoßes schließen, das genügt.«



»Und die vom ersten Stocke?«



»Sie wissen, daß man sie nie schließt. Gehen Sie.«



Der Graf ließ sagen, er würde allein speisen, und wolle nur von Ali bedient werden.



Er speiste mit seiner gewöhnlichen Ruhe und Mäßigkeit, bedeutete nach dem Mittagsmahle Ali durch ein Zeichen, er habe ihm zu folgen, entfernte sich durch die kleine Thüre, erreichte das Bois de Boulogne, als ob er spazieren ginge, schlug den Weg nach Paris ein, und befand sich mit Einbruch der Nacht vor seinem Hause auf den Champs-Elysées.



Alles war düster: es brannte nur ein schwaches Licht in der Loge des Portier, welche etwa vierzig Schritte von dem Hause entfernt war.



Monte Christo lehnte sich an einen Baum und durchforschte mit jenem Auge, das ihn selten täuschte, die doppelte Allee, betrachtete die Vorübergehenden und tauchte seinen Blick in die nächsten Straßen, um zu sehen, ob nicht irgend Jemand im Hinterhalt läge.



Nach Verlauf von zehn Minuten hatte er sich völlig überzeugt, daß ihn Niemand belauerte.



Er lief sogleich mit Ali nach der kleinen Thüre, trat rasch ein und erreichte auf der Gesindetreppe, zu der er den Schlüssel hatte, sein Schlafzimmer, ohne einen einzigen Vorhang zu öffnen oder zu verschieben, ohne daß der Portier vermuten konnte, das Haus, das er leer glaubte, habe seinen Hauptbewohner wiedergefunden.



In seinem Schlafzimmer angelangt, hieß er Ali durch ein Zeichen stille stehen, dann ging er in das Cabinet und untersuchte es; Alles war in seinem gewöhnlichen Zustand: der kostbare Sekretär an seinem Platze und der Schlüssel am Sekretär; er schloß ihn doppelt, nahm den Schlüssel, kehrte zu der Thüre des Schlafzimmers zurück, riß die doppelte Schließkappe des Riegels ab und ging hinein.



Während dieser Zeit legte Ali auf einen Tisch die Waffen, die der Graf von ihm verlangt hatte, nämlich einen kurzen Carabiner und ein Paar Doppelpistolen, deren übereinander gelegte Läuse auf das Sicherste zu zielen gestatteten. So bewaffnet, hielt der Graf das Leben von fünf Personen in seinen Händen.



Es war halb zehn Uhr; der Graf und Ali aßen in der Eile ein Stück Brot und tranken ein Glas spanischen Wein: dann schob Monte Christo eine von den beweglichen Füllungen auf die Seite, welche ihm von einem Zimmer in das andere zu sehen erlaubten. Er hatte im Bereiche seiner Hand die Pistolen und den Carabiner, und Ali stand neben ihm und hielt in der Faust eine von jenen kleinen arabischen Aexten, welche seit den Kreuzzügen ihre Form nicht verändert haben.



Durch ein Fenster des Schlafzimmers, das parallel mit dem des Cabinets lag, konnte der Graf auf die Straße sehen. So vergingen zwei Stunden; es herrschte die tiefste Finsternis, und dennoch unterschieden Ali, vermöge seiner wilden Natur, und der Graf, ohne Zweifel vermöge einer erlangten Eigenschaft, in der Nacht das schwächste Zittern der Bäume im Hofe. Seit geraumer Zeit war das Licht in der Loge des Portier erloschen.



Es ließ sich denken, daß der Angriff, wenn der beabsichtigte Angriff wirklich ausgeführt werden sollte, durch die Treppe des Erdgeschoßes und nicht durch ein Fenster stattfinden wurde. Nach den Ansichten des Grafen wollten die Mörder an sein Leben und nicht an sein Geld. Sie würden also in seinem Schlafzimmer angreifen, und zu seinem Schlafzimmer würden sie entweder auf der Geheimtreppe oder durch das Fenster des Cabinets gelangen.



Er stellte Ali an die Thüre der Treppe und überwachte fortwährend das Cabinet,



Es schlug drei Viertel auf zwölf Uhr im Invalidenhause; der Westwind brachte auf seinen feuchten Schwingen den düstern Ton der drei Schläge.



Als der letzte Schlag erstarb, glaubte der Graf ein leichtes Geräusch auf der Seite des Cabinets zu hören; auf dieses erste Geräusch, oder vielmehr auf dieses erste Knirschen, folgte ein zweites, dann ein drittes: bei dem vierten wußte er, woran er sich zu halten hatte. Eine feste und geübte Hand war damit beschäftigt, die vier Seiten einer Scheibe mit einem Diamant zu durchschneiden.



Der Graf fühlte, wie sein Herz rascher schlug. So sehr die Menschen auch gegen die Gefahr abgehärtet, so gut sie von der Gefahr unterrichtet sein mögen, so erkennen sie doch immer an dem Beben ihres Herzens und an dem Zittern ihres Fleisches den ungeheuren Unterschied, welcher zwischen dem Traume und der Wirklichkeit, zwischen dem Vorhaben und der Ausführung besteht.

 



Der Graf machte jedoch nur ein Zeichen, um Ali in Kenntnis zu setzen; dieser begriff, daß die Gefahr auf der Seite des Cabinets war, und trat einen Schritt näher zu seinem Herrn.



Monte Christo war begierig, zu erfahren, mit was für Feinden und mit wie viel Feinden er es zu tun hatte.



Das Fenster, an welchem man arbeitete, lag der Öffnung gegenüber, durch die der Graf seinen Blick in das Cabinet tauchte. Seine Augen richteten sich nach diesem Fenster: er sah einen dichteren Schatten von der Finsternis sich abheben, dann wurde eine von den Scheiben völlig undurchsichtig, als ob man von Außen ein Blatt Papier daran klebte, und endlich krachte die Scheibe ohne zu fallen. Durch die im Fenster bewerkstelligte Öffnung streckte sich ein Arm herein, der den inneren Riegel suchte: eine Secunde nachher drehte sich das Fenster auf seinen Angeln, und ein Mensch kam herein.



Dieser Mensch war allein.



»Das ist ein kecker Bursche,« murmelte der Graf.



In diesem Augenblick fühlte er, daß ihn Ali leicht an der Schulter berührte; er wandte sich um. Ali deutete auf das nach der Straße gehende Fenster des Zimmers, in welchem sie waren.



Monte Christo machte drei Schritte gegen dieses Fenster, denn er kannte die ausgezeichnete Feinheit der Sinne seines treuen Dieners. Er sah wirklich einen anderen Menschen, der sich von einer Thüre losmachte, und, auf einen Weichstein steigend, wie es schien, zu sehen suchte, was bei dem Grafen vorging.



»Gut!« sagte er, »sie sind ihrer zwei; der Eine handelt, der Andere steht auf der Lauer.«



Er hieß Ali durch ein Zeichen den Mann von der Straße nicht aus dem Gesichte verlieren, und kehrte zu dem des Cabinets zurück.



Der Scheibenschneider war eingetreten und schaute sich die Arme vor sich ausstreckend, um.



Endlich schien er sich von Allem Rechenschaft gegeben zu haben; es waren zwei Thüren im Cabinet, und er schickte sich an, die Riegel von beiden vorzustoßen.



Als er sich der des Schlafzimmers näherte, glaubte Monte Christo, er wollte hereinkommen, und hielt eine von seinen Pistolen bereit; doch er hörte ganz einfach das Geräusch der durch ihre Ringe schlüpfenden Riegel. Es war nur eine Vorsichtsmaßregel; der nächtliche Gast, welcher nicht wußte, daß der Graf dafür besorgt gewesen war, die Schließkappe wegzunehmen, konnte sich nun als zu Hause betrachten und in vollkommener Ruhe handeln.



Allein und frei in seinen Bewegungen, zog der Mann aus seiner weiten Tasche etwas, das der Graf nicht unterscheiden konnte, legte dieses Etwas auf ein Tischchen, ging gerade auf den Sekretär zu, betrachtete ihn an der Stelle des Schlosses und bemerkte, daß der Schlüssel wider sein Erwarten fehlte.



Doch der Scheibenzerbrecher war ein behutsamer Mann, der für Alles vorhergesehen hatte; der Graf hörte bald das Klirren von Eisen an Eisen, das, wenn man ihn schüttelt, der Bund formloser Schlüssel erzeugt, welche die Schlosser bringen, wenn man sie holen läßt, um eine Thüre zu öffnen, und denen die Diebe den Namen Nachtigallen gegeben haben, ohne Zweifel wegen des Vergnügens, mit dem sie ihren nächtlichen Gesang hören, wenn dieselben an einem Schlosse klirren.



»Ah! ah!« murmelte Monte Christo mit einem Lächeln der Enttäuschung, »es ist nur ein Dieb.«



Aber der Mann konnte in der Dunkelheit das passende Werkzeug nicht herausfinden. Er nahm daher seine Zuflucht zu dem Gegenstand, den er auf das Tischchen gelegt hatte, ließ eine Feder spielen, und alsbald sandte ein bleiches Licht, welches jedoch stark genug war, daß man sehen konnte, seinen goldenen Reflex auf die Hände und das Gesicht dieses Menschen.



»Halt!« flüsterte plötzlich Monte Christo, mit einer Bewegung des Erstaunens zurückweichend, »es ist . . . «



Ali hob seine Axt.



»Rühre Dich nicht,« sagte Monte Christo leise zu ihm, »laß Deine Axt liegen, wir brauchen hier keine Waffen mehr.«



Dann fügte er einige Worte, seine Stimme noch mehr dämpfend, bei, denn der Ausruf, welchen, so schwach er auch gewesen, das Erstaunen dem Grafen entrissen hatte, war hinreichend, um den Mann beben zu machen, der in der Stellung des antiken Scheerenschleifers blieb.



Der Graf hatte Ali einen Befehl gegeben, denn dieser entfernte sich sogleich und machte von der Wand des Alkoven einen schwarzen Rock und einen dreieckigen Hut los. Während dieser Zeit warf Monte Christo rasch seinen Rock, seine Weste und sein Hemd von sich, und man konnte, vermöge des Lichtstrahls, der durch den Spalt der Füllung drang, eine von jenen geschmeidigen, seinen Tuniken von stählernen Maschen sehen, deren letzte in Frankreich, wo man keine Dolche mehr fürchtet, vielleicht von Ludwig XVI. getragen wurde, welcher vor dem Messer für seine Brust bange hatte und mit dem Beile in den Kopf getroffen wurde.



Diese Tunik verschwand bald unter einer langen Sutane, wie die Haare des Grafen unter einer Perrücke mit Tonsur; auf die Perrücke gesetzt, verwandelte der dreieckige Hut den Grafen vollends in einen Abbé.



Der Mann hatte sich indessen, als er nichts mehr hörte, erhoben, und ging, während der Graf von Monte Christo seine Metamorphose bewerkstelligte, gerade auf den Sekretär zu, dessen Schloß unter seiner

Nachtigall

 zu krachen anfing.



»Gut!« murmelte der Graf, der sich ohne Zweifel auf irgend ein Geheimnis der Schlosserei verließ, das dem Manne der Dietriche, so geschickt er auch sein mochte, nicht bekannt war: »Gut! du wirst für ein paar Minuten genug haben . . . « Und er trat an das Fenster.



Der Mensch, welchen er hatte auf einen Weichstein steigen sehen, war wieder herabgestiegen und ging in der Straße auf und ab; aber statt sich um diejenigen zu bekümmern, welche durch die Avenue des Champs-Elysées oder durch den Faubourg Saint-Honoré herbeikommen konnten, schien er seltsamer Weise nur mit dem beschäftigt, was bei dem Grafen vorging, und alle seine Bewegungen hatten zum Zwecke, zu sehen, wie sich die Sache in dem Cabinet gestaltete.



Monte Christo schlug sich plötzlich vor die Stirne und ließ über seine halbgeöffneten Lippen ein leichtes Lächeln hinschweben.



Dann näherte er sich Ali und sagte leise zu ihm:



»Bleibe hier in der Dunkelheit verborgen, und welches Geräusche Du auch hören magst, was auch vorgehen mag, tritt nicht eher ein und zeige Dich nicht eher, als bis ich Deinen Namen rufe.«



Ali machte mit dem Kopfe ein Zeichen, daß er verstanden habe und gehorchen werde.



Hiernach zog Monte Christo aus einem Schranke eine angezündete Kerze hervor, und in dem Augenblick, wo der Dieb am meisten mit dem Schlosse beschäftigt war, öffnete er sachte die Thüre, wobei er dafür sorgte, daß das Licht, welches er in der Hand hielt, vollständig auf sein Gesicht fiel.



Die Thüre drehte sich so sachte, daß der Dieb das Geräusch nicht hörte, aber zu seinem großen Erstaunen sah dieser plötzlich, daß sich das Zimmer erleuchtete. Er wandte sich um.



»Ei! guten Abend, mein lieber Herr Caderousse,« sprach Monte Christo, »was Teufels wollen Sie denn zu dieser Stunde hier machen?«



»Der Abbé Busoni!« rief Caderousse.



Und da er nicht wußte, wie diese seltsame Erscheinung bis zu ihm gekommen war, insofern er doch die Thüre geschlossen hatte, ließ er seinen Bund falscher Schlüssel fallen und blieb bestürzt und unbeweglich auf dem Platze. Der Graf stellte sich zwischen Caderousse und das Fenster und schnitt so dem erschrockenen Diebe sein einziges Rückzugsmittel ab.



»Der Abbé Busoni!« wiederholte Caderousse, den Grafen mit stieren Augen anschauend.



»Allerdings der Abbé Busoni,« versetzte Monte Christo, »er selbst, in Person, und es freut mich, daß Sie mich wiedererkennen, mein lieber Herr Caderousse, das beweist, daß wir ein gutes Gedächtnis haben, denn wenn ich mich nicht täusche, sind es bald zehn Jahre, daß wir uns nicht gesehen.«



Diese Ruhe, diese Ironie, diese Gewalt erfaßten den Geist von Caderousse mit einem schwindelartigen Schrecken.



»Der Abbé! der Abbé!« murmelte er, während seine Zähne klapperten und seine Hände sich krampfhaft zusammenzogen.



»Wir wollen also den Herrn Grafen von Monte Christo bestehlen?« fuhr der vermeintliche Abbé fort.



»Mein Herr Abbé,« murmelte Caderousse, der das Fenster zu erreichen suchte, welches ihm Monte Christo unbarmherzig abschnitt, »mein Herr Abbé, ich weiß nicht . . . ich bitte Sie, zu glauben . . . ich schwöre Ihnen . . . «



»Ein Fenster durchschnitten,« fuhr der Graf fort, »eine Blendlaterne, ein Bund Nachtigallen, ein halb gesprengter Sekretär, das ist doch klar.«



Caderousse erstickte beinahe in seiner Halsbinde, er suchte eine Ecke, in der er sich verbergen, ein Loch, durch das er verschwinden könnte.



»Ah! ich sehe, Sie sind immer noch derselbe, mein Herr Mörder,« sprach der Graf.



»Herr Abbé, da Sie Alles wissen, so wissen Sie auch, daß nicht ich es war, sondern die Carconte; es ist dies im Prozeß erkannt worden, da sie mich nur zu den Galeeren verurteilt haben.«



»Sie haben also Ihre Zeit beendigt, da ich Sie hier gerade damit beschäftigt finde, sich wieder auf die Galeeren schicken zu lassen?«



»Nein, Herr Abbé, ich bin durch Jemand befreit worden.«



»Dieser Jemand hat der Gesellschaft einen vortrefflichen Dienst geleistet!«



»Ah! ich hatte jedoch versprochen . . . «



»Sie sind also bannbrüchig?« unterbrach ihn Monte Christo.



»Ach! ja,« erwiderte Caderousse in größter Unruhe.



»Schlechter Rückfall . . . das wird Sie, wenn ich mich nicht täusche, auf den Richtplatz bringen. Schlimm, schlimm, Diavolo! wie die Weltlichen meines Landes sagen.«



»Herr Abbé, ich gebe einem Zuge nach . . . «



»Das behaupten alle Verbrecher.«



»Die Not . . . «



»Schweigen Sie doch,« sprach mit verächtlichem Tone Busoni, »die Not kann dahin führen, daß man ein Almosen fordert, daß man ein Brot an der Thüre eines Bäckers stiehlt, aber nicht daß man einen Sekretär in einem Hause sprengt, welches man unbewohnt glaubt. War es auch die Not, als Sie den Juwelier Joannès, der Ihnen fünf und vierzig tausend Franken für den Diamant, welchen Sie von mir erhalten, ausbezahlte, ermordeten, um den Diamant und das Geld zu haben?«



»Verzeihung, Herr Abbé, Sie haben mich schon einmal gerettet, wenn Sie noch einmal . . . «



»Das ermutigt mich nicht.«



»Sind Sie allein, Herr Abbé,« fragte Caderousse die Hände faltend, »oder haben Sie bereits Gendarmen in Ihrer Nähe, um mich festzunehmen?«



»Ich bin ganz allein,« antwortete der Abbé, »und werde noch einmal Mitleid mit Ihnen haben und Sie gehen lassen, welches Unglück auch meine Schwäche nach sich ziehen dürfte, wenn Sie mir die volle Wahrheit sagen.«



»Ah! mein Herr Abbé,« rief Caderousse, sich Monte Christo einen Schritt nähernd, »ich kann wohl sagen, daß Sie mein Retter sind.«



»Sie behaupten, man habe Sie aus dem Bagno befreit?«



»Oh! so wahr ich Caderousse heiße, Herr Abbé!«



»Wer dies?«



»Ein Engländer.«



»Wie hieß er?«



»Lord Wilmore.«



»Ich kenne ihn und werde also erfahren, ob Sie lügen.«



»Mein Herr Abbé, ich spreche die reine Wahrheit.«



»Dieser Engländer beschützte Sie?«



»Nicht mich, sondern einen jungen Corsen, der mein Kettengefährte war.«



»Wie hieß dieser junge Corse.«



»Benedetto.«



»Das ist ein Taufname?«



»Er hatte keinen andern, denn er war ein Findelkind.«



»Also ist dieser junge Mann mit Ihnen entwichen?«



»Ja.«



»Wie dies?«



»Wir arbeiteten in Saint-Mandrier bei Toulon. Kennen Sie Saint-Mandrier?«



»Ich kenne es.«



»Nun! während man schlief, von Mittag bis um ein Uhr . . . «



»Galeerensklaven, welche Siesta halten! Man beklage doch diese Bursche!« sprach der Abbé.



»Verdammt!« rief Caderousse, »man kann nicht immer arbeiten, man gehörte nicht zu den Hunden.«



»Zum Glück für die Hunde.«



»Während also die Andern Siesta hielten, entfernten wir uns ein wenig, durchsägten unsere Ketten mit einer Feile, die uns der Engländer hatte zukommen lassen, und flüchteten uns schwimmend.«



»Was ist aus diesem Benedetto geworden?«



»Ich weiß es nicht.«



»Sie müssen es jedoch wissen.«



»In der Tat nicht. Wir trennten uns in Hyères.«



Und um seiner Betheurung mehr Gewicht zu verleihen, machte Caderousse abermals einen Schritt gegen den Abbé, welcher unbeweglich, stets ruhig und forschend, auf seinem Platze blieb.



»Sie lügen!« sprach der Abbé mit einem Ausdruck unwiderstehlicher Herrschaft.



»Herr Abbé!«



»Sie lügen! Sie lügen! Dieser Mensch ist noch Ihr Freund, und Sie bedienen sich vielleicht desselben als eines Genossen.«



»O Herr Abbé! . . . «



»Wie haben Sie gelebt, seitdem Sie Toulon verlassen? Antworten Sie.«



»Wie ich konnte.«

 



»Sie lügen!« wiederholte der Graf zum dritten Male mit einem noch gebieterischeren Tone.



Caderousse schaute den Grafen erschrocken an.



»Sie haben von dem Gelde gelebt, das er Ihnen gegeben,« fuhr dieser fort.



»Ja, es ist wahr,« sprach Caderousse, »Benedetto ist der Sohn eines vornehmen Herrn.«



»Wie kann er der Sohn eines vornehmen Herrn sein?«



»Der natürliche Sohn.«



»Wie heißt dieser vornehme Herr?«



»Graf von Monte Christo, derselbe, bei welchem wir uns befinden.«



»Benedetto, der Sohn des Grafen?« versetzte Monte Christo ebenfalls erstaunt.



»Verdammt! ich muß es wohl glauben, da der Graf selbst einen falschen Vater für ihn gefunden hat, da ihm der Graf viertausend Franken monatlich gibt, da ihm der Graf fünfmal hundert tausend Franken durch sein Testament hinterläßt.«



»Ah! ah!« rief der falsche Abbé, der zu begreifen anfing; »und welchen Namen führt mittlerweile dieser junge Mensch?«



»Er nennt sich Andrea Cavalcanti.«



»Also ist es der junge Mann, den mein Freund, der Graf von Monte Christo, bei sich empfängt, und der Fräulein Danglars heiraten wird?«



»Ganz richtig.«



»Und Sie dulden dies. Elender! Sie, der Sie sein Leben und seine Brandmarkung kennen?«



»Warum soll ich einen Kameraden verhindern, glücklich zu werden?«



»Es ist richtig, es kommt nicht Ihnen zu, Herrn Danglars zu warnen, das ist meine Sache.«



»Thun Sie das nicht, Herr Abbé! . . . «



»Warum nicht?«



»Wir würden dadurch unser Brot verlieren!«



»Und Sie glauben, um Elenden, wie Ihr seid, das Brot zu erhalten, werde ich mich zum Begünstiger ihrer listigen Streiche, zum Mitschuldigen ihrer Verbrechen machen?«



»Herr Abbé . . . « sagte Caderousse, sich abermals nähernd.



»Ich werde Alles sagen.«



»Wem?«



»Herrn Danglars.«



»Donner und Teufel!« rief Caderousse, ein blankes Messer aus seiner Weste ziehend und den Grafen mitten auf die Brust stoßend, »Du wirst nichts sagen, Abbé!«



Zum großen Erstaunen von Caderousse sprang der Dolch, statt in die Brust des Grafen zu dringen, stumpf ab.



Zu gleicher Zeit packte der Graf mit der linken Hand das Faustgelenke des Mörders und drehte es mit einer solchen Kraft, daß das Messer aus den erstarrten Fingern fiel und Caderousse einen Schrei des Schmerzes ausstieß.



Aber der Graf hielt bei diesem Schrei nicht an, sondern drehte fortwährend das Handgelenke des Banditen, bis dieser mit ausgerenktem Arme zuerst auf die Knie und dann mit dem Gesichte auf die Erde fiel.



Der Graf stützte seinen Fuß auf den Kopf von Caderousse und sprach:



»Ich weiß nicht, was mich zurückhält, Dir den Schädel einzutreten, Bösewicht!«



»Ah! Gnade! Gnade!«



Der Graf zog seinen Fuß zurück und sprach: »Stehe auf!«



Caderousse stand auf.



»Mein Gott! welche Faust haben Sie, Herr Abbé!« sagte Caderousse seinen durch die Hand, die ihn umschlossen, völlig gequetschten Arm streichelnd; »mein Gott, welche Faust!«



»Stille. Gott verleiht mir die Kraft, ein wildes Tier, wie Du bist, zu bändigen; ich handle im Namen Gottes, dessen erinnere Dich wohl, Elender, und Dich in diesem Augenblick verschonen, heißt abermals den Absichten Gottes dienen.«



»Ja!« seufzte Caderousse ganz schmerzhaft.



»Nimm diese Feder und dieses Papier und schreibe, was ich dir dictiren werde.«



»Ich kann nicht schreiben, Herr Abbé.«



»Du lügst; nimm diese Feder und schreibe.«



Durch diese höhere Macht unterjocht, setzte sich Caderousse und schrieb:



»Mein Herr, der Mensch, den Sie bei sich empfangen und dem Sie Ihre Tochter bestimmen, ist ein ehemaliger mit mir aus dem Bagno von Toulon entwichener Galeerensklave; er hatte die Nummer 59 und ich die Nummer 58.



»Er hieß Benedetto; aber er weiß seinen wahren Namen nicht, da er nie seine Eltern gekannt hat.«



»Unterzeichne!« fuhr der Graf fort.



»Sie wollen mich also in das Verderben stürzen?«



»Wenn ich dies wollte, so würde ich Dich in die nächste Wachtstube schleppen; überdies wirst Du zu der Stunde, wo das Billet an seine Adresse abgegeben wird, wahrscheinlich nichts mehr zu befürchten haben; unterzeichne also.«



Caderousse unterzeichnete.



»Die Adresse:

An Herrn Baron Danglars, Banquier, Rue de la Chaussée d’Antin.



Caderousse schrieb die Adresse. Der Abbé nahm das Billet und sprach:



»Nun ist es gut, gehe.«



»Wo hinaus?«



»Wo Du hereingekommen bist.«



»Ich soll also zum Fenster hinaus?«



»Du bist wohl da hereingekommen?«



»Sie führen etwas gegen mich im Schilde, Herr Abbé?«



»Dummkopf, was soll ich gegen Dich im Schilde führen?«



»Warum lassen Sie mir nicht die Thüren öffnen?«



»Wozu den Portier wecken?«



»Herr Abbé, sagen Sie mir, daß Sie meinen Tod nicht wollen.«



»Ich will, was Gott will.«



»Aber schwören Sie mir, daß Sie mich nicht schlagen werden, während ich hinabsteige.«



»Feiger Schwachkopf!«



»Was wollen Sie aus mir machen?«



»Das frage ich Dich? Ich versuchte es, einen glücklichen Menschen aus Dir zu machen, und machte einen Mörder aus Dir.«



»Herr Abbé, wagen Sie noch einen letzten Versuch.«



»Es sei,« sprach der Graf. »Höre, Du weißt, daß ich ein Mann von Wort bin?«



»Ja,« antwortete Caderousse.



»Wenn Du unversehrt nach Hause kommst, so verlasse Paris, verlasse Frankreich, und ich werde Dir überall, wo Du auch sein magst, so lange Du Dich ehrlich aufführst, eine kleine Pension zusenden; denn wenn Du unversehrt nach Hause kommst, nun wohl . . . «



»Nun?« fragte Caderousse ganz bebend.



»Nun wohl! so glaube ich, daß Dir Gott verziehen hat, und werde Dir auch verzeihen.«



»So wahr ich ein Christ bin,« stammelte Caderousse zurückweichend, »Sie machen mich vor Angst sterben.«



»Vorwärts!« sprach der Graf, Caderousse mit dem Finger das Fenster bezeichnend.



Wenig beruhigt durch das Versprechen des Grafen, schwang sich Caderousse auf das Fenster und setzte den Fuß auf die Leiter.



Hier hielt er zitternd an.



»Nun, steige hinab,« sprach der Abbé, die Arme kreuzend.



Caderousse fing an zu begreifen, daß von dieser Seite nichts zu befürchten war, und stieg hinab.



Da näherte sich der Graf mit der Kerze, so daß man von der Champs-Elysées aus diesen Menschen unterscheiden konnte, der von einem andern Menschen beleuchtet aus dem Fenster stieg.



»Was machen Sie denn, Herr Abbé?« sagte Caderousse; »wenn eine Patrouille vorüber käme . . . «



Und er blies die Kerze aus.



Dann stieg er vollends hinab; doch erst, als er den Boden des Gartens unter seinen Füßen fühlte, war er hinreichend beruhigt.



Monte Christo kehrte in sein Schlafzimmer zurück und sah, einen raschen Blick vom Garten auf die Straße werfend, zuerst Caderousse, der, nachdem er herabgestiegen war, einen Umweg im Garten machte und seine Leiter an das äußerste Ende der Mauer stellte, um an einem andern Platze hinauszugelangen, als wo er hereingekommen war.



Dann von dem Garten auf die Straße übergehend, sah er den Menschen, der zu warten schien, parallel in der Straße fortlaufen und sich hinter dieselbe Ecke stellen, bei der Caderousse herabsteigen wollte.



Caderousse stieg langsam auf die Leiter und streckte, als er die obersten Stufen erreicht hatte, den Kopfüber die Mauerkappe, um sich zu überzeugen, die Straße wäre leer.



Man sah Niemand, man hörte Niemand. Es schlug ein Uhr auf dem Invalidenhause.



Da setzte sich Caderousse rittlings auf die Mauerkappe, zog die Leiter an sich, hob sie über die Mauer, und fing an hinabzusteigen oder ließ sich vielmehr an den zwei Pfosten hinabgleiten, ein Manoeuvre, das er mit einer Geschicklichkeit ausführte, welche Übung und Gewohnheit andeutete.



Aber einmal auf diesem Abhange, konnte er nicht mehr anhalten. Vergebens sah er einen Menschen in dem Augenblicke, wo er halbwegs war, aus dem Schatten hervorstürzen; vergebens sah er einen Arm in dem Augenblicke sich erheben, wo er die Erde berührte, ohne sich in Verteidigungsstand setzen zu können; dieser Arm stieß ihn so wütend in den Rücken, daß er die Leiter losließ und um Hilfe rief.



Ein zweiter Stoß drang beinahe in derselben Sekunde in seine Seite, und er stürzte mit dem Ausruf:



»Mörder! Mörder!« nieder.



Als er sich endlich auf der Erde wälzte, fa