Der Schatzgräber von Ehringsdorf

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Der Weg in die Tiefen der Erde

Großvater Fischer stopfte sich aus einem abgeschabten ledernen Tabaksbeutel eine neue Pfeife, tat einen langen, genießerischen Zug und setzte dann seine Erzählung fort: »Ich stand nun also eines schönen Tages mit meinen Brüdern und ein paar Hilfsarbeitern unternehmungslustig da, um meine Entdeckungsreise in die Tiefen der Erde anzutreten. Ich kannte ja unsere Steinbrüche schon gut genug, um zu wissen, dass ich im Laufe der Zeit da unten manchen interessanten Fund würde machen können, und eine leise Vorahnung sagte mir sogar, dass ich vielleicht auch so glücklich sein würde, dem Urmenschen, der einmal in unserer Ehringsdorfer Landschaft gelebt hatte, auf die Spur zu kommen. Das wollte ich meiner Lebensarbeit als einfacher Steinbrecher zum großen, erstrebenswerten Ziel setzen. Ob ich es wohl erreichen würde?


Damals — es war vor mehr als fünfzig Jahren — gab es erst wenige von unseren modernen technischen Hilfsmitteln für die Erdarbeiten. Wir mussten also beim ersten Ausschachten zunächst einmal mit Spitzhacken und Schaufeln den Mutterboden abtragen und ihn mit Handkarren in die nächstgelegenen, schon ausgeräumten und nicht mehr betriebenen Steinbrüche fortschaffen. Ebenso ging es mit dem darunterliegenden Abraum von wertlosem Gestein. Das war eine mühselige Arbeit und kostete manchen Tropfen Schweiß, denn wir waren dabei ja nur auf unsere Hände und Arme angewiesen. Heute kommt man schneller damit vorwärts. Die großen Greifer und Bagger, wie ihr sie an unseren Baustellen beim Ausschachten sehen könnt, leisten natürlich unvergleichlich viel mehr. Aber die gab es damals noch nicht, und wir hätten im Anfang unserer Arbeit auch gar nicht Geld genug gehabt, um eine so teure Hilfskraft anschaffen zu können.

Die Schwierigkeiten wurden beim Fortschreiten der Abbauarbeiten noch dadurch erhöht, dass im Gegensatz zu anderen Steinbrüchen, die meistens nach einer Seite offen sind und dadurch leichtere Transportmöglichkeiten für die Beförderung von Steinen und Abraum bieten, unser Unternehmen schachtartig von der Erdoberfläche in die Tiefe getrieben werden musste.

Nachdem wir uns etwa sechs Meter tief in die Erde hineingearbeitet hatten, wobei ich eine ganze Menge von allerlei gewöhnlichen Schneckenhäusern gefunden hatte, trafen wir unter einer neuen Erdschicht auf eine Ablagerung von bläulich schwarzem Tuffsand und darunter auf die erste Bank von gelbgrauem Stein, in die an verschiedenen Stellen eine Erdschicht von etwa 25 cm Stärke eingelagert war. Sie sah ganz schwarz aus und wurde an der Sonne steinhart. Nun fand ich auch schon Tierzähne, Rehgehörne und Knochenreste.

Wir hatten noch nicht allzu lange an der Anlage des Steinbruchs gearbeitet, da erhielten wir den ersten wissenschaftlichen Besuch. Die Erforscher der Urgeschichte wussten längst die Weimarer Umgebung zwischen Ehringsdorf und Taubach als eine reiche Fundgrube für ihre Sammlungen zu schätzen, denn ich war ja nicht der Erste, der in diesem historisch so wichtigen Boden auf Entdeckungen ausging. Die Herren Gelehrten hatten seit langer Zeit ein wachsames Auge auf unsere Heimatgegend, und wenn hier ein neuer Steinbruch aufgemacht wurde, dann waren sie schnell da, angelockt wie die Wespen vom Honigtopf, um sich einen möglichst großen Teil der zu erwartenden Funde für ihre Forschungszwecke zu sichern.


Da erschien also eines schönen Tages ein dicker, gemütlicher Herr an unserer Arbeitsstelle und begrüßte mich freundlich:

›Guten Morgen — ich möchte gern Herrn Fischer sprechen.‹

›Der bin ich selbst‹, sagte ich, ›was wünschen Sie?‹

›Ich bin‹, sagte der Dicke, ›der Doktor Wild von der Landesanstalt für Vorgeschichte in Halle und habe gehört, das Sie hier einen neuen Steinbruch in Betrieb genommen haben. Da wollte ich ihn mir gern mal ein bisschen ansehen.‹

›Ja, Herr Doktor‹, entgegnete ich, ›das ist ganz schön und gut und Sie sollen mir herzlich willkommen sein. Aber hier gibt es einstweilen noch nicht viel zu sehen. Wir sind bis jetzt nicht sehr tief gekommen und haben zunächst auch nichts Neues gefunden, was Sie interessieren wird und was zu zeigen sich lohnt.‹

›Macht nichts, Herr Fischer — macht gar nichts‹, antwortete mir mein hartnäckiger Besucher. ›Was nicht ist, kann noch werden. Sie wissen ja, die Forschung muss viel Kleinarbeit leisten. Dabei ist jede, auch die kleinste und dem Laien unbedeutend erscheinende Einzelheit von Wert und Wichtigkeit.‹

Der gute Mann war nicht davon abzubringen, sich einmal genau bei uns umsehen zu wollen. Was konnte ich dagegen machen? Wir mussten ja die gelehrten Herren bei ihren Untersuchungen unterstützen, soweit wir konnten. Mein gemütlicher Gast begann also, in aller Seelenruhe, zwischen Erde und Steinen mit einer Behendigkeit herumzuklettern, die man seiner Körperfülle gar nicht zugetraut hätte. Er sah sich dabei überall aufmerksam um, und ich wurde im Stillen schon ein wenig ärgerlich und ungeduldig, denn ich hatte den Tag gerade eine Menge zu tun und war nicht ganz einverstanden damit, dass mir der neugierige Bücherwurm gerade in diesem Augenblick in die Quere kam. Aber es half nichts — ich musste mich fügen. Eigentlich freute es mich auch wieder, dass die Männer der Wissenschaft so großes Interesse für unsere Arbeit zeigten, auf die sie nicht verzichten können.

Denn schließlich sind die Urgeschichtsforscher auch auf uns angewiesen. Wenn sie, die in ihren Studierstuben und Hörsälen der Universitäten immer nur zwischen ihren Büchern lebten und zu körperlicher Betätigung keine Zeit fanden, mit eigenen Händen hier metertief in der Erde die viele Zentner schweren Steine hätten losbrechen, ausbuddeln und durchsuchen sollen, dann wäre wohl nicht viel dabei herausgekommen. Da mussten schon andere, kräftigere Kerle zupacken, als sie es waren.

Aber wenn die Professoren und Doktoren der Paläontologie, wie sie ihre Wissenschaft mit einem schrecklich gelehrten griechischen Namen bezeichnen, auf der einen Seite die Kraft unserer geübteren und leistungsfähigeren Körper brauchten, so hatten wir Arbeiter andererseits ihre besonderen Fachkenntnisse und größeren Erfahrungen in der Ausgrabungstechnik nötig für die Beurteilung all der Dinge, auf die wir in der Erde stießen. So wenig sie bei ihrer Forschungstätigkeit auf die Hilfe der starken Steinbrecher und Arbeiterfäuste verzichten konnten, so wenig durften wir werktätigen Menschen mit unserer ungenügenden Schulübung ihre Ratschläge, Hinweise und Aufforderungen zur Vorsicht und Aufmerksamkeit überhören, wenn nicht mancher Fund, von dessen Wert wir keine Vorstellung haben konnten, zerstört werden und damit einer Erhaltung für die Zukunft verloren gehen sollte.

Als mich der Gelehrte nach vielen gut gemeinten Ermahnungen zu größter Behutsamkeit und genauer Beobachtung bei allen künftigen Funden wieder allein gelassen hatte, machte ich mich von neuem an meine Arbeit.

Wir hatten eine gelbgraue Steinschicht durchbrochen und kamen nun mit einem Felsengebilde in Berührung, in dem der Steinbrecher einen sehr unbequemen Feind seiner Arbeit sieht und das er ›Pariser‹ nennt.«

»Pariser?«, fragte Rudi erstaunt. »Woher kommt denn der Name?«

»Ja«, antwortete der Großvater Fischer, »das fragst du mit gutem Recht. Glaub aber nur ja nicht, dass dieser von uns oft verwünschte Stein etwas mit der Hauptstadt Frankreichs zu tun hätte. Du weißt ja, dass wir Thüringer gern so reden, wie uns der Schnabel nun einmal gewachsen ist, und dass wir uns manche Ausdrücke und fremde Wörter mundgerecht zu machen wissen. So haben die Weimarer Steinbrecher den Namen ›Pariser‹ aus dem Wörtchen ›porös‹ gebildet, das so viel wie durchlässig bedeutet und eine Eigenschaft dieses Steins bezeichnet. Dabei ist aber der Pariser ein zäher und oft sehr harter Bursche. Er ist nach der neuesten Auffassung der Geologen entstanden aus sogenannter Fließerde, die, wie ihr Name schon andeutet, in der Ehringsdorfer Gegend von den Höhenzügen um Belvedere in die tiefer gelegene Umgebung durch Wasser und Wind abgeschwemmt wurde. Diese Gesteinsschicht deutet den Beginn der letzten Eiszeit an. Das aus ihr gebrochene Steinmaterial ist als Baustoff nicht zu gebrauchen, und wir mussten es aus mehr als zehn Meter Tiefe mit Handkarren herausschaffen. Es war hart mit den darunterliegenden Schichten verwachsen und machte uns daher schwer zu schaffen.«

»Sagen Sie doch bitte, Herr Fischer«, fragte Rudi, »wie haben Sie damals eigentlich diese starken Steinbänke auseinandergekriegt, als Sie noch keine modernen Werkzeuge wie etwa das Pressluftgerät hatten?«

»Gut, dass du danach fragst, Rudi — das muss ich euch noch erklären. An dem Arbeitsvorgang hat sich im Großen und Ganzen gegen damals nur das geändert, dass jetzt mit dem Presslufthammer anstatt bloß mit der Hand gearbeitet wird. Dadurch erspart der Steinbrecher viel Zeit und Kraft. Die Sache war die: In den abzubauenden Stein wurden mit Hammer, Spitze und Bohrer Löcher in je zehn Zentimeter Entfernung voneinander durch die ganze Stärke der Steinbank hindurchgetrieben. In diese hängte der Steinbrecher zwei halbrunde Eisen ein, die fast das ganze Loch ausfüllten. Zwischen sie setzte er in jedes Loch einen Stahlkeil, der mit dem Hammer gleichmäßig straff angezogen wurde. Dadurch entstand ein starker Druck, der den ganzen Stein unter Spannung setzte und ihn schließlich mit lautem Schlag auseinandertrieb, als wäre er mit einem großen Messer sauber auseinandergeschnitten worden. Aber es kam auch manchmal vor, dass der auf diese Art angebohrte Stein nicht von der Stelle wich, auf der er angewachsen war. So ging es mir auch bei der Werkbank, von der ich eben erzählen wollte. Sie war so glashart, dass ich mit dem Meißel und dem gewöhnlichen Handwerkszeug nichts an ihr ausrichten konnte. Da musste also eine Sprengung helfen.«

 

»Großvater«, unterbrach Klaus den Alten, »erzähl doch mal, wie eine solche Sprengung am Stein eigentlich gemacht wird.«

»Das wollte ich eben tun, Klaus. Ihr müsst daran denken, Jungens, dass ich immer noch von der Zeit vor fünfzig Jahren spreche, in der wir nur wenig von den Hilfsmitteln wussten, die heute die Arbeit im Steinbruch erleichtern. Was jetzt zum Beispiel ein Mann allein mit dem Kompressor in einer halben Stunde schafft, um ein Bohrloch im harten Felsgestein anzulegen, damit hatten damals drei kräftige Arbeiter einen halben Tag lang zu tun. Sie benutzten dazu einen großen und starken Stahlbohrer, den einer von ihnen führte, während die beiden anderen im gleichen Takt mit ihren zwanzig Pfund schweren Hämmern darauf schlugen. Nach jedem Schlag musste das Bohrloch mit einem besonders dazu konstruierten, löffelartigen Gerät von dem Abfall an kleineren Steinen, der beim Bohren entstanden war, gereinigt werden. Nach vier Stunden hatten die Männer ein Loch von 1,60 Meter Tiefe geschaffen. Dabei mussten die letzten zehn Zentimeter trocken gebohrt werden, damit beim Einführen der Zündschnur und des Pulvers keine Pulverkörnchen an den feuchten Wänden des Bohrloches hängen blieben und die Wirkung des Sprengschusses stören konnten.

Das Bohrloch wurde dann mit der Zündschnur und einer 20 Zentimeter hohen Säule von Schwarzpulver gefüllt, auf die ein Papierpfropf gesetzt wurde, der bei der Sprengung die etwa noch an den Wänden des Bohrloches haftenden Pulverkörnchen mit hinunternehmen sollte. Auf diesen Pfropfen kam eine bis an den Rand des Bohrloches reichende Schicht von festgestampftem, trockenen Lehm oder Sand. Das Bohrloch wurde an seinem Ausgang an der Oberfläche des zu sprengenden Steines mit Reisig abgedeckt, um zu verhindern, dass bei der Sprengung die Steinbrocken allzu weit in die Gegend flogen. Außer Schussweite wurde ein Mann mit einer Glocke aufgestellt, um die in der Nähe arbeitenden Leute oder zufällig vorübergehenden Passanten zu warnen.

Dann schnitt der Sprengmeister die Zündschnur zurecht. Er muss dabei genau berechnen, wie lang sie sein muss, um die Pulverladung nicht eher zur Explosion zu bringen, als bis er in Deckung gegangen ist. Nach einigen Minuten hat die glimmende Zündschnur die Sprengladung erreicht. Mit kurzem, wuchtigem Schlag oder mit einem kanonenschussartigen Knall — je nachdem, ob der zu sprengende Stein frei steht oder noch in die unteren Schichten hineinreicht — reißt die Kraft des Pulvers den Felsen aus seiner Lage und macht den Weg zur weiteren Arbeit an ihm frei.

Ich will euch von den Sprengungen noch etwas mehr erzählen, denn es passieren dabei allerlei teils heitere, teils auch recht ernste Dinge. Eines Tages hatten wir wieder eine Sprengung vorbereitet. Das Bohrloch war fertig angelegt, mit Pulver gefüllt und mit Reisig abgedeckt. Der Mann mit der Glocke gab sein Warnungssignal, die Zündschnur glimmte schon, und jedermann brachte sich in Deckung. Auf einmal knallte die Explosion wie der Abschuss eines schweren Geschützes. Reisig und Steinbrocken flogen zischend, schwirrend und pfeifend durch die pulverqualmerfüllte Luft. Mehrere Felsstücke durchschlugen das Dach des Unterkunftsraumes der Arbeiter, von denen glücklicherweise niemand verletzt wurde. Trotz des Unheil verkündenden Getöses war die Sache glimpflicher abgelaufen, als wir schon befürchtet hatten.


Kurze Zeit nach der Sprengung klingelte in unserem Büro das Telefon, und man rief mich an den Apparat. Die Stimme des Geschäftsführers in einem benachbarten Kalkwerk, der mein Schulkamerad gewesen war, klang mir vorwurfsvoll entgegen:

›Höre mal, Robert — heute hast du mit deinem Meisterschuss sogar den alten Wilhelm Tell übertroffen.‹

›Wieso, Oskar?‹, fragte ich erstaunt zurück. ›Wie meinst du das?‹

›Na, wenn du gerade mal Zeit hast, komm doch rüber und sieh dir die Bescherung bei uns einmal an. Da wirst du staunen!‹

Neugierig geworden, machte ich mich gleich auf den kurzen Weg in die Nachbarschaft. Da war alles in heller Aufregung. Ein Steinbrocken von erheblicher Größe war über 300 Meter weit durch die Luft geflogen, hatte das gläserne Oberlichtdach des Kontors durchschlagen und den friedlich über ihren Kontobüchern sitzenden Angestellten einen ganz gehörigen Schrecken eingejagt. Aber auch hier war außer dem zertrümmerten Glasdach und einem zerbrochenen Aktenständer zum Glück kein Schaden angerichtet worden. Die Reparaturkosten konnten wir durch eine Steinlieferung ausgleichen.

Ein anderes Mal kam ich selbst bei der Vorbereitung einer Sprengung weit weniger glücklich davon.

Es war an einem bitterkalten Wintertag. Der strenge Frost von 20 Grad zwang uns zu Sprengungen am Gestein. Ich hatte mit zwei Mann als Zuschlägern das Bohrloch fast fertig ausgelegt und sagte nun zu den Leuten:

›Halt — Männer, setzt mal eure Hämmer in Ruhe!‹

Nun hatten die beiden sich wegen der schneidenden Kälte die Köpfe dick vermummt und der eine von ihnen mochte deshalb meinen Zuruf nicht verstanden haben. Ich hockte vor dem Bohrloch und stützte mich, um besseren Halt zu haben, mit der rechten Hand auf den Kopf des Bohrers, als plötzlich der zwanzig Pfund schwere Hammer des Zuschlägers haarscharf an meinem Kopf vorbeisauste und auf meine Hand herunterschmetterte. Ihr könnt euch denken, dass mir Sterne vor den Augen tanzten und ich die Engel im Himmel pfeifen hörte, als ich aus der Tiefe des Steinbruchs an die Erde hinaufstieg. Das war buchstäblich ein schwerer Schlag für mich gewesen, denn die Hand blieb für immer verstümmelt. So wurde ich mit 29 Jahren schon zu einem halben Invaliden. Immerhin hatte dieses Unglück für mich auch wieder eine gute Seite: Ich fand nun mehr Zeit, mich eifriger als bisher um die prähistorischen Funde in unserer Ehringsdorfer Heimaterde zu kümmern.

Aber davon erzähle ich euch morgen weiter, denn heute ist es zu spät dazu geworden, und es heißt jetzt für euch: Marsch, ins Bett!«

Die Jungen maulten ein wenig, denn sie hätten gern noch etwas mehr gehört. Aber Klaus wusste, dass der Großvater unerbittlich auf Ordnung im Hause hielt und keinen Widerspruch gegen seine Entscheidungen duldete. Da war also nichts zu machen. Rudi warf einen scheuen Blick auf die verkrüppelte rechte Hand des alten Mannes, und ein fröstelndes Gefühl lief ihm den Rücken hinunter, als er an die schlichten Worte dachte, mit denen der Erzähler von seinem Unfall berichtet hatte. Ohne sich recht klar darüber zu sein, empfand er etwas von dem Heldenmut eines harten und schweren Arbeiterlebens, das in stiller Selbstverständlichkeit abläuft und nicht viel Aufhebens macht von den Bedrohungen und Gefahren, die täglich über seinem Wege hängen.

Nachdenklich machte er sich auf den Heimweg.

»Herr Fischer — wir stehen hier auf historischem Boden!«

Die beiden Jungen konnten es kaum erwarten, bis sie am nächsten Abend wieder im Stübchen des Großvaters Fischer saßen und der alte Steinbrecher seine geliebte Pfeife angezündet hatte, um dann seine Erzählung fortzusetzen:

»Wie ich schon gesagt habe, waren wir bei unseren Arbeiten im Steinbruch allmählich so tief in die Erde hineingekommen, dass der Abtransport der gebrochenen Steine und Erdmassen immer schwieriger und zeitraubender wurde. Da war es für uns alle eine wesentliche Erleichterung, als ich durch die Vermittlung eines alten Geschäftsfreundes einen großen Hebekran anschaffen und im Steinbruch aufstellen konnte, der mühelos Lasten bis zu hundert Zentnern Gewicht aus der Tiefe an die Erdoberfläche beförderte. Nun ging es besser und schneller vorwärts.

Unter der zuletzt gesprengten Steinbank fanden wir eine etwa 25 Zentimeter starke Aschenschicht, die mit Holzkohle, Knochenresten und Feuersteinen durchsetzt war. Die ungewöhnlich große Menge der Asche fiel mir auf und gab mir allerlei zu denken. Ich vermutete zunächst, sie sei ein Rückstand des bei der Sprengung verwendeten Pulvers. Trotzdem hob ich alles, was ich beim Ausräumen dieser Schicht fand, sorgfältig auf.

Zufällig kam am gleichen Tage mein alter Bekannter aus Halle, der Doktor Wild, wieder einmal zu mir zu Besuch. Ich führte ihn gleich an die Fundstelle, die er mit großem Eifer genau untersuchte. Dann trat er zu mir, schüttelte mir lange kräftig die Hand und rief:

›Meinen besten Glückwunsch, lieber Herr Fischer! Wir beide stehen hier auf wichtigem historischem Boden. Sie haben das Glück gehabt, die erste einwandfreie Kulturschicht in den weimarischen Steinbrüchen auf Ehringsdorfer Boden gefunden zu haben. Nun seien Sie auch recht vorsichtig beim Ausräumen — es sollte mich nicht wundern, wenn Sie hier noch eines schönen Tages den Steinzeitmenschen finden würden.‹

Der Gelehrte verließ mich bald wieder und ich ging mit ganz besonderem Eifer an die Durchsuchung der so wertvollen Kulturschicht, in der ich eine unerwartet reiche Ausbeute machen konnte. Es fanden sich darin Zähne vom Waldelefanten, vom Rhinozeros, Wildpferd und Bären, außerdem aber auch sehr schön bearbeitete Werkzeuge aus Feuerstein.«

Rudi riss erstaunt die Augen auf. »Waldelefanten und Rhinozeros?«, fragte er. »Ich dachte, die gäbe es bloß in Afrika oder Indien?«

»Dummer du«, wollte Klaus den Freund verulken, »neulich haben wir doch erst Elefanten im Zirkus gesehen!«

»Heute leben diese Tiere auf freier Wildbahn, wie es der Jäger nennt, nur noch in den tropischen Ländern, Rudi«, erklärte der Großvater Fischer nach dieser Unterbrechung, die Rudi nicht weiter krummnahm. »Aber vor der Eiszeit herrschte in dem nördlichen Europa ein Klima, das den Urwäldern so günstige Bedingungen bot, dass sie sich in großen Mengen auch in unserem Ilmtal aufhalten konnten. Und die zoologische Forschung hat beobachtet, dass dort, wo der Elefant lebt, auch das Rhinozeros, also das Nashorn, in seiner Begleitung erscheint, als ob sich der eine Dickhäuter nicht vom anderen trennen könnte.«

»Und was für Werkzeuge waren das, Großvater«, fragte Klaus, »die du fandest — wozu wurden sie gebraucht?«

Der alte Steinbrecher schmunzelte über den Eifer, mit dem die beiden Jungen bei der Sache waren.

»Zum größten Teil handelt es sich bei den Feuersteingeräten um Messer, Spitzen und Schabwerkzeuge«, antwortete er. »Und wozu sie gebraucht wurden? Ja, das ist eine Frage, über die sich die Gelehrten noch streiten. Wir wissen ja von den Lebens- und Arbeitsmethoden unserer frühesten Vorfahren erst herzlich wenig, und vieles davon wird uns wohl auch immer ein unerforschtes Geheimnis bleiben. Aber ihr dürft nicht etwa glauben, dass die Urmenschen ganz stumpf und dumpf dahingelebt hätten. Im Gegenteil — man kann nach all den Funden, die von den Urgeschichtsforschern im Laufe der Zeit in den verschiedenen Ländern der Erde gemacht und miteinander verglichen worden sind, sogar von einer verhältnismäßig hoch entwickelten handwerklichen Arbeitstechnik sprechen.«

»Aber Großvater«, fragte Klaus zweifelnd, »woher können denn die Forscher wissen, wie das früher einmal vor so langer Zeit war? Sie sind doch nicht dabeigewesen?«

»Nein, Klaus«, antwortete der Alte, »das sind sie natürlich nicht. Aber sie haben für diese Feststellung ihre besonderen wissenschaftlichen Arbeitsmethoden. Es gibt heute zwar kein Volk mehr, das auf einer Kulturstufe steht, die der des Urmenschen völlig gleicht; aber bei manchen noch vorhandenen Naturvölkern hat sich die kulturelle Entwicklung so verzögert, dass sich bei Ihnen noch Reste ihrer alten Lebensformen erhalten haben, die von den Forschern der Völkerkunde deshalb gern zum Vergleich mit denen der Steinzeitmenschen genommen werden, weil man glaubt, dass sie sich aus den Gewohnheiten der ersten Menschen entwickelt haben.«

»Herr Fischer«, erkundigte sich nun Rudi, »wissen Sie vielleicht, wo man außer in Ehringsdorf noch Funde aus der Urzeit gemacht hat?«

Der alte Mann lächelte. Ein bisschen davon habe ich mir von meinen wissenschaftlichen Besuchern erzählen lassen und anderes wieder aus der Fachliteratur erfahren.

Man hat natürlich überall auf der Erde danach gesucht und auch viel gefunden. Für uns ist von besonderer Wichtigkeit, dass vieles von dem Feuersteinmaterial, das wir in den Ehringsdorfer Steinbrüchen gefunden haben, in seiner Bearbeitungsweise auffallende Ähnlichkeit mit bestimmten französischen Fundstücken hat. Inzwischen ist die Forschung weiter vorgeschritten und zu neuen Ergebnissen gekommen. Zu meiner Zeit sind keine Funde gemacht worden, nach denen es möglich gewesen wäre, eine Verwandtschaft zwischen dem Ehringsdorfer Urmenschen und anderen, zum Beispiel dem nach seinen Fundort Neandertal im Rheinland benannten Menschen festzustellen. Nach dem heutigen Stande der Urgeschichtsforschung gilt es noch als durchaus zweifelhaft, dass der Ehringsdorfer ein Vorfahr des Neandertalers oder einer anderen Menschenform war, die zu späteren eiszeitlichen Menschen Beziehungen hatte. Die von unserem Ehringsdorfer verwendeten Steinwerkzeuge können jedoch als Vorläufer des von dem Neandertaler benutzten Arbeitsgerätes gelten. Aus den an allen möglichen Stellen der Erde gefundenen urgeschichtlichen Spuren der ersten Menschen kann man zwar nicht mit Bestimmtheit, aber doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen, dass dort, wo eine gleiche Bearbeitung der Feuersteine und die gleiche Verwendung der aus ihnen entwickelten Werkzeuge beobachtet wurde, auch gewisse Verbindungen oder Beziehungen zwischen den Menschen, die sie einst schufen, bestanden haben mögen. Aber das sind alles Fragen, die den Wissenschaftler mehr angehen als uns einfache Steinarbeiter und Handwerker. Wir sind nur die Hilfstruppen und Handlanger der Forschung.

 

Nun lasst mich aber erst einmal weitererzählen. Von den Werkzeugen und ihrer Verwendung durch den Urmenschen werdet ihr später bei Gelegenheit noch etwas mehr erfahren. Am besten ist es auf jeden Fall, wenn ihr sie euch einmal selbst in unserem Weimarer Museum für Ur- und Frühgeschichte gründlich anseht. Ihr könnt dort eine ganze Menge davon finden. Sehen ist besser als hören, und mit den Augen lernt man oft mehr als mit den Ohren.

Jetzt wollen wir also wieder in unseren Steinbruch hinuntersteigen. Während ich nach meinem schon geschilderten Unfall im Krankenhaus lag, hatte mein Bruder an meiner Stelle die Arbeiten beaufsichtigt. Er hatte nicht das starke Interesse für die urgeschichtliche Zeit und befasste sich in seiner Freizeit lieber mit anderen Dingen als mit der Suche nach prähistorischen Spuren. Aber wie es im Leben ja manchmal so zugeht — gerade er sollte in meiner Abwesenheit einen wegen seiner Seltenheit recht wertvollen Fund machen.

Wir arbeiteten damals — es war im Jahre 1912 — in etwa zehn Metern Tiefe an dem Abbau der Felsenschichten über dem ›Pariser‹, die von einer tiefschwarzen, schlammigen Erdmasse durchsetzt waren. Da meine eindringlichen Ermahnungen, alle bei dieser Arbeit entdeckten Knochen, Versteinerungen oder sonst irgendwie merkwürdigen und auffallenden Dinge sorgfältig aufzuheben, gewissenhaft befolgt wurden, konnte man bei meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus eine große Anzahl von Knochenteilen übergeben, die ich nun genauer und sachverständiger als mein Bruder untersuchte. Darunter fand ich einen Unterkiefer mit allen Zähnen, der, wie die mir bekannten Wissenschaftler feststellten, von einer Hyäne stammte.

Ja, Jungens — da macht ihr wieder große Augen und glaubt vielleicht, der alte Fischer wollte euch ein bisschen anschwindeln, aber ihr müsst immer wieder daran denken, dass in der Urzeit unsere Thüringer Heimat ganz anders aussah als heute, dass damals jahrtausendelang in ihr ein heißes Klima herrschte und deshalb viele Tiere und Pflanzen hier leben und gedeihen konnten, die inzwischen bei uns längst wieder ausgestorben sind.

Als ich mir dieses Raubtiergebiss näher ansah, bemerkte ich, dass die Reiß- und Backenzähne bis auf den Nerv herunter abgekaut und die übrigen Zähne so stark abgenutzt waren, dass das arme Vieh, das bestimmt ein ehrwürdiges Alter erreicht haben musste, wahrscheinlich bei seinen Mahlzeiten zuletzt an recht empfindlichen Zahnschmerzen gelitten haben wird.


Außer diesem interessanten Fund entdeckte ich bei der Durchsicht der übrigen Sammlung einen großen Röhrenknochen vom Schulterskelett des Rhinozeros, der deutlich die Schlagspur von einem harten Instrument trug. Vermutlich hatte einst ein urmenschlicher Jäger, dem das Tier zur Beute gefallen war, versucht, den Knochen zu zerschlagen, um an das als Leckerbissen begehrte Mark heranzukommen. Weil der Knochen aber besonders stark gewesen war, schien ihm das nicht gelungen zu sein, sodass nur eine leichte Einkerbung zurückgeblieben war. Mir fiel bei diesem Stück weiter auf, dass an ihm die Gelenkköpfe fehlten. Ich machte mir meine Gedanken darüber, wo sie geblieben sein könnten, bis ich in einem wissenschaftlichen Buch las, dass der Urmensch die großen und starken Knochen des Nashorns, und gerade die Gelenkköpfe mit Vorliebe, als Unterlage benutzte, wenn er irgendetwas zu hacken hatte. Da die Feuersteinmesser der urmenschlichen Jäger sehr scharf und die Knochengelenke der erlegten Jungtiere nicht so hart waren wie die starken Röhrenknochen, konnte er sie leicht ablösen. Auch eigneten sie sich besonders zu diesem Zweck, da sie einen Knorpelüberzug besaßen, der einen federnden Widerstand abgab. Zum Schlagen oder Hacken dienten dem Urmenschen größere, scharfe Feuersteine.

Mein erster Freund unter den Wissenschaftlern, der gemütliche Doktor Wild aus Halle, hatte inzwischen in den Fachzeitschriften über die Ehringsdorfer Funde einen Bericht veröffentlicht. Dadurch wurde unser Arbeitsplatz das Ziel einer wahren Pilgerfahrt von Urgeschichtsforschern aus allen deutschen Ländern, die sich an Ort und Stelle von der Wahrheit und dem Wert der Funde überzeugen wollten. Ich ließ mich aber durch sie nur wenig stören und machte mich ruhig weiter ans Werk. Nachdem die erste Kulturschicht ausgeräumt und wir eine darunterliegende ziemlich tiefe, lockere Gesteinsstufe ausgehoben hatten, ging der Abbau der Felsen schneller vorwärts. Wir standen nun vor einem starken Steinmassiv, dessen obere Felspartien schichtweise abgetragen wurden. Beim Abbau der gelben und glasharten Bank fanden sich große Mengen Abdrücke von Blättern der Eiche, Haselnuss, Linde und vor allem der Weide in dicht zusammengeballten, fest verwachsenen Schichten bis zu fünfzehn Zentimeter Stärke. Dazwischen waren Moose, Algen, Schilf und viele Vogelfedern eingelagert. Alles das deutete darauf hin, dass die Landschaft hier einmal sehr wasserreich gewesen sein musste.

Eines Tages machte ich einen besonders schönen Fund. In einer porösen Steinschicht, die Einlagerungen von zahlreichen Moosen und Gräsern zeigte, entdeckte ich ein kleines Vogelnest in der Größe, wie es heute unsere Lerche baut, mit zwei winzigen Eiern darin. Es war mit seinem unteren Teil leicht auf dem Felsen angewachsen, die Ausfütterung und die Eier mit einer dünnen Kalk- und Kiesschicht überzogen. Ich konnte es mit Hammer und Meißel leicht von seiner steinernen Unterlage ablösen.«

Der Alte erhob sich, ging zu einem der Regale, in denen seine Sammlungen untergebracht waren, und nahm ein Stück heraus, um es den Jungen zu zeigen. Es war das versteinerte Vogelnest mit den kleinen Eiern darin; das lag nun vor den erstaunten und bewundernden Augen der jungen Menschen wie ein kleines, von einem geschickten Bildhauer sorgfältig gearbeitetes Kunstwerk und war doch ein Stück uralten Lebens in der Natur, das irgendein unerklärbares Geschehen über Jahrtausende hinweg erhalten hatte. Vielleicht war ein sehr kleiner Bewohner damals von einer Überschwemmung des Bodens, auf dem er genistet hatte, überrascht und aus seinem Brutgeschäft aufgeschreckt oder durch eine andere Katastrophe gezwungen worden, die Eier zu verlassen, die dann von dem unaufhörlichem Entwicklungs- und Gestaltungsprozess der Natur mitsamt dem Nest in den Stein gleichsam eingeschmolzen worden waren. Hier mochte sich eine kleine Tragödie des Tierlebens abgespielt haben, für die eine Lösung nur vermutet werden konnte.

Großvater Fischer legte das steinerne Nest behutsam wieder an seinen Platz im Regal und erzählte weiter:

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