Nightflights

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1. Januar: Sylvester, Paddy und ein Selbstmörder

Ich schätze, wir hätten gestern Abend doch ausgehen sollen. Wir dachten zwar dran, und wir redeten auch ziemlich lange drüber, wohin wir gehen sollten, aber als wir uns am Ende dann geeinigt hatten, zu Hause zu bleiben, war es sowieso schon zu spät.

Das letzte Mal, dass ich Sylvester aus war, war vor zwei Jahren in London. Ich traf mich mit ein paar Freunden, und wir gingen in Soho chinesisch essen. Wir besuchten ein Restaurant, das uns von jemand empfohlen worden war, der anscheinend seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr da gewesen war. Die erste Überraschung bestand darin, dass das Ding keine Konzession für Alkohol hatte. Das hieß aber nun beileibe nicht, dass man dort nicht trinken durfte (wenn es auch keine Getränke zu kaufen gab), es bedeutete nur, dass man sich seine eigenen Drinks mitbringen musste. Dummerweise hatte unser Gewährsmann das mit keinem Wort erwähnt. So bot sich uns, als wir so dasaßen und an unserem Jasmintee nippten, der unvergleichliche Anblick lauter fröhlicher Geschöpfe, die unermüdlich Berge von exotischen Leckereien in sich reinstopften. Offensichtlich hatten sie einen Bärenhunger entwickelt, nachdem sie aus allen Ecken und Enden der Stadt kistenweise Bier, Wein und Champagner in dieses Etablissement geschleppt hatten, das sie - anders als wir - offensichtlich schon einmal besucht haben mussten.

Wir wollten uns natürlich nicht lumpen lassen und beschlossen, zum Ausgleich etwas ganz Besonderes zu bestellen, ein Gericht, das - schwer zu erraten - von der Person, die uns das Lokal empfohlen hatte, über den grünen Klee gelobt worden war. Der Name des Gerichts ist mir leider mittlerweile entfallen, nicht, weil es mir schwerfällt, chinesische Namen zu behalten, sondern weil dieses Gericht auf deutsch kurz und bündig »Frühstück« bedeutete - nicht gerade ein erlesenes Menü für den Silvesterabend, vor allem, weil es nur vormittags serviert wurde. Ratlos mussten wir zur Speisekarte greifen. Aber keiner wollte sich mit »Entenschwimmhäuten und Fischlippen« oder ähnlichem anfreunden - obwohl ich es im Nachhinein bedaure, es nicht wenigstens bestellt zu haben. Ich glaube kaum, dass ich davon gegessen hätte, aber vielleicht wäre ich durch den Anblick etwas klüger geworden. Es passiert mir nämlich ab und zu, dass ich nachts aufwache, weil ich von einem Fischmaul geträumt habe, das einsam und verlassen auf einem leeren Teller lag und versuchte, mir etwas ins Ohr zu flüstern - etwas, was ich lieber gar nicht erst wissen wollte.

Als wir unseren Hunger notdürftig gestillt hatten, verließen wir das Restaurant (wo es mittlerweile zuging wie in einem Fellini-Film und die Gäste die Kellner aufforderten, die mitgebrachten Getränke mit ihnen zu teilen) und machten uns auf den Weg zum Trafalgar Square. Auf den Straßen war es nicht viel anders. Überall lungerten Gestalten herum, die aussahen wie Komparsen, für die in dem Fellini-Streifen, der in unserem chinesischen Lokal inszeniert wurde, kein Platz mehr war. Wohin man auch schaute, es gab nur Betrunkene, und jedermann versuchte krampfhaft, bloß nicht geradeaus zu gehen, dabei war es bei so vielen Menschen schon schwer genug, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, geschweige denn vorwärts zu kommen oder gar gegen den Strom zu schwimmen. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, und blieben stehen, um zu überlegen, was wir tun sollten. Aber es gab keine Zeit für eine Verschnaufpause: Der Versuch, auf unsere Individualität zu pochen, blieb unbemerkt: Jetzt wurden wir erst recht vom Sog der Strömung mitgerissen. Die Masse ergoss sich durch die Shaftesbury Avenue, bog um die Ecke in die Charing Cross Road und stampfte unaufhaltsam auf den Trafalgar Square zu. Irgendwann machte jemand hinter meinem linken Ohr eine Bierdose auf. Mir kam es vor, als hätte er mir den Kopf weggeblasen. Der Schaum sprudelte wie Schrapnelle auf mich herunter, und ich musste an eine Begebenheit denken, die sich vor Jahren in einem Vorort von Syracuse in Upper New York State ereignet hatte.

Syracuse ist eine Universitätsstadt. Lou Reed hat dort studiert, was ich allerdings erst entdeckte, als ich wieder in Europa war - und wenn schon. Es ist keine allzu große Stadt, hat aber trotzdem seine guten und schlechten Seiten. Die schlechte sollte man möglichst schnell in einem gepanzerten Wagen mit geschlossenen Fenstern passieren, nicht etwa, weil dann das Air-Conditioning besser funktioniert, sondern weil so verhindert wird, dass die Bewohner einem Molotowcocktails in den Wagen schmeißen, wenn man an einer roten Ampel hält. Das wurde mir erklärt, als wir in einem roten Kabrio durch besagten Stadtteil sausten.

Ich war nach Syracuse gekommen, um an einem Sommerkurs für Medienforschung teilzunehmen, und war einer von zehn Studenten eines Austauschprogramms, das von Paddy Scannell, einem leicht exzentrischen Dozenten für englische Literatur, mitorganisiert wurde.

Paddy tauchte eines Tages in einem wahrhaft furchterregenden Zustand in der Uni auf - mit zerfetzten Kleidern, kaputten Fingernägeln und blutunterlaufenen Augen - und verkündete, dass er die Nacht in einer Betonmischmaschine verbracht hatte. Dann fuhr er - als wäre das das Selbstverständlichste der Welt - mit einer Vorlesung über Tolstois Einstellung zur Ehe am Beispiel der Kreutzersonate fort. In Syracuse war Paddy die Unschuld in Person. Er weigerte sich, sich von den schrecklichen Stories, die über die Stadt erzählt wurden, einschüchtern zu lassen - vielleicht, weil das, was sich auf dem Unigelände abspielte, schon grausig genug war. Das Gebäude, in dem wir unsere Vorlesungen hörten, lag auf einem kleinen Hügel, und die Kids machten sich einen Jux daraus, die Autos, die auf der Anhöhe parkten, zu knacken - nicht, das muss ich noch hinzufügen, um sie zu klauen, sondern einfach nur, um die Handbremse zu lösen und seelenruhig zuzuschauen, wie die Autos rückwärts den Hügel runterrollten und gegen andere Autos prallten. Ich verbrachte einige Nachmittage damit, mir dieses eigenartige Schauspiel anzusehen, aber dann nutzte sich der Reiz des Neuen ab, und ich wandte mich wieder meinen Studien zu.

Mittlerweile machte der unverwüstliche Paddy die Stadt unsicher. Obwohl durch seine Größe und durch eine gewisse Weltfremdheit einigermaßen gehandicapt, war er trotz allem ein Mensch, der keine Gefahr scheute. Er war ein unerschrockener Entdecker und furchtloser Bergsteiger. Und er hatte ein Techtelmechtel mit einer seiner Studentinnen; es war kein Geheimnis, und keiner machte einen Hehl daraus - nur die Zöllner vom Kennedy-Airport waren über die Sache nicht im Bilde. Jane teilte Paddys Interesse für Literatur, aber von der Bergsteigerei wollte sie nichts wissen. Das war auch nicht weiter schlimm, denn man konnte sich kaum vorstellen, wie Jane auf Händen und Füßen zwischen den engen Spalten der Eiger-Nordwand und dem Abgrund balancierte. Dazu war sie eine viel zu feine Dame, und außerdem trug sie sowieso nur Röcke (und Kaschmirpullis). Trotzdem, als der Zöllner eines Tages am Kennedy-Airport ihren Koffer aufmachte, enthielt er kein einziges Kleidungsstück - nur Seile und Steigeisen. Es gibt Leute, die behaupten, dieser Vorfall hätte Chris Rea zu dem Song »Love‘s Strange Ways« inspiriert - immerhin ist er, wie Paddy, im Norden Englands geboren. Aber Nordengland ist eben nicht Nordamerika, das Land des Automobils.

In Amerika gibt das Auto den Ton an, und wenn es sich »zu Wort« meldet, springt man besser zur Seite. Was anderes blieb Paddy letztlich auch nicht übrig: Eines Morgens war er zeitig aus dem Haus gegangen. Die Straßen waren wie ausgestorben, als er sich, unbewaffnet und ohne jede Begleitung, durch den »bösen« Teil der Stadt bewegte. Nach einer Weile hörte er Schritte hinter sich. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass ihm ein schwarzer Typ in einem maßgeschneiderten Anzug folgte. Vielleicht fiel dem Schwarzen dabei auf, dass Paddy, trotz der schweren Bergstiefel, die ertrug, eine gewisse Ähnlichkeit mit Woody Allen hatte. Andererseits mag sich Paddy gedacht haben, dass der Schwarze O. J. Simpson ähnlich sah, dem berühmten Quarterback, der in letzter Zeit jeden Abend in einem TV-Werbespot für Orangensaft zu bewundern war. Aber O. J. Simpson war ein viel zu anständiger Kerl, um mit diesem hier verwechselt zu werden. Der Typ hinter ihm war allem Anschein nach ein »schwerer Bursche«. Und so ein Kerl hatte garantiert eine Knarre bei sich, speziell, wenn er allein war, und würde bestimmt nur eine passende Gelegenheit abwarten, um ihn damit zwischen den Schulterblättern zu kitzeln. Während Paddys Phantasie mit ihm durchging, und noch ehe ihm der Schweiß vom Nacken den Rücken herunterlaufen konnte, knallte es auch schon. Wie vom Blitz getroffen blieb Paddy stehen und hob beide Hände über den Kopf. Er flehte den Kerl an, um Gottes willen nicht zu schießen, er könne sich ja nehmen, was er wolle (der andere hatte eine Schuhgröße, die mindestens sechs Nummern größer war als seine - seine Stiefel waren ihm also wenigstens sicher und viel mehr hatte er eh nicht zu verlieren). Doch der Schwarze antwortete nicht, sondern kam immer näher. Schließlich holte er Paddy ein, drehte sich kurz zur Seite, um auf ihn herabzusehen (spätestens hier muss ihm die Ähnlichkeit mit Woody Allen aufgefallen sein), und sagte immer noch nichts. Er schüttelte nur ein paarmal den Kopf und ging seines Weges. Ein paar Meter weiter die Straße herunter bog der Wagen, aus dessen Auspuff es gerade geknallt hatte, um die Ecke und »feuerte« noch mal.

Manchmal versperren einem die Sachen, an die man fest glaubt, den Blick für das, was tatsächlich läuft; und manchmal tut man auch gut daran, das, woran man glaubt, lieber nicht in Frage zu stellen, weil es sich ganz zufällig mit der Realität decken könnte.

Als ich das erste Mal nach New York kam, wohnte ich in einem Hotel neben dem Empire State Building. Die Klimaanlage in meinem Zimmer tat‘s nicht richtig, und die heiße Feuchtigkeit war kaum noch zu ertragen. Sobald man sich irgendwo hinsetzte, wurde es fast unmöglich, wieder aufzustehen, nicht physisch, sondern psychisch. Die Kraft, die man aufwenden musste, um darüber nachzudenken, ob man aufstehen sollte oder nicht, war reine Verschwendung, denn schon der Gedanke allein nahm einen so mit, dass man nicht mehr die Energie hatte, ihn in die Tat umzusetzen. Also war es klüger, da zu bleiben, wo man war. Es kam mir vor, als könnte man die Luft wie einen Schwamm zusammendrücken und die Feuchtigkeit auspressen. Also saß ich da, vom Zeitunterschied noch ganz fertig, schloss die Augen und lauschte dem Air-Conditioner, der nicht ganz so laut war, um das Heulen der Polizeisirenen draußen zu übertönen, und mehr Hitze ins Zimmer wälzte, als für Kühlung sorgte. Schließlich schläferte mich der Rhythmus der Stadt ein, der sich im Geräusch des Ventilators zu bündeln schien.

 

Am nächsten Tag schlenderte ich mit ein paar Freunden zum Times Square. Wir waren vielleicht zu sieben oder acht, als wir den ziemlich breiten Bürgersteig entlangspazierten und uns die Neonreklamen in den spiegelnden Schaufenstern ansahen. Plötzlich kam ein Kerl ganz langsam auf uns zu und blieb genau vor uns stehen. Er schaute nicht auf und sagte, dass wir ihm im Weg stünden. Das war ziemlich an den Haaren herbeigezogen, denn um uns herum gab es eine Menge Platz, und wenn er gewollt hätte, hätte er, ohne den Bürgersteig verlassen zu müssen, bequem an uns vorbei gekonnt. Einer von uns fragte ihn, was das sollte: »Was meinst du, wir sind dir im Weg?« Der andere reagierte nicht und ließ keinen Zweifel daran, dass er nicht die geringste Lust hatte, sich auf eine Diskussion einzulassen. »Also pass auf, Mann«, sagte er noch einmal, »du bist mir im Weg.« Wir schauten uns an, und dann wieder ihn. Wir spürten alle, wie die Spannung wuchs und sich die Sache zuspitzte. Nach kurzem Zögern traten wir beiseite und machten ihm Platz. Er bewegte sich vorwärts, ging weiter, ohne auch nur ein Wort zu sagen oder sich auch nur noch einmal umzudrehen.

Als ich noch in England lebte, kannte ich zwei Drehbuchautoren, Sid und Dick. Sie waren mit meinen Eltern befreundet und schrieben Komödien. Ihre Stücke liefen oft im Fernsehen und waren sehr komisch. Kein Wunder, dass sie mit der Zeit immer bekannter wurden. Sie schrieben für Morecambe und Wise, die damals die wahrscheinlich erfolgreichsten Komiker Großbritanniens waren. Alle vier machten jede Menge Kohle, aber mit der Zeit wurde ihnen England zu klein: Sie fühlten sich nicht länger gefordert. Also trennten sie sich. Morecambe und Wise blieben in England, und Sid und Dick gingen nach Amerika, nach Los Angeles. Sie schrieben für Flip Wilson und andere, die nicht so bekannt waren oder früher mal bekannt gewesen waren, allmählich aber vom Publikum vergessen wurden. Sie schrieben und schrieben, aber der Erfolg blieb aus. Dann schrieben sie einen Sketch für Phil Silvers, den er auch bringen wollte, aber die Fernsehgesellschaft, für die er arbeitete, war nicht damit einverstanden. Die Handlung wäre zu langatmig, meinten sie. Und das Ganze wäre nicht witzig genug. Und das war der Anfang vom Ende.

Der abgelehnte Sketch:

Ein Mann betritt eine U-Bahn-Station. Er geht die Treppe herunter und kommt auf den Bahnsteig. Der Bahnsteig ist, abgesehen von einer einsamen Gestalt am Ende des Ganges, menschenleer. Der Mann geht langsam auf die Gestalt zu und fragt sie sehr höflich, ob sie nicht irgendwo anders warten könne. Der andere Mann ist völlig verdattert und macht sich nicht einmal die Mühe, darauf einzugehen. Darauf wiederholt der erste seine Aufforderung. Der andere, der sich mittlerweile wieder gefasst hat, geht auf Nummer Sicher und versucht, vernünftig zu argumentieren. Er weist den anderen daraufhin, dass abgesehen von ihnen beiden sich kein Mensch auf dem ganzen Bahnsteig befindet. »Man wird doch wohl noch stehen können, wo man will«, sagt er. »Was ist denn schon groß dabei, wenn ich hier stehe? Wieso können Sie denn nicht woandershin? Warum wollen Sie denn unbedingt hierhin?« Der erste bleibt weiterhin höflich, in der Hoffnung, dass sein Wunsch erfüllt wird, und erklärt ihm, dass er sich entschlossen habe, Selbstmord zu begehen. Wie auch immer, es stellt sich heraus, dass er keine Schmerzen ertragen kann und beim Sterben sowenig wie möglich leiden will. Deshalb hat er die Geschwindigkeit des Zuges berechnet und ist zu dem Schluss gekommen, dass der Zug an der Stelle, genau an der Stelle, wo der andere Mann steht, die höchste Geschwindigkeit haben wird, ehe er den Bremsvorgang einleitet. Und deshalb will er sich von dieser Stelle aus auf die Schienen werfen, sobald sich der Zug nähert ...

Vielleicht hatte der Typ am Times Square auch seine Gründe, warum er unbedingt da durch wollte, wo wir standen. Wenn er aufgeschaut hätte - ob ich dann das Gesicht eines Drehbuchautors erkannt hätte?

23. Januar: Ein kaltes Bad, Udo Lindenbergs Ausrutscher und Musik-Convoy

Wohl das wichtigste Ereignis der vierten Woche von 1984 war für mich der Versuch, fast ganz ohne Schlaf auszukommen. Leider und wider mein besseres wissen war es ein Reinfall. Mein Körper war zwar gut genug trainiert, um lange aufzubleiben, aber total überfordert, wenn es ums frühe Aufstehen ging.

Der Montag begann wie üblich um Mitternacht mit der BFBS-Sendung Night Shift. Später, als ich wieder zu Hause war und nicht schlafen konnte, setzte ich mich in die Küche und blätterte in Musikzeitschriften. Gegen halb vier ging ich ins Bett, nur um zwei Stunden später vom Rappeln des Weckers aus den Träumen gerissen zu werden.

Ich beschloss, mich endlich wieder mal auf Vordermann zu bringen. Kleider machen Leute, sagte ich mir, aber das Problem bestand darin, dass ich die richtigen nicht finden konnte. Eigentlich war das nichts Neues und deshalb auch kein Grund

zur Panik. Vielleicht tat es ja auch die richtige Kombination der falschen Klamotten. Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen regnete oder schneite es, aber ich konnte es nicht richtig erkennen, weil es noch stockfinster war. Besonders warm schien es auch nicht gerade zu sein. Also handelte ich nach allen Regeln der Vernunft; ich meine, wer merkt schon, ob man zwei verschiedene Socken anhat? Ich zog zwei Hosen übereinander, schnürte meine Bergstiefel und schlüpfte in einen langen schwarzen Ledermantel. Dann ließ ich leise die Tür hinter mir ins Schloß fallen und tapste auf Zehenspitzen die drei Treppen hinunter (gar nicht so einfach, wenn man waschechte Bergstiefel mit Vibramsohlen anhat). Ich fand den Wagen, und los ging‘s Richtung Bonner Verteiler.

Die Bergstiefel hatte ich im letzten Schuljahr von Arthur Grant bekommen, der Bio-Unterricht gab und Vorsitzender des »Abenteuerclubs« an unserer Schule war. Er war auch derjenige, der mir zum ersten Mal die Vorzüge eines Zeltlagers auf dem Land schilderte. Diese Art von Vergnügungen gehört wohl zu denen, an die man schlicht und einfach glaubt, jedenfalls solange man bequem im elterlichen Wohnzimmer sitzt. Die Wirklichkeit aber ist, wie immer, ganz anders. Dies wird einem spätestens dann klar, wenn man splitternackt in einem Waliser See landet, versucht, um Hilfe zu rufen und sich dabei fragt, warum der See bei der Kälte eigentlich nicht längst zu einem Eisblock erstarrt ist. Für diejenigen, die sich noch nie in einer solchen Situation befunden haben: Es ist völlig sinnlos, um Hilfe zu rufen; nicht weil die Freunde, die einen da reingeworfen haben, mehr Interesse daran haben, einen zappeln als überleben zu sehen, sondern weil man im wahrsten Sinne des Wortes auf Eis gelegt ist, durch die Kälte wie gelähmt und kaum noch in der Lage, nach Luft zu schnappen, geschweige denn, auch nur den kleinsten Piepser von sich zu geben. Und dies gilt nicht nur für walisische Seen, sondern auch für schottische Lochs - ja, ganz recht, auch davon könnte ich euch ein Liedchen singen.

Als ich zum ersten Mal nach Wales fuhr, zusammen mit Arthur Grant und etwa zehn Schulkameraden, hockten wir im hinteren Teil eines Ford Transit, besser gesagt, in und auf ihm. Wie man sich denken kann, war es ziemlich laut im Wagen. Da die Hitze uns zu schaffen machte und Arthur Grant ständig auf denjenigen einquatschte, der gerade vorn auf dem Beifahrersitz saß, beschlossen wir, das Wageninnere zu lüften und uns selber gleich mit. dass wir dabei mit etwa siebzig Sachen die Autobahn entlangrasten, machte uns nicht das geringste aus. Wir öffneten die Hintertür, kletterten zu viert oder fünft auf das Wagendach und winkten den Autofahrern, die gerade dabei gewesen waren, uns zu überholen, ermutigend zu. Daraufhin besannen sie sich (wer konnte es ihnen verübeln!) schleunigst eines Besseren. Ich kann mich noch gut an das Gesicht des Autohändlers erinnern, von dem wir den Wagen gemietet hatten - vor allem, als wir ihn eine Woche später zurückbrachten. Die Beulen an der Karosserie konnte er sich ja noch erklären, aber die Fußstapfen überall auf und im Wagen blieben ihm schleierhaft.

Die Geschichte erinnert mich an den Tag, an dem ich mit Mitch Ryder und seinem Tourbegleiter Neil Thompson von Köln nach Bochum fuhr. Neil saß am Steuer und ich neben ihm, während Willard (Mitch Ryder) es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte. Auf der Autobahn herrschte reger Verkehr, vor allem südlich von Remscheid, wo man wegen Straßenbauarbeiten den Verkehr auf vier schmale Fahrspuren, in jeder Richtung zwei, eingeschränkt hatte. Wir fuhren also mit »leicht« überhöhter Geschwindigkeit auf einer dieser Spuren, als plötzlich eine der Seitentüren aufglitt. Neil und ich befürchteten schon das Schlimmste und glaubten, Willard wäre vielleicht aus dem Wagen gefallen, doch als wir uns umschauten, stand er seelenruhig, wenn auch leicht schwankend, mit offener Hose in der Tür und erleichterte sich. Vor uns auf der rechten Spur fuhr ein Laster, und wir waren gerade im Begriff, ihn zu überholen. Hätten wir ihn nicht rechtzeitig gesehen, hätte er Mitch Ryder einen Körperteil abrasiert, auf den er ganz besonders stolz ist ...

Der Bonner Verteiler ist die Stelle im Süden Kölns, von der die Autobahnen nach Bonn, Aachen und Frankfurt abzweigen. An diesem Verteilerkreis gibt es zwei Tankstellen, die durchgehend geöffnet haben. Zu jeder dieser Tankstellen gehört auch eine Gaststätte, und in einer von denen, genauer gesagt, der auf der rechten Seite, wenn man in Richtung Autobahn fährt, hatten wir uns an diesem kalten Januarmorgen verabredet. Der Convoy-Bus sollte uns um sieben Uhr abholen, und als ich ankam, waren Robert, Nanzie und Karin auch schon da, nur vom Bus fehlte noch jede Spur. Glatteis und Schnee hatten ganze Arbeit geleistet, und so verging noch mehr als eine Stunde, bis wir den Bus im Schneckentempo auf den Parkplatz rollen sahen. Ich war so müde, dass ich kaum noch die Augen aufhalten konnte. Wir schlurften durch den Matsch und nickten denen zu, die schon im Bus saßen. Der Himmel war immer noch stockdunkel. Es sah ganz so aus, als wäre das wieder mal einer von diesen Tagen, die man entweder niederkämpfen muss, ehe sie einen völlig fertigmachen, oder an denen man am besten gleich im Bett bleibt und sich die Decke über den Kopf zieht, statt die Herausforderung anzunehmen und seinen inneren Schweinehund zu überwinden.

Ich stieg ein, ließ mich auf die hinterste Bank fallen, schlief ein und schreckte kurz darauf in Wesseling wieder hoch.

Der Bus fuhr noch, wenn auch nur ganz langsam, und kämpfte mit großer Mühe genau wie ich gegen etwas an, was nur schwer auszumachen war. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder zu mir kam. Friedmann, der Fahrer, versuchte gerade, einen geeigneten Parkplatz neben dem Laster zu finden und musste nicht nur auf die Tücken des Wetters, sondern auch auf die engen Straßen um den Marktplatz herum, die mit geparkten Autos vollgestopft waren, achten.

Friedmann und ich waren die einzigen, die noch nicht ausgestiegen waren: Alle anderen waren schon zur Stadthalle vorausgegangen, wo man uns einen Raum zur Verfügung gestellt hatte, den wir als Hauptquartier in Beschlag nahmen. In diesem Raum wurden ab sofort Taktiken diskutiert, Strategien erstellt und Befehle erteilt. Vor allem aber, und das schien im Moment das wichtigste, würde hier in diesem Raum das Frühstück serviert werden.

In den nächsten Monaten sollte sich diese Prozedur des öfteren wiederholen. Sie wurde zu einer Routine, auf die wir uns immer mehr freuten, je besser wir einander kennenlernten. Es war ein allwöchentliches Treffen von Freunden, bei dem man sich Geschichten erzählen und Witze reißen konnte, ein fixer Punkt in dem sonst so chaotischen Fahrplan.

Natürlich könnte ich jetzt die Ereignisse dieses 23. Januar bis ins kleinste Detail ausspinnen. Ich will aber an dieser Stelle jedoch nur erwähnen, dass diese erste Musik-Convoy-Sendung des WDR der Anfang von etwas war, was sich später kontinuierlich weiterentwickeln sollte.

 

Die Gäste dieser ersten Show waren Arno Steffen (»Ist ja alles supergut, ne?«), Howard Jones (»What Is Love«), The Thompson Twins (»Hold Me Now«) und Udo Lindenberg (»In fünfzehn Minuten sind die Russen auf dem Kurfürstendamm«). Howard Jones brachte seine Frau mit, die Thompson Twins hätten das Ganze um ein Haar verpasst, weil sie Schwierigkeiten hatten, einen Flugplatz in der Nähe zu finden, auf dem sie ihren Privatjet landen konnten, Arno Steffen kam aus Köln, und er war auch der erste Musiker der Sendung, der sämtliche Vorzüge des Playbacks voll ausschöpfte. Er machte gar nicht erst den Versuch, zu kaschieren, dass der Sound, den der Zuschauer hört, nicht live ist, sondern kostete diese Tatsache geradezu aus.

Udo Lindenberg schaffte es, Nanzie das Mikrofon aus der Hand zu reißen, und statt ein Interview zu geben, nahm er die Gelegenheit wahr und hielt eine (politische) Rede, ehe er dann auf die Bühne stieg, auf dem nassglatten Boden ins Rutschen kam und sich beinah das Auge aufgeschlitzt hätte. Am folgenden Tag schmückte er die Titelblätter mehrerer Zeitungen. Ich konnte es nicht übersehen, als ich mich am Flughafen kurz vor dem Start nach Frankfurt und dann weiter nach Nizza mit Lesestoff eindeckte.


(Foto: Manfred Becker)