Nightflights

Text
Author:
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

24. Januar: Scott Fitzgerald, das Mädchen Marise und der Flug nach Nizza

Heute nachmittag um halb vier stand ich am Ausgang A 15 des Frankfurter Flughafens und wartete darauf, an Bord der Lufthansa-Maschine 150 nach Nizza gehen zu können. Weniger als neunzig Minuten später sah ich dann zum ersten Mal die Alpen von oben. Ihre schneebedeckten Gipfel ragten über die Wolken, die in den Tälern hingen, hinaus - genauso abgehoben wie das Flugzeug selbst. Die Nase ans Fenster gepresst betrachtete ich sie, solange ich konnte. Schließlich flogen wir einen weiten Bogen über das Mittelmeer, und als wir auf die Küste zusteuerten, erkannte ich die Côte d‘Azur unter mir. Die Sonne ging gerade unter, und das vom Wind aufgewühlte Meer spiegelte die Lichter der Häuserreihen auf den Hügeln in der Dämmerung wider. Die Palmen zwischen den Straßenlaternen warfen seltsame Schatten, die sich von Nizza nach Cannes und weiter bis nach Monte Carlo erstreckten.


(Foto: Manfred Becker)

Ich dachte an Scott Fitzgerald und seine Beschreibung der Côte d‘Azur in »Zärtlich wie die Nacht«, der Roman, an dem er wie besessen arbeitete, während seine Frau von Tag zu Tag kränker wurde. Und an die zwanziger und dreißiger Jahre, als hier in Südfrankreich die reichen, abtrünnigen Amerikaner zu überwintern pflegten, während sie sich im Sommer, wenn ihnen die Hitze allzu sehr zusetzte, weiter Richtung Norden zurückzogen. Ich dachte darüber nach, wie die Zeiten sich geändert hatten, und dann fiel mir plötzlich ein Mädchen ein, das ich vor mehr als fünfzehn Jahren kennengelernt hatte, als ich nachts mit dem Zug von Marseille nach Paris unterwegs war ...

Vor all diesen Jahren war ich mit einem amerikanischen Freund nach Südfrankreich gekommen. Seine Mutter stammte aus Frankreich, und deshalb hatte er eine Menge Verwandte dort unten. Ehe wir noch weiter Richtung Süden fuhren, verbrachten wir ein paar Wochen in einer kleinen Jagdhütte in der Nähe von Orleans. Diese Hütte gehörte der Großmutter meines Freundes, die jedoch in der Stadt wohnte, wo sie mit Hilfe ihrer Schwester eine kleine Privatschule leitete. Sie hatte von morgens bis abends zu tun und schlug uns daher vor, doch lieber raus in die Hütte zu ziehen, statt bei ihr in der Stadt zu wohnen; dort hätten wir wenigstens unsere Ruhe.

Sie brauchte uns nicht lange zuzureden, und als sie uns außerdem noch zwei Mopeds mitgab, waren wir unabhängig genug, um die ganze Umgebung auf eigene Faust auskundschaften zu können. Nach einer Weile aber kannten wir die Gegend wie unsere Westentasche und überlegten, was wir als nächstes machen sollten. Ich schlug vor, runter nach Bourges zu fahren, und die Landschaft, in der Alain-Foumier als Kind gespielt hatte, unter die Lupe zu nehmen. Vor einem Jahr hatte ich zum ersten Mal seinen Roman »Le grand meaulnes« (dt.: »Der große Kamerad«) gelesen und war hin und weg gewesen. Ich hatte es sogar mit nach Frankreich genommen und abends in der Hütte darin geblättert. Es hatte mich völlig verzaubert. Ich entdeckte immer neue Parallelen zwischen dem Leben Alain-Fourniers und meinem eigenen. Er hatte all seine Kraft in dieses Buch gesteckt und, indem er die Geschichte von Meaulnes und Yvonne wiedergab, sein innerstes Wesen offenbart und die ganze Welt auf den Kopf gestellt.

Am 1. Juni 1905 war Fournier einem Mädchen, das er noch nie zuvor gesehen hatte, bis nach Hause gefolgt. Sie hatte offenbar in Begleitung einer älteren Dame eine Ausstellung im Salon de la Nationale im Grand Palais besucht. Am selben Tag noch versuchte er, in sein Zimmer zurückgekehrt, fieberhaft den Eindruck, den das Mädchen auf ihn gemacht hatte, zu schildern. Die Zeilen, die er damals zu Papier brachte, waren der Anfang zu »Le grande meaulnes«. In den folgenden Tagen schlich er oft um das Haus herum und hielt die Augen auf, bis er schließlich tatsächlich für seine Beharrlichkeit belohnt wurde. Am Sonntag, den 11. Juni sah er sie wieder, und diesmal sprach er sie an. Anfangs zögerte sie, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen, doch irgendwann erzählte sie ihm dann doch, dass sie Yvonne de Quiévrecourt hieß, aus einer Seefahrerfamilie in Südfrankreich stammte und am nächsten Tag Paris verlassen würde, um zu ihrer Familie nach Südfrankreich zurückzukehren. Er erzählte ihr von seinen literarischen Ambitionen, und sie sagte immer wieder: »A quoi bon? A quoi bon?« (Wofür soll das gut sein?) - eine Frage, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgen und die er später auch in seinen Roman einbauen sollte. Am nächsten Tag brach Yvonne tatsächlich nach Toulon auf, wo, wie Fournier erst zwei Jahre später erfuhr, ihr zukünftiger Mann, ein Marineoffizier, schon auf sie wartete ...

Mehr als sechzig Jahre später, wenige Wochen, nachdem ich mit meinem amerikanischen Freund an einem regnerischen Nachmittag im Mai schweigend vor dem Château de Loroy gestanden hatte, das Fourniers »verlorene Domäne« inspiriert hatte, nahm ich den Nachtzug von Marseille nach Paris. Er war total überfüllt, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich im Korridor auf meinen Rucksack zu setzen. Ich war todmüde, konnte aber wegen der unbequemen Lage nicht schlafen. Da ich schon lange keine Zeitung mehr gelesen hatte, zog ich das Blatt, das ich kurz vorher auf dem Bahnhof gekauft hatte, aus dem Rucksack und fing an zu lesen. Nach einer Weile fielen mir ein paar französische Jungs auf, die gerade dabei waren, ein Mädchen anzumachen, das mir gegenübersaß, das ich aber über meiner Zeitung gar nicht bemerkt hatte. Offensichtlich in der Hoffnung, die beiden loszuwerden, bot sie mir eine Zigarette an. Die beiden Typen guckten dumm aus der Wäsche und verzogen sich. Ich legte die Zeitung weg und schaute mir das Mädchen genauer an. Mehr als alles andere waren es wahrscheinlich die Umstände, die uns zusammengebracht hatten, die uns einander immer näher brachten, während der Zug Paris entgegendonnerte. Wie zwei Menschen, die aufeinanderprallen und genau wissen, dass sie sich nie wiedersehen werden, sprachen wir offen und ohne Umschweife von uns selbst. Sie erzählte mir, dass sie auf dem Weg zu Freunden war, bald aber wieder in den Süden zurückkehren würde. Und dann sagte sie etwas, was mir die Sprache verschlug. Sie hatte schon vorher erwähnt, dass sie verlobt war und heiraten wollte; jetzt eröffnete sie mir, dass ihr zukünftiger Mann ein Marineoffizier war, in Toulon stationiert ...

Kurz nach Anbruch der Dämmerung, etwa hundert Kilometer vor Paris verließ sie den Zug. Ich half ihr beim Aussteigen. Zum Abschied küssten wir uns. Dann stieg ich wieder ein, und als der Zug aus dem Bahnhof rollte, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen zu fragen. Da ich sie nicht Yvonne nennen wollte, gab ich ihr den Namen Marise ...

Wir landeten. Ich ging durch den Zoll und schaute mir die Gesichter der Leute an, die auf die ankommenden Passagiere warteten. Dann fuhr ich mit dem Bus vom Flughafen zum Hotel in Cannes, dem Solhotel in der Avenue du Docteur Picaud. Später ging ich mit Manfred Schmidt und David Knopfler in einem russischen Lokal essen, gleich um die Ecke vom Hotel Martinez, in dem die meisten Geschäftsleute, die zum MIDEM-Festival gekommen waren, sich einquartiert hatten.

Danach ging ich mit Peter und Christian zu der Halle, in der am Donnerstag die Rockpalast-Show mit Van Morrison und Richard Thompson stattfinden sollte. Das Gebäude ist ziemlich neu und nennt sich Palais des Festivals. Am frühen Abend hatte es hier eine Galaveranstaltung gegeben, bei der unter anderem auch Nena und Greg Kihn aufgetreten waren. Als wir dort ankamen, waren die Bühnenarbeiter gerade dabei, die Dekoration auszuwechseln. Schließlich gingen wir noch in eine Bar auf der anderen Straßenseite und tranken zu dritt eine Flasche Rotwein.

25. Januar: Cannes, schüchterne Musiker und ein Turnschuhmensch

Obwohl ich mich heute morgen nicht besonders fühlte, stand ich zeitig auf, denn ich wollte mir die Gelegenheit nicht nehmen lassen, ein bisschen am Strand spazierenzugehen. Es war ein herrlicher Tag und der Strand fast menschenleer. Nach etwa einer Stunde kehrte ich ins Hotel zurück, frühstückte und fuhr dann mit Peter und Christian im Bus zum Flughafen, um Richard Thompson und Van Morrison abzuholen. Das Flugzeug landete zwar pünktlich, aber Van Morrison war nicht an Bord. Es hieß, er würde etwas später kommen. Auf dem Weg zurück nach Cannes hörte ich, wie Richard seiner Freundin von seinen bisherigen Erfahrungen und Auftritten in Frankreich erzählte. Sie waren ohne Ausnahme schrecklich verlaufen, sagte er. »Die Franzosen scheinen mich irgendwie nicht besonders leiden zu können.« Ich fragte mich, wie es wohl diesmal ausgehen wird. Einige Leute hatten ja bereits Zweifel an der Entscheidung geäußert, ausgerechnet Van Morrison und Richard Thompson, zwei notorisch schüchterne Typen, vor diesem ausschließlich kommerziell-orientierten Publikum auftreten zu lassen. Nicht weil ihre Musik nicht gut genug wäre, sondern weil die Industrie an sich wenig Interesse an »guter« Musik hat, es sei denn, sie lässt sich in Riesenmengen verkaufen. Ich hoffte für Richard Thompson, dass er diesmal mehr Glück hätte und auch, dass sich der Rockpalast in Frankreich einen Namen machen würde.

Im Hotel warteten wir, bis Richard seine Koffer ausgepackt hatte und fuhren dann weiter zu der Halle. Vor den Soundchecks schlich ich mich davon und ging ins Hotel Martinez, um zu sehen, was da so los war, und dabei begegnete ich ein paar Bekannten, die ich in Cannes nie erwartet hätte. Anschließend ging ich in die Halle zurück, in der Hoffnung, dort Antoine de Caunes zu treffen, aber als ich nach ihm fragte, konnte mir keiner sagen, ob er schon da war. Ich hatte Antoine noch nie gesehen, dafür aber um so mehr von ihm gehört, und zwar von Peter, der ihn ziemlich gut kennt. Offenbar ist Antoine einer der anerkanntesten Rockmusikmoderatoren im französischen Fernsehen. Ich freu mich darauf, ihn endlich kennenzulernen. Peter hatte auch keine Ahnung, wo er steckte, aber er meinte, er sei sicher, dass Antoine früher oder später aufkreuzen würde.

 

Als die Soundchecks vorbei waren - beide gingen glatt über die Bühne, und auch Van Morrison, der in London aufgehalten worden war, hatte es noch rechtzeitig geschafft -, schaute ich noch mal ins Martinez rein, wo ich den Repräsentanten eines bekannten Turnschuhherstellers kennenlernte, der mich in ein langes Gespräch verwickelte. Er schien zu glauben, dass wir irgendwie ins Geschäft kommen sollten - ich konnte mir nur nicht vorstellen, wie. Er sagte, wir sollten in Verbindung bleiben, und er würde mir ein Paar Turnschuhe schicken. Ich bedankte mich im voraus für seine Großzügigkeit, entschuldigte mich dann und machte mich auf den Heimweg.

Es war ein schöner Abend, und ich beschloss, zu Fuß ins Hotel zurückzugehen. Als wir die Strecke im Bus gefahren waren, war es mir nicht sehr weit vorgekommen, aber jetzt, wo ich zu Fuß ging, zog sich die Strandpromenade meilenweit dahin, und ich musste einsehen, dass es doch weiter war, als ich zunächst gedacht hatte. Nach einer Stunde war ich immer noch unterwegs. Plötzlich überholte mich ein Auto, stoppte und setzte zurück. Es war der Turnschuhmensch. Er fragte, ob er mich irgendwo absetzen könnte, und ich antwortete, dass ich ganz gern zu Fuß ging und es sowieso nicht mehr weit hätte. Er fuhr weiter. Wenn er mir die Schuhe gleich im Hotel gegeben hätte, dachte ich bei mir, hätte ich das Stück in der Hälfte der Zeit zurückjoggen können ...


(Foto: Manfred Becker)

26. Januar: Antoine in Memphis und das »grand finale« auf einem Karussell

Der Tag, an dem die Show stattfinden soll. Um zwölf Uhr gab der Rockpalast eine Pressekonferenz, aber nur ganz wenig Journalisten tauchten überhaupt auf. Keiner schien irgendwelche Fragen zu haben. Die wenigen Leute, die gekommen waren, mussten auch noch animiert werden, was zu sagen. Nachmittags wanderte ich durch die Hauptausstellungshalle und suchte das BFBS-Studio, von wo aus Richard Nankivell während des MIDEM-Festivals seine Show live aus Cannes moderierte. Als ich es endlich fand, war er gerade dabei, Chris Andrews (der vor Ewigkeiten mit »Yesterday Man« einen Hit gelandet hatte) und David Wigg vom Daily Express zu interviewen. Anschließend stellte er mir ein paar Fragen zum Rockpalast.

Um sieben Uhr abends gab es immer noch kein Lebenszeichen von Antoine de Caunes, und da die Sendung in zweieinhalb Stunden losgehen sollte, machte ich mir allmählich ernstliche Sorgen, wo er wohl steckte. Als ich Peter fragte, merkte ich, dass es ihm nicht anders erging. Deshalb gingen wir zu Patrice von Antenne 2, einer der beiden großen Fernsehanstalten in Frankreich. Patrice hat dort eine ähnliche Position wie Peter in Deutschland. Wir fragten ihn, ob er eine Ahnung hatte, wo Antoine abgeblieben war. Er wusste es tatsächlich.

»In Memphis«, sagte er.

»Was?!« riefen wir ungläubig und wie aus einem Munde.

»Na klar«, fuhr Patrice fort. »Er ist schon ein paar Wochen da unten. Er dreht einen Dokumentarfilm über Chuck Berry. Ich hab‘ vor ein paar Tagen noch mit ihm telefoniert. Er scheint gut voranzukommen.«

»Und was wird mit der Show heute Abend?« fragten wir.

»Was soll damit schon werden?«

»Aber Antoine sollte sie moderieren! «

»Wie soll er das wohl machen, wenn er in Memphis steckt?«

»Eben!«

»Wenn ich nicht irre, hat er euch vor ein paar Wochen ein Telex geschickt und gesagt, er schafft es nicht, weil er zur gleichen Zeit in Amerika ist.«

Peter sagte, er hätte nie ein Telex gesehen, und fragte, was wir jetzt am besten machen sollten. Ich versuchte, mich wieder an die paar Brocken Französisch zu erinnern, die ich 1969 auf einer nächtlichen Zugfahrt von Marseille nach Paris gelernt hatte, aber ich merkte schnell, dass sie mir auch nicht weiterhelfen würden, selbst wenn sie mir einfielen, denn diese Situation hier war bei weitem nicht so intim wie die von damals. Dann meinte Patrice, ihm wäre da was eingefallen. Er sagte, er hätte vorhin in der Bar eines Hotels gleich um die Ecke Alain Dister gesehen. Er erzählte, dass der auch schon Rock-Shows im französischen Fernsehen präsentiert hatte. Vielleicht konnte er uns aus der Patsche helfen. Wir rasten rüber zum Hotel. Alain war noch da, und wir fragten ihn, was er noch so vorhatte heute Abend.

»Tja«, meinte er. »Wenn ich das hier ausgetrunken habe, setze ich mich in meinen Wagen und fahre sofort nach Paris zu meiner kleinen Freundin.«

»Hättest du nicht Lust, noch ein bisschen zu bleiben und eine Live-TV-Show zu moderieren, die nach Deutschland und Italien übertragen wird?«

Alain schaute uns etwas skeptisch an, willigte dann aber ein. Nun stand der Sendung nichts mehr im Wege.

Leider galt das auch für eine Menge Leute aus dem Publikum,die sich kurz nach Beginn der Show schon wieder aus dem Staub machten. Die Eintrittskarten waren umsonst verteilt worden, und viele von denen, die gekommen waren, wären sicherlich zu Hause geblieben, wenn sie dafür hätten zahlen müssen. Mit andern Worten, das Publikum bestand in der Hauptsache nicht aus Fans, die gekommen waren, um Richard Thompson oder Van Morrison zu sehen. Von den anfänglich zweitausend Zuschauern blieben nur etwa zweihundert bis zum Schluss.


(Foto: Manfred Becker)

Die allerdings kriegten dafür aber auch einen ganz besonderen Leckerbissen serviert. Vor allem Van Morrison schien immer besser zu werden, je mehr Zuschauer sich aus der Halle hinausschoben. Im Verlauf der Show hatten Alain und ich Gelegenheit, uns besser kennenzulernen, und wenn man bedenkt, dass er praktisch überhaupt keine Zeit gehabt hatte, sich auf das Ganze vorzubereiten, wurde er unheimlich gut mit der Situation fertig. Ich war ihm sehr dankbar für seine Hilfe.

Und ich war irrsinnig froh, als plötzlich Jürgen Osterloh auftauchte. Wir hatten uns vor ein paar Monaten kennengelernt, als ich in Paris war, um die Rolling Stones zu interviewen. Wir hatten uns auf Anhieb verstanden, vor allem, nachdem wir festgestellt hatten, dass wir beide auf Mitch Ryder stehen. Immer wenn Mitch auf Tournee durch Paris kommt, übernachtet er in Jürgens Wohnung. Heute nacht war Jürgen besonders gut drauf. Wir tranken einiges zusammen, und am Ende der Show stieg Jürgen mit auf das Karussell für das »grand finale«, das auf einer Promenade hinter dem Palais des Festivals stattfand. Das Karussell war wirklich ein Prachtstück, eine Konstruktion mit Pferdchen, Orgelmusik und dem ganzen Brimborium, das man von einem richtigen Karussell auch erwartet. Jürgen schwang sich erst mal probeweise auf das Pferdchen neben mir, und ab ging die Post. Das Karussell drehte sich im Kreis, und die Musik spielte auf voller Lautstärke. Viele der anderen Pferdchen waren von weiteren Mitgliedern des Rockpalast-Teams besetzt. Irgendwie war es anfangs ein bisschen kühl, bis jemand auf die geniale Idee kam, eine Flasche Cognac und ein Dutzend Plastikbecher zu organisieren. Jürgen und ich prosteten uns zu (auf alles, was uns in den Sinn kam - Mangel an Gründen schien es nicht zu geben), und wieder drehten wir uns im Kreis. Als dann die Zeit kam, uns von den Fernsehzuschauern zu verabschieden, waren wir alle bester Laune.

Der Rockpalast in Cannes ging zu Ende, und ein Haufen von begeisterten Verrückten drehte sich mitten in der Nacht auf einem hell erleuchteten Karussell nach Herzenslust im Kreise. Und während ich noch darüber lamentierte, dass wir keinen Platz in den großen Hotels mehr bekommen hatten, wo all die Geschäftsleute abstiegen, weil sie so unverschämt teuer waren, schnappte Jürgen sich den langen Gürtel, der zu meinem schwarzen Ledermantel gehört, und fing an, fröhlich auf mein Pferdchen einzudreschen, in der übermütigen Hoffnung, die mechanischen Grenzen der einzigen Sache überwinden zu können, die uns daran hinderte, auf Nimmerwiedersehen in die Nacht hinauszufliegen.

27. Januar: Erstmalig in Rom

Richard Thompson war heute morgen einer der ersten, die das Hotel verließen. Er nahm die früheste Maschine nach London, wo er seine akustische Gitarre abholen wollte, die er auf dem Weg nach Cannes am Airport Heathrow vergessen hatte. Dann wollte er direkt nach New York und von da aus nach Detroit weiterfliegen, wo er am nächsten Tag ein Solokonzert in der Universität geben würde.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, heute nach Köln zurückzufliegen, aber Manfred Schmidt überredete mich, einen kleinen Abstecher nach Rom zu machen, eine Stadt, die ich noch nicht kannte. Er sagte, in Nizza seien wir ja sowieso schon fast da. Ich telefonierte kurz mit Richard Astbury, dem Programmdirektor des BFBS, der sich ebenfalls in Cannes aufhielt und mir versicherte, dass es kein Problem sei, für Samstag und Sonntag einen Ersatz für mich zu finden. So nahmen wir dann am frühen Nachmittag den Alitalia-Flug 1555 nach Rom.

Der Flughafen von Rom ist nach Leonardo da Vinci benannt und sieht ganz danach aus, als hätte man ihn einfach in ein riesiges Feld gesetzt, auf dem eher Schafe grasen, als Flugzeuge starten und landen sollten. Zwischen den Startbahnen, Hangars und Terminals fielen mir mehrere kleine Hütten mit roten Ziegeldächern auf, Überbleibsel aus einer anderen Zeit, in der früher wahrscheinlich die Hirten Zuflucht gesucht hatten. Sie passten überhaupt nicht hierher, zwischen all die dicken Jumbojets.

Wir nahmen ein Taxi in die Stadt, und auf der etwa dreiviertelstündigen Fahrt hielt ich die meiste Zeit die Augen geschlossen, nicht etwa, weil ich müde war, sondern weil der Taxifahrer sich so rasant durch den Verkehr schlängelte, dass mir schlecht wurde. Einmal, als uns ein anderer Autofahrer, der von der Hauptstraße abbiegen wollte, ziemlich übel geschnitten hatte, bogen auch wir ab und fanden uns plötzlich auf einer Straße wieder, die überallhin, bloß nicht nach Rom führte - mir kam es vor, als hätte der Taxifahrer völlig vergessen, dass er Fahrgäste hatte, und wäre dem anderen in alle Ewigkeit hinterhergejagt, wenn wir ihn nicht unmissverständlich an unsere Existenz erinnert hätten.

Bastardo! schrie er. Bastardo!