Rechenschaft geben muß.
61.
Von Deinen Grundsätzen gehe nie ab, solange Du sie als
richtig anerkennst! Ausnahmen zu machen, das ist sehr
gefährlich und führt immer weiter, vom Kleinen zum
Großen. Hast Du Dir also einmal aus guten Gründen
vorgenommen, keine Bücher zu verleihn, keinen Wein zu
trinken u. dgl., so müsse Dich Dein eigener Vater nicht
bewegen können, davon abzugehn. Sei fest; aber hüte
Dich, nicht so leicht etwas zum Grundsatze zu machen,
bevor Du alle möglichen Fälle überlegt hast, oder
eigensinnig auf Kleinigkeiten zu bestehn.
Vor allen Dingen also handle nur stets konsequent.
Mache Dir einen Lebensplan und weiche nicht um ein
Tüttelchen von diesem Plane. Hätte dieser Plan auch
allerlei Sonderbarkeiten – die Menschen werden eine
Zeitlang die Köpfe darüber zusammenstecken und am
Ende schweigen, Dich in Ruhe lassen und Dir ihre
Hochachtung nicht versagen können. Man gewinnt
überhaupt immer durch Ausdauern und planmäßige,
weise Festigkeit. Es ist mit Grundsätzen wie mit jeden
andern Stoffen, woraus etwas gemacht wird, nämlich daß
der beste Beweis für ihre Güte der ist, wenn sie lange
halten, und in der Tat, wenn man recht genau den
Gründen nachspüren will, warum auch den edelsten
Handlungen mancher Menschen nicht Gerechtigkeit
widerfährt, so wird man oft finden, daß das Publikum
deswegen Verdacht gegen die Wahrheit und den Zweck
dieser Handlungen gefaßt hat, weil sie nicht in das System
des Mannes, der sie begeht, weil sie nicht zu seinen
übrigen Schritten zu passen scheinen.
62.
Was aber noch heiliger als jene Vorschrift ist- habe
immer ein gutes Gewissen! Bei keinem Deiner Schritte
müsse Dir Dein Herz über Absicht und Mittel Vorwürfe
machen dürfen. Gehe nie schiefe Wege und baue dann
sicher auf gute Folgen, auf Gottes Beistand und auf
Menschenhilfe in der Not. Und verfolgt Dich auch wohl
eine Zeitlang ein widriges Geschick – o, so wird doch die
selige Überzeugung von der Unschuld Deines Herzens,
von der Redlichkeit Deiner Absichten Dir ungewöhnliche
Kraft und Heiterkeit geben; Dein kummervolles Antlitz
wird im Umgange mehr, weit mehr Interesse erwecken
als die Fratze des lächelnden, grinsenden, glücklich
scheinenden Bösewichts.
63.
Und nun weiter zu den besondern Umgangsregeln –
doch vorher noch eine Erinnerung. Wenn ich allein, oder
auch nur vorzüglich, für Frauenzimmer schriebe, so
würde ich eine Menge der schon gegebenen und noch
folgenden Vorschriften teils gänzlich übergehn, teils
modifizieren, teils andre an deren Stelle setzen müssen,
die alsdann für Männer weniger brauchbar wären. Das ist
indessen nicht der Zweck meines Buchs. Weise
Frauenzimmer allein können den Personen ihres
Geschlechts die besten Lehren über ihr Betragen im
gesellschaftlichen Leben erteilen; das ist eine Arbeit, die
Männern nicht gelingen würde. Findet jedoch das schöne
Geschlecht auch etwas für sich Brauchbares in diesen
Blättern, so wird das meine Zufriedenheit über mein
eigenes Werk sehr vermehren. Übrigens haben
Frauenzimmer in ihrem Umgange in der Tat Rücksichten
zu nehmen, die bei uns gänzlich wegfallen. Sie hängen
vielmehr vom äußern Rufe ab, dürfen nicht so
zuvorkommend sein. Man verzeiht ihnen von einer Seite
weniger Unvorsichtigkeiten und von der andern mehr
Launen; ihre Schritte werden früher wichtig für sie, indes
dem Knaben und Jüngling manche Unvorsichtigkeit
verziehn wird; ihre Existenz schränkt sich ein auf den
häuslichen Zirkel, dahingegen des Mannes Lage ihn
eigentlich fester an den Staat, an die große bürgerliche
Gesellschaft knüpft; deswegen gibt es Tugenden und
Laster, Handlungen und Unterlassungen, die bei einem
Geschlechte von ganz andern Folgen sind als bei dem
andern. – Doch über dies alles ist den Damen so viel
Gutes in andern Büchern gesagt worden, daß jede weitere
Ausführung dieses Gegenstandes hier am unrechten Orte
stehn würde.
Zweites Kapitel
Über den Umgang mit sich selbst
1.
Die Pflichten gegen uns selbst sind die wichtigsten und
ersten, und also der Umgang mit unsrer eigenen Person
gewiß weder der unnützeste noch uninteressanteste. Es
ist daher nicht zu verzeihn, wenn man sich immer unter
andern Menschen umhertreibt, über den Umgang mit
Menschen seine eigene Gesellschaft vernachlässigt,
gleichsam vor sich selber zu fliehn scheint, sein eigenes
Ich nicht kultiviert und sich doch stets um fremde
Händel bekümmert. Wer täglich herumrennt, wird fremd
in seinem eigenen Hause; wer immer in Zerstreuung lebt,
wird fremd in seinem eignen Herzen, muß im Gedränge
müßiger Leute seine innere Langeweile zu töten trachten,
büßt das Zutrauen zu sich selber ein und ist verlegen,
wenn er sich einmal vis à vis de soi-même befindet. Wer
nur solche Zirkel sucht, in welchen er geschmeichelt
wird, verliert so sehr den Geschmack an der Stimme der
Wahrheit, daß er diese Stimme zuletzt nicht einmal mehr
aus sich selber hören mag; er rennt dann lieber, wenn das
Gewissen ihm dennoch unangenehme Dinge sagt, fort, in
das Getümmel hinein, wo diese wohltätige Stimme
überschrien wird.
2.
Hüte Dich also, Deinen treuesten Freund, Dich selber, so
zu vernachlässigen, daß dieser treue Freund Dir den
Rücken kehre, wenn Du seiner am nötigsten bedarfst.
Ach, es kommen Augenblicke, in denen Du Dich selbst
nicht verlassen darfst, wenn Dich auch jedermann
verläßt; Augenblicke, in welchen der Umgang mit
Deinem Ich der einzige tröstliche ist – was wird aber in
solchen Augenblicken aus Dir werden, wenn Du mit
Deinem eignen Herzen nicht in Frieden lebst, und auch
von dieser Seite aller Trost, alle Hilfe Dir versagt wird?
3.
Willst Du aber im Umgange mit Dir Trost, Glück und
Ruhe finden, so mußt Du ebenso vorsichtig, redlich, fein
und gerecht mit Dir selber umgehn als mit andern, also
daß Du Dich weder durch Mißhandlung erbitterst und
niederdrückest, noch durch Vernachlässigung
zurücksetzest, noch durch Schmeichelei verderbest.
4.
Sorge für die Gesundheit Deines Leibes und Deiner
Seele; aber verzärtle beide nicht. Wer auf seinen Körper
losstürmt, der verschwendet ein Gut, welches oft allein
hinreicht, ihn über Menschen und Schicksal zu erheben
und ohne welches alle Schätze der Erde eitle Bettelware
sind. Wer aber jedes Lüftchen fürchtet und jede
Anstrengung und Übung seiner Glieder scheut, der lebt
ein ängstliches, nervenloses Austerleben und versucht es
vergeblich, die verrosteten Federn in den Gang zu
bringen, wenn er in den Fall kommt, seiner natürlichen
Kräfte zu bedürfen. Wer sein Gemüt ohne Unterlaß dem
Sturme der Leidenschaften preisgibt oder die Segel seines
Geistes unaufhörlich spannt, der rennt auf den Strand
oder muß mit abgenutztem Fahrzeuge nach Hause
lavieren, wenn grade die beste Jahreszeit zu neuen
Entdeckungen eintritt. Wer aber die Fakultäten seines
Verstandes und Gedächtnisses immer schlummern läßt
oder vor jedem kleinen Kampfe, vor jeder Art von
minder angenehmer Anstrengung zurückbebt, der hat
nicht nur wenig wahren Genuß, sondern ist auch ohne
Rettung verloren da, wo es auf Kraft, Mut und
Entschlossenheit ankommt.
Hüte Dich vor eingebildeten Leiden des Leibes und
der Seele. Laß Dich nicht gleich niederbeugen von jedem
widrigen Vorfalle, von jeder körperlichen
Unbehaglichkeit. Fasse Mut! Sei getrost! Alles in der Welt
geht vorüber; alles läßt sich überwinden durch
Standhaftigkeit; alles läßt sich vergessen, wenn man seine
Aufmerksamkeit auf einen andern Gegenstand heftet.
5.
Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, daß andre Dich
respektieren sollen. Tue nichts im Verborgenen, dessen
Du Dich schämen müßtest, wenn es ein Fremder sähe.
Handle weniger andern zu gefallen, als um Deine eigene
Achtung nicht zu verscherzen, gut und anständig! Selbst
in Deinem Äußern, in Deiner Kleidung sieh Dir nicht
nach, wenn Du allein bist. Gehe nicht schmutzig, nicht
lumpig, nicht unrechtlich, nicht krumm, noch mit groben
Manieren einher, wenn Dich niemand beobachtet.
Mißkenne Deinen eigenen Wert nicht! Verliere nie die
Zuversicht zu. Dir selber, das Bewußtsein Deiner
Menschenwürde, das Gefühl, wenn nicht ebenso weise
und geschickt als manche andre zu sein, doch weder an
Eifer, es zu werden, noch an Redlichkeit des Herzens,
irgend jemand nachzustehn.
6.
Verzweifle nicht, werde nicht mißmutig, wenn Du nicht
die moralische oder intellektuelle Höhe erreichen kannst,
auf welcher ein andrer steht, und sei nicht so unbillig,
andre gute Seiten an Dir zu übersehn, die Du vielleicht
vor jenem voraus haben magst – und wäre das auch nicht
der Fall! Müssen wir denn alle groß sein?
Stimme Dich auch herab von der Begierde zu
herrschen, eine glänzende Hauptrolle zu spielen. Ach,
wüßtest Du, wie teuer man das oft erkaufen muß! Ich
begreife es wohl, diese Sucht, ein großer Mann zu sein, ist
bei dem innern Gefühle von Kraft und wahrem Werte
schwer abzulegen. Wenn man so unter mittelmäßigen
Geschöpfen lebt und sieht, wie wenig diese erkennen und
schätzen, was in uns ist, wie wenig man über sie vermag,
wie die elendesten Pinsel, die alles im Schlafe erlangen,
aus ihrer Herrlichkeit herunterblicken – Ja! es ist wohl
freilich hart! – Du versuchst es in allen Fächern; im Staate
geht es nicht; Du willst in Deinem Hause groß sein, aber
es fehlt Dir an Geld, an dem Beistande Deines Weibes;
Deine Laune wird von häuslichen Sorgen niedergedrückt,
und so geht denn alles den Werkeltagsgang; Du
empfindest tief, wie so alles in Dir zugrunde geht; Du
kannst Dich durchaus nicht entschließen, ein gemeiner
Kerl zu werden, in dem Fuhrmannsgleise fortzuziehn –
das alles fühle ich mit Dir; allein verliere doch darum
nicht den Mut, den Glauben an Dich selber und an die
Vorsehung! Gott bewahre Dich vor diesem
vernichtenden Unglücke! Es gibt eine Große – und wer
die erreichen kann, der steht hoch über allen –, diese
Größe ist unabhängig von Menschen, Schicksalen und
äußerer Schätzung. Sie beruht auf innerem Bewußtsein,
und ihr Gefühl verstärkt sich, je weniger sie erkannt wird.
7.
Sei Dir selber ein angenehmer Gesellschafter. Mache Dir
keine Langeweile, das heißt: Sei nie ganz müßig! Lerne
Dich selbst nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus
Büchern und Menschen neue Ideen. Man glaubt es gar
nicht, welch ein eintöniges Wesen man wird, wenn man
sich immer in dem Zirkel seiner eigenen Lieblingsbegriffe
herumdreht, und wie man dann alles wegwirft, was nicht
unser Siegel an der Stirne trägt.
Der langweiligste Gesellschafter für sich selber ist
man ohne Zweifel dann, wenn man mit seinem Herzen,
mit seinem Gewissen in nachteiliger Abrechnung steht.
Wer sich davon überzeugen will, der gebe acht auf die
Verschiedenheit seiner Launen! Wie verdrießlich, wie
zerstreuet, wie sehr sich selbst zur Last, ist man nach
einer Reihe zwecklos, vielleicht gar schädlich
hingebrachter Stunden, und wie heiter, sich selbst mit
seinen Gedanken unterhaltend dagegen am Abend eines
nützlich verlebten Tags.
8.
Es ist aber nicht genug, daß Du Dir ein lieber,
angenehmer und unterhaltender Gesellschafter seiest, Du
sollst Dich auch, fern von Schmeichelei, als Dein eigener
treuester und aufrichtigster Freund zeigen, und wenn Du
ebensoviel Gefälligkeit gegen Deine Person als gegen
Fremde haben willst, so ist es auch Pflicht, ebenso
strenge gegen Dich als gegen andre zu sein. Gewöhnlich
erlaubt man sich alles, verzeiht sich alles und andern
nichts; gibt bei eigenen Fehltritten, wenn man sich auch
dafür anerkennt, dem Schicksale oder unwiderstehlichen
Trieben die Schuld, ist aber weniger tolerant gegen die
Verirrungen seiner Brüder – das ist nicht gut getan.
9.
Miß auch nicht Dein Verdienst darnach ab, daß Du
sagest: »Ich bin besser als dieser und jener von gleichem
Alter, Stande«, und so ferner; sondern nach den Graden
Deiner Fähigkeiten, Anlagen, Erziehung und der
Gelegenheit, die Du gehabt hast, weiser und besser zu
werden als viele. Halte hierüber oft in einsamen Stunden
Abrechnung mit Dir selber und frage Dich als ein
strenger Richter, wie Du alle diese Winke zu höherer
Vervollkommnung genützt habest.
Drittes Kapitel
Über den Umgang mit Leuten
von verschiedenen
Gemütsarten, Temperamenten und Stimmung
des Geistes und Herzens
1.
Man pflegt gewöhnlich vier Hauptarten von
Temperamenten anzunehmen und zu behaupten, ein
Mensch sei entweder cholerisch, phlegmatisch,
sanguinisch oder melancholisch. Obgleich nun wohl
schwerlich je eine dieser Gemütsarten so ausschließlich in
uns wohnt, daß dieselbe nicht durch einen kleinen Zusatz
von einer andern modifiziert würde, da dann aus dieser
unendlichen Mischung der Temperamente jene feinen
Nuancen und die herrlichsten Mannigfaltigkeiten
entstehen, so ist doch mehrenteils in dem Segelwerke
jedes Erdensohns einer von jenen vier Hauptwinden
vorzüglich wirksam, um seinem Schiffe auf dem Ozean
dieses Lebens die Richtung zu geben. Soll ich mein
Glaubensbekenntnis über die vier Haupttemperamente
ablegen, so muß ich aus Überzeugung folgendes sagen:
Bloß Cholerische Leute flieht billig jeder, dem seine
Ruhe lieb ist. Ihr Feuer brennt unaufhörlich, zündet und
verzehrt, ohne zu wärmen.
Bloß Sanguinische sind unsichre Weichlinge, ohne Kraft
und Festigkeit.
Bloß Melancholische sind sich selbst, und bloß
Phlegmatische andern Leuten eine unerträgliche Last.
Cholerisch-sanguinische Leute sind die, welche in der Welt
sich am mehrsten bemerken, gefürchtet, welche Epoche
machen, am kräftigsten wirken, herrschen, zerstören und
bauen; cholerisch-sanguinisch ist also der wahre
Herrscher, der Despotencharakter; aber noch ein Grad
von melancholischem Zusatze, und der Tyrann ist
gebildet.
Sanguinisch-Phlegmatische leben wohl am glücklichsten,
am ruhigsten und ungestörtesten, genießen mit Lust,
mißbrauchen nicht ihre Kräfte, kränken niemand,
vollbringen aber auch nichts Großes; allein dieser
Charakter im höchsten Grade artet in geschmacklose,
dumme und grobe Wollust aus.
Cholerisch-Melancholische richten viel Unheil an;
Blutdurst, Rache, Verwüstung, Hinrichtung des
Unschuldigen und Selbstmord sind nicht selten die
Folgen dieser Gemütsart.
Melancholisch-Sanguinische zünden sich mehrenteils an
beiden Enden zugleich an, reiben sich selber an Leib und
Seele auf.
Cholerisch-phlegmatische Menschen trifft man selten an; es
scheint ein Widerspruch in dieser Zusammensetzung zu
liegen; und dennoch gibt es deren, bei welchen diese
beiden Extreme wie Ebbe und Flut abwechseln, und
solche Leute taugen durchaus zu keinen Geschäften, zu
welchen gesunde Vernunft und Gleichmütigkeit erfordert
werden. Sie sind nur mit äußerster Mühe in Bewegung zu
setzen, und hat man sie endlich in die Höhe gebracht,
dann toben sie wie wilde Tiere umher, fallen mit der Tür
in das Haus und verderben alles durch rasendes
Ungestüm.
Melancholisch-phlegmatische Leute aber sind wohl unter
allen die unerträglichsten, und mit ihnen zu leben, das ist
für jeden vernünftigen und guten Mann Höllenpein auf
Erden.
2.
Herrschsüchtige Menschen sind schwer zu behandeln und
passen nicht zum freundschaftlichen und geselligen
Umgange. Sie wollen allerorten durchaus die erste Rolle
spielen; alles soll nach ihrem Kopfe gehn. Was sie nicht
errichtet haben, was sie nicht dirigieren, das verachten sie
nicht nur, nein, sie zerstören es, wenn sie können. Wo sie
hingegen an der Spitze stehen, oder wo man sie
wenigstens glauben macht, daß sie an der Spitze stünden,
da arbeiten sie mit unermüdetem Eifer und stürzen alles
vor sich weg, was ihrem Zwecke im Wege steht. Zwei
herrschsüchtige Leute nebeneinander taugen zu gar
nichts in der Welt und zertrümmern alles um sich her aus
Privatleidenschaft. Hieraus nun ist leicht abzunehmen,
wie man sich gegen solche Leute zu betragen habe, wenn
man mit ihnen leben muß, und ich glaube darüber nichts
hinzufügen zu dürfen.
3.
Ehrgeizige Menschen müssen ungefähr auf eben diese Art
behandelt werden. Der Herrschsüchtige ist zugleich auch
ehrgeizig, aber umgekehrt der Ehrgeizige nicht immer
herrschsüchtig, sondern begnügt sich auch wohl mit einer
Nebenrolle, insofern er darin nur mit einigem Glanze zu
erscheinen hoffen darf; ja es können Fälle vorkommen,
wo er selbst in der Erniedrigung Ehre sucht; doch
verzeiht er nichts weniger, als wenn man ihn an dieser
schwachen Seite kränkt.
4.
Der Eitle will geschmeichelt sein; Lob kitzelt ihn
unaussprechlich, und wenn man ihm Aufmerksamkeit,
Zuneigung, Bewunderung widmet, so braucht nicht eben
große Ehrenbezeigung damit verbunden zu sein. Da nun
jeder Mensch mehr oder weniger von dieser Begierde zu
gefallen und vorteilhafte Eindrücke zu machen, an sich
hat, so kann man ohne Sünde hie und da einem sonst
guten Manne, dem diese kleine Schwachheit anklebt, in
diesen Punkten ein wenig nachsehn, ein Wörtchen, so er
gern hört, gegen ihn fallen lassen, ihm erlauben, an dem
Lobe, so er einerntet, sich zu erquicken oder sich selbst
nach Gelegenheit ein wenig zu loben. Das schändlichste
Handwerk aber treiben die niedrigen Schmeichler, die
durch unaufhörliches Weihrauch streuen eiteln Leuten
den Kopf so einnehmen, daß diese zuletzt nichts anders
mehr hören mögen als Lob, daß ihre Ohren für die
Stimme der Wahrheit verschlossen sind und daß sie jeden
guten, graden Mann fliehen und zurücksetzen, der sich
nicht so weit er niedrigen kann oder es für eine Art von
Unbescheidenheit und Grobheit hält, ihnen dergleichen
Süßigkeiten ins Gesicht zu werfen.
Gelehrte und Damen pflegen am mehrsten in diesem
Falle zu sein, und ich habe deren einige gekannt, mit
denen ein schlichter Biedermann deswegen fast gar nicht
umgehn konnte. Wie die Kinder dem Fremden nach den
Taschen schielen, um zu erfahren, ob man ihnen keine
Zuckerpletzen mitgebracht hat, so horchen jene auf jedes
Wort, das Du sprichst, um zu vernehmen, ob es nicht
etwas Verbindliches für sie enthält, und werden
mürrischer Laune, sobald sie sich in ihrer Hoffnung
betrogen finden. Der höchste Grad dieser Eitelkeit führt
zu einem Egoismus, der zu aller gesellschaftlichen und
freundschaftlichen Verbindung untüchtig macht, und
dem Eiteln ebensosehr zur Last, als dem zum Ekel wird,
der mit ihm leben muß.
Obgleich man nun solchen eiteln Leuten nicht
schmeicheln soll, so hat doch auch nicht jeder Beruf, sie
zu bessern, zum Pädagogen an ihnen zu werden,
besonders nicht an solchen Menschen, die mit ihm in gar
keiner Verbindung stehen, ihnen auf ungeschliffene Art
den Text lesen, sie zu demütigen oder weniger
Höflichkeit und Gefälligkeit gegen sie zu üben, als man
jedem andern widmen würde, und es ist unbillig, wenn
diejenigen, welche täglich mit ihnen leben müssen, dies
von uns verlangen, wenn sie fordern, daß wir mit Hand
anlegen sollen, ihre verzogenen Freunde umzubilden.
Eitle Leute pflegen gern andre zu schmeicheln, um
dagegen wieder mit Weihrauch eingeräuchert zu werden
und weil sie das für das einzige würdige Opfer, für die
einzige vollwichtige Münze halten.
5.
Von Herrschsucht, Ehrgeiz und Eitelkeit ist Hochmut
sowie von Stolz unterschieden. Ich möchte gern, daß man
Stolz als eine edle Eigenschaft der Seele ansähe; als ein
Bewußtsein wahrer innrer Erhabenheit und Würde; als
ein Gefühl der Unfähigkeit, niederträchtig zu handeln.
Dieser Stolz führt zu großen, edlen Taten; er ist die
Stütze des Redlichen, wenn er von jedermann verlassen
ist; er erhebt über Schicksal und schlechte Menschen und
erzwingt selbst von dem mächtigen Bösewicht den Tribut
der Bewundrung, den er wider Willen dem unterdrückten
Weisen zollen muß. Hochmut hingegen brüstet sich mit
Vorzügen, die er nicht hat, bildet sich auf Dinge etwas
ein, die gar keinen Wert haben. Hochmut ist es, der den
Pinsel von sechzehn Ahnen aufbläht, daß er die
Verdienste seiner Vorfahren – die oft nicht einmal seine
echten Vorfahren sind und oft nicht einmal Verdienste
gehabt haben – daß er diese sich anrechnet, als wenn
Tugenden zu dem Inventar eines alten Schlosses
gehörten. Hochmut ist es, der den reichen Bürger so
grob, so steif, so ungesellig macht. Und wahrlich, dieser
pöbelhafte Hochmut ist, da er mehrenteils von Mangel an
Lebensart und ungeschickten Manieren begleitet wird,
womöglich noch empörender als der des Adels.
Hochmut ist es, der den Künstler mit so viel Zuversicht
zu Talenten erfüllt, die, sollten sie auch von niemand
anerkannt werden, ihn dennoch in Gedanken über alle
Erdensöhne hinaussetzen. Er wird, wenn niemand ihn
bewundert, eher auf die Geschmacklosigkeit der ganzen
Welt schimpfen, als auf den natürlichen Gedanken
geraten, daß es wohl mit seiner Kunst nicht so ganz
richtig aussehn müsse.
Wenn dieser Hochmut nun gar in einem armen,
verachteten Subjekte wohnt, dann wird er ein
Gegenstand des Mitleidens und pflegt eben nicht viel
Unheil anzurichten. Er ist aber übrigens fast immer mit
Dummheit gepaart, also durch keine vernünftigen
Gründe zu bessern und keiner bescheidenen Behandlung
wert. Hier hilft nichts, als Übermut gegen Übermut zu
setzen, oder zu scheinen, als bemerkte man ein
hochmütiges Betragen gar nicht; oder Leute, die sich
aufblasen, gar keiner Achtsamkeit zu würdigen, sie
anzusehn, als wie man auf einen leeren Platz hinblickt,
selbst wenn man ihrer bedarf; denn wahrhaftig! – ich
habe das oft erfahren – je mehr man nachgibt, desto
mehr fordern, desto übermütiger werden sie, bezahlt man
sie aber mit gleicher Münze, so weiß ihre Dummheit
nicht, wie sie das Ding nehmen soll, und spannt
gewöhnlich andre Saiten auf.
6.
Mit sehr empfindlichen , leicht zu beleidigenden Leuten ist
es nicht angenehm umzugehn. Allein diese
Empfindlichkeit kann verschiedene Quellen haben. Hat
man daher nachgespürt, ob der Mann, mit welchem wir
leben müssen, und der leicht durch ein kleines
unschuldiges Wörtchen oder durch eine zweideutige
Miene oder durch einen Mangel an Aufmerksamkeit
gekränkt und vor den Kopf gestoßen wird, ob dieser
Mann, sage ich, aus Eitelkeit, wie es mehrenteils der Fall
ist, oder aus Ehrgeiz, oder weil er oft von bösen
Menschen hintergangen und geneckt worden, oder
endlich deswegen so leicht zu beleidigen ist, weil sein
Herz zu zärtlich fühlt, weil er von andern ebensoviel
verlangt, als er ihnen selbst gibt, so muß man sein
Betragen darnach einrichten, und jeden Anstoß von der
Art zu vermeiden suchen; doch pflegt das schwer zu sein.
Ist er übrigens redlich und verständig, so wird seine
Verstimmung nicht lange dauern; er wird durch eine
grade, freundliche Erklärung bald zu besänftigen sein; er
wird nach und nach seinen besten Freunden trauen
lernen und vielleicht zuletzt, wenn man immer edel und
offen mit ihm verfährt, von seiner Schwachheit
zurückkommen.
Von diesen allen sind in der Tat diejenigen am
schwersten zu befriedigen und der Gesellschaft am
lästigsten, die sich jeden Augenblick vernachlässigt,
zurückgesetzt, nicht genug geehrt glauben: Man hüte sich
also, in diesen Fehler zu verfallen, wodurch man sich
selber quält und andern peinliche Mühe macht.
7.
Eigensinnige Menschen sind viel schwerer zu behandeln als
sehr empfindliche. Noch ist mit ihnen auszukommen,
wenn sie übrigens verständig sind. Sie pflegen dann,
insofern man ihnen nur in dem ersten Augenblicke
nachzugeben scheint, bald von selbst der Stimme der
Vernunft Gehör zu geben, ihr Unrecht und die Feinheit
unsrer Behandlung zu fühlen und wenigstens auf eine
kurze Frist geschmeidiger zu werden; ein Elend aber ist
es, Starrköpfigkeit in Gesellschaft von Dummheit
anzutreffen und behandeln zu müssen. Da helfen weder
Gründe noch Schonung. Es ist da mehrenteils nichts
weiter zu tun, als einen solchen steifsinnigen Pinsel
blindlings handeln zu lassen, ihn aber so in seine eigenen
Ideen, Pläne und Unternehmungen zu verwickeln, daß er,
wenn er durch übereilte, unkluge Schritte in Verlegenheit
gerät, sich selbst nach unsrer Hilfe sehnen muß. Dann
läßt man ihn eine Zeitlang zappeln, wodurch er nicht
selten demütig und folgsam wird und das Bedürfnis
geleitet zu werden fühlt. Hat aber ein schwacher,
eigensinniger Kopf von ungefähr ein einzigmal gegen uns
recht gehabt oder uns über einen kleinen Fehler erwischt,
dann tue man nur Verzicht darauf, ihn je wieder zu leiten.
Er wird uns immer zu übersehn glauben, unsrer Einsicht
und Rechtschaffenheit nie trauen; und das ist eine höchst
verdrießliche Lage.
Bei beiden Gattungen von Leuten aber helfen in dem
ersten Augenblicke keine weitläufigen Vorstellungen,
indem sie dadurch nur noch mehr verhärtet werden.
Hängen wir von ihnen ab, und sie geben uns Aufträge,
wovon wir wissen, daß sie dieselben nachher selbst
mißbilligen werden, so kann man nichts Klügeres tun, als
ihnen ohne Widerrede Gehorsam zu versprechen, aber
entweder die Befolgung so lange zu verschieben, bis sie
sich indes eines Bessern besinnen, oder in der Stille die
Sache nach eigenen Einsichten einzurichten, welches sie
gewöhnlich in ruhigen Augenblicken zu billigen pflegen,
insofern man nur etwa tut, als habe man ihren Befehl also
verstanden, sich aber ja nie seiner größern, kaltblütigen
Einsicht rühmt.
Nur in sehr wenig eiligen oder sonst höchst wichtigen
Fällen kann es nützlich und nötig sein, Eigensinn gegen
Eigensinn aufzuspannen und schlechterdings nicht
nachzugeben. Doch geht alle Wirkung dieses Mittels
verloren, wenn man es zu oft und bei unbedeutenden
Gelegenheiten oder gar da anwendet, wo man unrecht
hat. Wer immer zankt, der hat die Vermutung gegen sich,
immer unrecht zu haben; es ist also weise gehandelt, den
andern in diesen Fall zu setzen.
8.
Eine besondre Gemütsart, die mehrenteils aus Eigensinn
entspringt, doch auch wohl zuweilen bloß Bizarrerie oder
ungesellige Laune zur Quelle hat, ist die Zanksucht. Es
gibt Menschen, die alles besser wissen wollen, allem
widersprechen, was man vorbringt, oft gegen eigne
Überzeugung widersprechen, um nur das Vergnügen zu
haben, disputieren zu können; andre setzen eine Ehre
darin, Paradoxa zu sprechen, Dinge zu behaupten, die
kein Vernünftiger irgend ernstlich also meinen kann, bloß
damit man mit ihnen streiten solle; endlich noch andre,
die man Querelleurs, Stänker nennt, suchen vorsätzlich
Gelegenheit zu persönlichem Zanke, um eine Art von
Triumph über furchtsame Leute zu gewinnen, über
Leute, die wenigstens noch feiger sind als sie, oder, wenn
sie mit dem Degen umzugehen wissen, ihren falschen
Mut in einem törichten Zweikampfe zu offenbaren.
In dem Umgange mit allen diesen Leuten rate ich die
unüberwindlichste Kaltblütigkeit an, und daß man sich
durchaus nicht in Hitze bringen lasse. Mit denen von der
ersten Gattung lasse man sich in gar keinen Streit ein,
sondern breche gleich das Gespräch ab, sobald sie aus
Mutwillen anfangen zu widersprechen. Das ist das einzige
Mittel, ihrem Disputiergeiste, wenigstens gegen uns,
Schranken zu setzen und viel unnütze Worte zu sparen.
Denen von der zweiten Gattung kann man je zuweilen
die Freude machen, ihre Paradoxa ein wenig zu
bekämpfen oder, noch besser, zu persiflieren. Die
letztern aber müssen viel ernsthafter behandelt werden.
Kann man ihre Gesellschaft nicht vermeiden, kann man
in derselben durch ein entfernendes, fremdes Betragen
sie sich nicht vom Leibe halten, ihren Grobheiten nicht
ausweichen, so rate ich, einmal für allemal ihnen so
kräftig zu begegnen, daß ihnen die Lust vergehe, sich ein
zweites Mal an uns zu reiben. Saget ihnen auf der Stelle in
unzweideutigen, männlichen Ausdrücken Eure Meinung
und lasset Euch durch ihre Aufschneiderei nicht
irremachen! Man wird mir zutrauen, daß ich über den
Zweikampf so denke, wie jeder vernünftige Mann
darüber denken muß nämlich daß er eine unmoralische,
unvernünftige Handlung sei; sollte nun aber auch jemand
seiner bürgerlichen Lage nach, zum Beispiel ein Offizier,
durchaus sich dem Vorurteile unterwerfen müssen, eine
Beleidigung durch die andre und durch persönliche
Rache auszulöschen, so kann doch dieser Fall nie dann
eintreten, wenn er ohne die geringste Veranlassung von
seiner Seite hämischerweise angetastet wird, und der hat
doppelt unrecht, der gegen einen sogenannten Stänker
mit andern Waffen als mit Verachtung, oder, wenn es
ihm gar zu nahe gelegt wird, anders als mit einem
geschmeidigen spanischen Rohre kämpft, und hat
nachher unrecht, wenn er ihm Satisfaktion gibt, wie man
das zu nennen pflegt.
Im allgemeinen aber wohnt in manchen Menschen ein
sonderbarer Geist des Widerspruchs. Sie wollen immer
haben, was sie nicht erlangen können, sind nie von dem
zufrieden, was andre tun, murren gegen alles, was grade
sie nicht also bestellt haben, und wäre es auch noch so
gut. Er ist bekannt, daß man solche Leute sehr oft
dadurch leiten kann, daß man ihnen entweder das
Gegenteil von dem vorschlägt, was man gern durchsetzen
mochte, oder auf andre Weise sorgt, daß sie unsre
eigenen Ideen gegen ms durchsetzen müssen.
9.
Jähzornige Leute beleidigen nicht mit Vorsatz. Sie sind
aber nicht Meister über die Heftigkeit ihres
Temperaments, und so vergessen sie sich in solchen
stürmischen Augenblicken selbst gegen ihre geliebtesten
Freunde und bereuen nachher zu spät ihre Übereilung.
Ich brauche wohl nicht zu erinnern, daß Nachgiebigkeit –
vorausgesetzt, daß diese Leute andrer guten
Eigenschaften wegen einiger Schonung wert scheinen,
denn außerdem muß man sie gänzlich fliehn-, daß weise
Nachgiebigkeit und Sanftmut die einzigen Mittel sind,
den Jähzornigen zur Vernunft zurückzuführen. Allein ich
muß dabei erinnern, daß phlegmatische Kälte dem
Erzürnten entgegenzusetzen ärger als der heftigste
Widerspruch ist; er glaubt sich dann verachtet und wird
doppelt aufgebracht.
10.
Wenn der Jähzornige nur aus Übereilung Unrecht tut und
über den kleinsten Anschein von Beleidigung in Flitze
gerät, nachher aber auch ebenso schnell wieder das
erwiesene Unrecht bereuet und das erlittene verzeiht, so
verschließt hingegen der Rachgierige seinen Groll im
Herzen, bis er Gelegenheit findet, ihm vollen Lauf zu
lassen. Er vergißt nicht, vergibt nicht, auch dann nicht,
wenn man ihm Versöhnung anbietet, wenn man alles, nur
keine niederträchtigen Mittel anwendet, seine Gunst
wieder zu erlangen. Er erwidert sowohl das ihm
zugefügte wahre als vermeintliche Übel, und dies nicht
nach Verhältnis der Große und Wichtigkeit desselben,
sondern tausendfältig; für kleine Neckereien wirkliche
Verfolgung; für unüberlegte Ausdrücke, in Übereilung
geredet, tätige Rache; für eine Kränkung unter vier
Augen öffentliche Genugtuung; für beleidigten Ehrgeiz
Zerstörung reeller Glückseligkeit. Seine Rache schränkt
sich nicht auf die Person ein, sondern erstreckt sich auf