Read the book: «Bittersüß - davor & danach 2», page 3

Font:

„Aber wahr.“

„Touché.“

Plötzlich ist es sehr still. Das Rascheln der Bettlaken klingt unglaublich laut und fast schon störend.

„Das hier ist kein Spiel, Ella … Und selbst wenn, stehen wir auf derselben Seite.“

Tun wir das wirklich? Ich sage lieber nichts dazu.

„Was muss ich tun, damit du mir glaubst?“, murmelt er vor sich hin. Aber es klingt eigentlich nicht so, als erwarte er tatsächlich eine Antwort von mir.

„Ich weiß es nicht“, sage ich dennoch und sehe ihn dabei von der Seite an. Jan streicht mir übers Haar und schiebt mir eine lose Strähne hinters Ohr.

„Wie gerne ich dich ansehe, Ella.“

„Ich sehe dich auch gerne an.“

Wie von selbst wandern auch meine Finger über sein Gesicht und streifen dabei ganz vorsichtig die Narben unter seinem Dreitagebart. Sein Blick wird ernst und er bedeckt sich mit dem Laken und damit auch sein Bein. Ich kann nicht sagen, ob das Absicht oder bloß Zufall ist. Dennoch fällt es mir auf.

„Ich glaube dir“, sagt Jan zu mir. Und die Art, wie er es sagt, macht deutlich, wie schwer es ihm noch immer fällt, das tatsächlich glauben zu können. Aber ich höre seiner Stimme an, dass er die Wahrheit spricht.

„Jan“, beginne ich zaghaft. „Was ist mit dir in den letzten Wochen passiert? Was hat dich so verändert?“

Lange starrt er mich an. Ganz langsam kommt sein Gesicht näher, bis ich wieder unter ihm liege, in das Kissen gepresst. Hauchzart fährt er mit den Lippen meinen Mund entlang und atmet dabei ein. Jan haucht nur ein Wort auf meine Lippen, so leise, dass es kaum hörbar in der Stille des Raums verklingt:

Du.“

Kapitel 7

Jan – Wien, 2013

„Jan Herzog?“

Ein riesiger schwarzer Mann mit kurz geschorenen dunklen Haaren, der in mintblauer Dienstkleidung steckt, sieht mich fragend an. Er ist Nigerianer, glaube ich zumindest. Sein breites Dauerlächeln zerrt an meinen blank liegenden Nerven.

„Ja, der bin ich.“ Fast, ergänze ich in Gedanken, weil es mehr der Wahrheit entspricht.

„Sehr schön. Mein Name ist Chidi. Doch seit dem Studium nennen mich bloß alle Chi. Wie Sie sich bereits denken können, übernehme ich von nun an Ihre Physiotherapie.“

Ich weiß nicht, was er von mir erwartet, also zucke ich mit den Achseln, weil es mir ziemlich egal ist. Das hier bringt doch nichts.

„Folgen Sie mir!“ Blendender Laune hält er mir die Tür zum angrenzenden Raum auf. Es dauert eine beschissene Ewigkeit, bis ich es mit den Krücken dort hinein geschafft habe. Mit prüfendem Blick sieht er mir dabei zu, was mich alles andere als begeistert. Ständig angestarrt zu werden – neuerdings ein Dauerzustand –, geht mir auf den Sack.

„Unterhalten wir uns erst mal, ehe wir anfangen“, lässt er mich wissen und setzt sich dabei auf einen leeren Stuhl mitten in diesem groß geschnittenen Raum, der aus Trainingsgeräten, Matten und für meinen Geschmack viel zu vielen Spiegeln besteht. Eine weitere kleine Ewigkeit dauert es, bis ich es auf den zweiten freien Stuhl ihm gegenüber geschafft habe.

„Stört es Sie, wenn ich Du sage?“, fragt er mich freundlich, während er bereits durch meine Akte blättert.

„Tu dir keinen Zwang an, Chi.“ Von mir aus kann er mich Rumpelstilzchen nennen, wenn ich dafür hier raus kann.

„Gut, Jan. In deiner Akte steht so ziemlich alles, was ich wissen muss … Wie ich sehe, hat Dr. Karl deine Knierekonstruktion gemacht. Da kannst du froh sein, er ist einer der besten orthopädischen Chirurgen.“

Spätestens jetzt möchte ich aufstehen und ihm eine verpassen. Ich soll froh sein? Will er mich verarschen?!

Hat er die Bilder meines zerstörten Beins überhaupt angesehen?

So gut ich kann, starre ich den Riesen in Grund und Boden. Arschloch! Er kann froh sein, dass ich zu verkrüppelt bin, um mich mit ihm anzulegen.

Um Verständnis bemüht atmet er kurz durch und studiert mein Gesicht. Seine Verständnis heuchelnde Tour geht mir auf die Nerven.

„Deine Akte weist darauf hin, dass du mit deiner ersten Krankengymnastik nicht sehr zufrieden gewesen bist …“ Chis Lächeln ist verschwunden und einem ernsten Blick gewichen. Er weiß es und ich weiß es. Ich bin ein Problempatient.

„Wenn du damit meinst, dass ich nichts davon halte, dass ein Kerl mir im Krankenhausbett richtig beschissene Schmerzen verursacht hat, weil er unbedingt mein Bein hin und her drehen musste, dann ja, Chi, ich war nicht besonders zufrieden damit“, schleudere ich ihm vor die Füße und unterstreiche meinen Unmut damit, dass ich bei dem Wort „zufrieden“ Gänsefüßchen in die Luft male.

„Ich verstehe“, ist alles, was der große Chi dazu zu sagen hat.

„Leider muss ich dir sagen, dass ich ebenfalls die Beweglichkeit deines Beins testen muss. Und das geht nur, indem ich es strecke und beuge. Angenehm wird das nicht. Denn erst wenn es dir gelingt, eine gewisse Beweglichkeit zurückzuerlangen, können wir beginnen, an deiner Mobilität zu arbeiten.“

„Soll heißen?“

„Du musst da durch! Nur so kann sich dein Gang sichtlich verbessern, und das dauert, ist anstrengend und langwierig.“

„Wunderbar … Als hätten die Monate im Krankenhaus nicht schon gereicht“, murmle ich vor mich hin. Ich kann fühlen, wie die Wut in meinem Bauch immer mehr zunimmt. Eine Wut, die ich mit mir herumschleppe, seit ich als das hier aufgewacht bin. Mit jedem Tag, der seither vergangen ist, ist diese Wut gewachsen und gediehen, sie verändert mich. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Dessen bin ich mir bewusst. Aber sie ist alles, was ich habe. Deshalb halte ich an ihr fest. Alles andere ist ohnehin den Bach runtergegangen. Der Mann, der ich einmal gewesen bin, existiert nicht mehr. Und ein paar Stunden Physio werden daran nichts ändern. Gar nichts.

Doch Chi kennt keine Gnade oder lässt sich von meiner miesen Laune beeindrucken. Er legt ein Handtuch auf eine der Matten und hilft mir, mich daraufzulegen. Wie ich es hasse, so abhängig von der Hilfe anderer zu sein. Chi erklärt mir alles, was er tut und warum er es tut, doch ich höre gar nicht hin. Ich will nur diese Stunde rumbringen, damit ich wieder nach Hause kann. Diesen Mist lasse ich sowieso nur über mich ergehen, um endlich bei meinen Alten ausziehen zu können. Also tue ich so, als würde ich mitmachen, und drücke mit dem bisschen Kraft, das noch in meinem linken Bein steckt, gegen Chis Hand. Es ist einfach nur erbärmlich. Und es tut höllisch weh. Doch ich sage kein Wort, während wir dieses Theater veranstalten.

Zum dritten Mal diese Woche hänge ich mit den Achseln auf zwei Stahlstangen, ohne die ich wie ein Mehlsack auf den Boden fallen würde. Der Schmerz zieht sich von meinem Bein über meine Brust und sorgt dafür, dass es selbst in meinem Schädel pocht. Der Schweiß läuft mir in die Augen und mir wird schwindelig. Diese schwarzen Flecken tanzen wieder vor meinen Augen. Nicht einmal drei Schritte habe ich auf dem verdammten linken Bein ordentlich hinbekommen. Noch immer kann ich es kaum belasten, humple wie ein einbeiniger Idiot in der Gegend herum und kann nicht anständig auf zwei Beinen laufen. Scheiße! Sogar Kleinkinder laufen besser als ich.

„Das bringt doch nichts!“, stöhne ich erschöpft und angepisst.

Chi sieht mich wieder einmal enttäuscht an. Was will der Kerl bloß von mir?

„Ich weiß, dass es schmerzhaft ist und frustrierend. Aber du musst dir vorstellen, warum du das hier tust“, wendet er ruhig ein, während er mir neben den Bahnen, die ich für die Laufübungen benutzte, folgt. Wobei er eigentlich, wenn man es genau nimmt, bloß neben mir steht, denn ehrlich: Ich komme kein Stück voran.

„Keine Ahnung … Was bringt es, wenn ich in ein paar Monaten ein bisschen weniger humple? Niemanden interessiert das, solange ich so aussehe“, spucke ich ihm hin.

Warum will er das nicht kapieren? Jedes Mal, wenn ich hier bin und gezwungenermaßen in den Spiegel sehe, könnte ich schreien oder kotzen – oder beides. Ich hasse es, wenn mir dieser fremde Mann entgegenblickt, dessen Gesicht von Narben verunstaltet ist, der meine Klamotten trägt und es nicht einmal schafft, gerade zu stehen oder ein paar ordentliche Schritte zu machen. Dieser Kerl kann niemals ich sein. Niemals!

Chi an meiner Seite wirkt mittlerweile ebenfalls reichlich frustriert. Meinetwegen muss er die Stunden mit mir am Ende des Tages einplanen, wenn niemand mehr hier im Physio-Bereich eingeteilt ist. Denn ich habe mich geweigert, weiter zu kommen, wenn ich von anderen Patienten angestarrt werde. Chi hat mir meinen Willen gelassen, da er mit mir nicht vorankommt. Früher war ich nicht so ein Kotzbrocken, doch jetzt bin ich es. Trotz der späten Stunde, meiner Antihaltung und der deutlichen Frustration in seinem Gesicht bleibt er ruhig und professionell. Fast schon unheimlich, dieser Kerl.

„Du musst dir etwas vorstellen, Jan. Etwas, auf das du zulaufen willst. Ein Ziel, das auf dich wartet, am Ende dieser ganzen Schinderei oder jemand, den du am Ende der Bahn erreichen willst.“ Verständnislos starre ich ihn an.

„Viele meiner Patienten stellen sich vor, dass ihr Partner oder ihre Kinder da vorne stehen und sich freuen oder stolz sind, wenn sie es, so gut sie eben können, bis ans Ende geschafft haben“, ergänzt er. Mit einem gepressten Lächeln nickt er mir zu. Verdammt, ich versuche es ja. Ich schließe die Augen und versuche, mir irgendjemanden oder irgendetwas vorzustellen, wofür ich das hier tue, wofür sich der ganze Schmerz und die Anstrengung lohnen.

Doch ganz ehrlich, da gibt es nichts und niemanden. Mir fällt nichts ein. Gar nichts. Also tue ich so als ob und mache weiter, wie so oft. Stemme mich von dem Handlauf der Bahnen ab, in denen ich nutzlos gehangen habe, und versuche das linke Bein etwas mehr zu belasten. Ich versuche, daran zu denken, was Chi gesagt hat, dass, wenn ich das rechte Bein weiterhin überlaste und das linke in eine Schonhaltung zwinge, mein Humpeln nur schlimmer werden wird. Als mein Gewicht auf das linke Knie verlagert wird, zieht ein stechender Schmerz meinen Oberschenkel entlang, den ich wegzuatmen versuche. Zwecklos. Der Schmerz hat mich voll im Griff. Ich versuche es dennoch. Sehr vorsichtig und langsam mache ich einen Schritt und dann noch einen.

Das war’s. Wieder sackt mein linkes Bein unter dem Gewicht meines Körpers weg, und ich kann gerade mal so die Stangen erreichen, um nicht noch mal darin hängen zu bleiben, wie ein Versager. Ein letztes Mal probiere ich es, während Chi ruhig und geduldig neben mir steht. Verzweifelt stelle ich mir irgendjemanden am Ende dieser Bahnen vor, doch es ist nur eine beschissene Illusion. Niemanden interessiert es, ob ich das hinkriege oder nicht. Also lasse ich mich einfach auf die Matte unter mir fallen und schließe die Augen.

Das war es dann mit Physio. Ich bin durch damit. Endgültig. Vielleicht hilft es ja anderen, die ihre imaginären Wunschbilder vor sich sehen. Mir bringt das nichts. Ich bin ein hoffnungsloser Fall.

Kapitel 8

Jan – Wien, 2014

„Jan Herzog … Ganz ehrlich, als du vor all diesen Monaten durch meine Tür verschwunden bist, hätte ich nicht gedacht, dass ich dich je wiedersehen werde.“

Chi ist noch immer dieser riesige schwarze Mann mit den kurz geschorenen Haaren und der unerschütterlich guten Laune. Nur die Kleidung ist anders: weiß. Viel besser als das mintgrüne Zeug. Sein selbstgefälliges Grinsen zeigt er mir ganz offen.

„Ich auch nicht“, gebe ich unumwunden zu.

„Was führt dich zu mir?“

„Du hast mir mal gesagt, dass jeder Patient ein Ziel braucht, jemanden, für den er sich all das antut …“

„… jemand, der am Ende der Stange wartet und das alles wert ist … Ich erinnere mich.“ Mit einem hintergründigen, breiten Lächeln starrt er mich an. Irgendwie habe ich das Gefühl, ihm gefällt es, dass wir wieder hier gelandet sind, in diesem Trainingsraum, auf den zwei nicht zusammenpassenden billigen Stühlen sitzen und uns endlich richtig unterhalten.

„Damals hatte ich nichts. Jedenfalls nichts, wofür es sich gelohnt hätte, durchzuhalten“, gebe ich zu und hasse es, dass ich Chi meine Seele vor die Füße kotze. Ein Teil von mir schämt sich dafür, wie ich mich damals ihm gegenüber benommen habe und wie schwach ich war, als ich einfach so alles hingeschmissen habe und abgehauen bin.

„Und jetzt?“, fragt er mit einem feinen Schmunzeln. Sichtlich zufrieden verschränkt er die Arme vor der Brust.

„Habe ich jemanden.“ Das hoffe ich zumindest.

„Dann willst du also wieder mit der Physio anfangen?“, bringt er es auf den Punkt. Jetzt hat er mich da, wo er mich immer haben wollte. Er genießt das richtig.

„Ja, deshalb bin ich hier.“ Langsam lasse ich mich in meinem Stuhl zurück und verschränke ebenfalls die Arme.

„Ich sollte dich vor allem über meine kurzfristigen Ziele aufklären.“

„Die da wären?“, fragt er lachend. Der große Nigerianer sieht aus, als hätte ich ihm mit meinem Auftauchen hier die endgültige Bestätigung über seine wahre Genialität als Physiotherapeut erbracht.

„Mein Humpeln muss in zwei Monaten deutlich besser sein“, spreche ich es aus. Das ist mein Ziel. Mein Zeitplan. Für Ella. Sie ist es, die ich die nächsten Wochen am Ende der Trainingsstange sehen werde, für die sich all die Mühe, die vor mir liegt, lohnt. Sie ist ja ohnehin immer da, wenn ich die Augen schließe. Und sie fehlt mir so.

„Zwei Monate?“ Fassungslos starrt er mich an. „Das ist unmöglich … nicht in der Zeit. Dein Bein ist zwar ausgeheilt, nicht so wie damals bei der ersten Physio. Aber du hast dir keinen Gefallen damit getan, alle therapeutischen Behandlungen abzubrechen. Ich konnte schon, als du durch die Tür bist, erkennen, dass die monatelange Schonhaltung, die du dir angewöhnt hast, dein Humpeln nur verstärkt hat. Das zu korrigieren, wird sehr viel Zeit und Arbeit benötigen. Die Erfolge, die du dir vorstellst, sind in so kurzer Zeit nicht machbar.“ Abgespannt fährt er sich kurz über den Nacken.

„Wieso zwei Monate? … Gib mir drei oder vier?“ Unruhig rutscht er auf dem Sitz hin und her. Er will verhandeln. Ich nicht.

„Zwei Monate. Keinen Tag länger … Sieh es als besondere Herausforderung.“

Humorlos starrt er mich mit einer hochgezogenen Braue an. Chi kann das nicht verstehen, aber zwei Monate sind das Äußerste, was ich aushalte. Länger kann ich mich nicht von Ella fernhalten. Ich werde alles geben, alles ertragen und schuften, wie noch kein Patient vor mir, aber länger geht einfach nicht. Auf keinen Fall drei ganze Monate.

„Ich sage ja nicht, dass ich danach nicht weitermachen möchte. Doch ich muss in acht Wochen zumindest deutliche Erfolge vorweisen können. Verbesserungen, die man auch tatsächlich sieht“, versuche ich Chi zu erklären. Meine Stimme verbirgt meine Aufregung kaum. Aber ich habe einen Plan, einen Plan, von dem unglaublich viel für mich abhängt.

„Sie muss eine umwerfende Frau sein.“ Mit einem schiefen Lächeln nickt er mir zu.

Hätte ich mir denken können, dass Chi den Grund für meine Motivation erahnt. Den Spitznamen haben sie ihm bestimmt nicht ohne Grund verpasst.

„Du hast ja keine Ahnung.“

Kapitel 9

Ella – Berlin, 2014

Mein Herz rast, mein Gesicht brennt, mir ist unglaublich heiß, und egal, was ich auch versuche, meine Atmung will sich einfach nicht beruhigen. Hektisch krame ich nach meinem Wohnungsschlüssel. Als ich ihn endlich finde, fällt er mir aus der Hand und landet für meinen Geschmack viel zu laut auf den Fliesen im Flur. Entsetzt erinnere ich mich daran, dass es noch nicht einmal sechs Uhr morgens ist und ich weder von einem Nachbarn gesehen werden noch jemanden mit meiner Ungeschicktheit wecken möchte. Im trüben Licht des Frühmorgens bücke ich mich nach dem Schlüssel und stelle schockiert fest, dass ich gar keine Strumpfhose trage. Es ist bereits Ende November, kalt und feucht, dennoch habe ich auf dem Weg hierher nicht einmal ansatzweise gespürt, ob mir kalt war oder nicht. Dermaßen bin ich durch den Wind.

Schnell schlüpfe ich durch die knarrende Eingangstür in meine Berliner Wohnung und keuche erschrocken auf, als ich Cami putzmunter an ihrem PC im Wohnzimmer vorfinde. Ich kann nicht sagen, ob sie die ganze Nacht wach war und an ihren Entwürfen gearbeitet hat oder ob sie sehr früh aufgestanden ist, um dasselbe zu tun. Bei ihr ist beides möglich. Herrgott, beinahe wäre ich an einem Herzinfarkt gestorben, als ich sie unerwartet vor mir sitzen sah. Beruhigend drücke ich mir die Hand ans Herz. Doch es schlägt weiterhin rasend schnell. Die letzte Nacht, dieser Morgen … im Moment ist einfach alles zu viel für mich. In mir tobt das Chaos.

„Was ist denn mit dir passiert? Und deine Haare …“ Cami starrt mich aus zusammengekniffenen Lidern an und deutet vage in Richtung meines Kopfes.

Ich mache ein paar Schritte zurück, um einen Blick in den Flurspiegel über der Kommode zu werfen. Doch das hätte ich mir lieber erspart. Denn meine Haare sehen eindeutig ungekämmt aus und stehen am Hinterkopf struppig ab. Mir fällt dazu nur ein Ausdruck ein: Sex-gehabt-Haare. Meine verdammte Bluse ist falsch zugeknöpft, so richtig falsch. Und was von meinem Augen-Make-up noch übrig ist, hat sich ordentlich um meine geröteten Augen verschmiert und lässt mich aussehen, als hätte ich die Nacht durchgemacht.

Gott, ich bin tatsächlich so angezogen auf die Straße gegangen. Mit nackten Beinen, bei dieser Kälte. Schamesröte brennt auf meinen Wangen und bringt mich endlich dazu, mich von meinem derangierten Spiegelbild abzuwenden. Aufgeregt gehe ich zu Cami ins Wohnzimmer. Die Ruhe, mich auf das Sofa zu setzen, fehlt mir, also bleibe ich vor ihr stehen, was Cami sichtlich irritiert.

„Ella, was ist denn bloß los mit dir?“

Besorgt sieht sie mich an.

„Ich … ich habe dir doch erzählt, dass Jan, mein Jan, im Hotel aufgetaucht ist …“ Ich kann nicht weitersprechen, da mein Magen gerade ordentlich krampft, also atme ich tief ein.

„Ja, ich erinnere mich“, sagt sie vorsichtig, nimmt einen weiß verschmierten Löffel aus dem Mund und stellt das Joghurtglas in ihrer Hand auf dem Tisch ab.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und spreche es aus.

„Ich habe mit ihm geschlafen.“

„Offensichtlich.“ Cami zuckt entschuldigend mit den Achseln. Mein derzeitiger Aufzug ist ja nicht gerade ein Fall für Sherlock. Dennoch macht es mich wütend, dass sie es mir sofort ansehen kann. Als wäre es ihre Schuld, dass mein Zustand derart offensichtlich ist.

„Gott, wir haben einfach … Ich habe einfach so … Er hat sich zwei Monate nicht gemeldet, und anstatt mit ihm zu reden, muss er mich nur ansehen und wir …“ Stöhnend lasse ich den Kopf sinken und schließe dabei kurz die Augen.

„Und wo liegt das Problem?“

„Soll das ein Witz sein!“, stöhne ich aufgebracht. „Ich habe dir doch so gut wie alles über uns erzählt … Und Cami, ich kann doch nicht ausgerechnet im Hotel mit ihm ins Bett steigen, nach allem, was gewesen ist, und dann am nächsten Tag bei der Arbeit auftauchen in den Klamotten vom Vortag und mit diesen Haaren!“ Panisch streiche ich mir die widerspenstigen Strähnen hinters Ohr, als würde das jetzt noch helfen. Cami bleibt ruhig und sieht mich mit ihren schönen hellen Augen mitfühlend an. Genau deswegen mag ich sie so, sie ist ehrlich und unglaublich warmherzig zugleich. Genau was ich jetzt brauche.

„Also hast du was gemacht?“, fragt sie vorsichtig nach.

„Ich habe mich im Finstern angezogen – weshalb ich auch so aussehe – und aus meinem eigenen Hotel geschlichen, wie eine gottverdammte Nutte.“

Cami unterdrückt ein hysterisches Lachen. Ich höre das verräterische Keuchen, das ihrer Kehle entkommt. Tränen glitzern in ihren Augen. „Sorry. Tut mir leid.“

„Oh Gott!“ Fieberhaft überlege ich, welche Fehler mir bei meinem Abgang unterlaufen sein könnten. „Auf der Videoaufzeichnung von der Lobby bin ich bestimmt nicht zu erkennen. Und ich habe den Hintereingang genommen. Es dürfte mich also niemand gesehen haben.“ Meine Gedanken rasen, ich gehe jeden Schritt meiner unfeinen Flucht aus dem Zimmer 307 bis hierher im Geiste immer wieder durch. Irritiert sehe ich auf Camis Finger, die sich um meinen Unterarm legen.

„Jetzt beruhige dich, Ella. Du drehst langsam durch. So aufgelöst kenne ich dich gar nicht.“ Kopfschüttelnd sieht sie mich an. Cami hat recht. Ich reagiere über.

Weg, die Kontrolle, derer ich mich früher fortwährend gerühmt habe. Ich bin kaum wiederzuerkennen, seinetwegen. Wie macht Jan das nur immer wieder mit mir?

„Ich bin aufgewacht, neben ihm, habe Panik bekommen und bin abgehauen. Einfach so.“ Müde sinke ich auf den Schreibtisch und befreie mich von dem dicken Wintermantel. Ich habe das Gefühl, zu ersticken. Warum ist es so heiß hier?

„Hast du ihm wenigstens Bescheid gesagt oder ihm einen Zettel dagelassen?“

„Nein. Wie denn? Er ist ja der Grund für die ganze Panik.“

Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen sieht sie mich an und hält mir ihre Tasse Kaffee hin, die ich dankbar annehme. Der halb warme Schluck hilft nur leider nicht, weder gegen die Müdigkeit noch gegen das Chaos in meinem Kopf. Ich sehe Cami deutlich an, dass sie etwas sagen möchte, das ich vielleicht nicht hören will. Ihre hellen Augen blitzen dann immer verräterisch auf.

„Wie war es denn?“, fragt sie ganz leise, so als dürfe uns ja niemand hören, obwohl wir alleine in unserer Wohnung sind.

„Umwerfend schön. Verführerisch. So gut … Und falsch, so falsch. Aber vor allem zu früh, viel zu früh.“ Das fasst es nicht einmal annähernd zusammen, dennoch kommt es nahe an die Wahrheit heran. Ich weiß einfach nicht, was ich fühle. Vor ein paar Stunden noch habe ich mich begehrt und geliebt gefühlt, geborgen sogar. Doch als ich die Augen heute Morgen aufgeschlagen und ihn neben mir gespürt habe, hat mein Herz heftig zu schlagen angefangen, auf eine unangenehme und beklemmende Art. Und in mir war nur noch dieser eine Gedanke, lauter als jeder Zweifel: Flucht!

„Rede doch mit ihm“, schlägt Cami vernünftig vor und nimmt mir die Tasse wieder ab, um den letzten Schluck zu trinken, ehe er völlig kalt wird.

Humorlos schnaube ich. „Wie soll ich das anstellen? Kaum sieht er mich an oder streift mich nur mit dem kleinen Finger, möchte ich ihn schon …“

„… bespringen?“, hilft sie mir lachend aus.

„Danke, Cami, für diese rücksichtsvolle Wortwahl. Sehr hilfreich.“

„Ist doch wahr, oder?“, neckt sie mich aufmunternd.

„Ja, schon … Wenn ich bei ihm bin und Jan berührt mich, vergesse ich einfach alles. Alles, was ich dann möchte, ist bei ihm sein, ihn spüren, ihn küssen, ihn …“

„Okay! Danke!“, stoppt sie mich mit erhobenen Händen. „So langsam schwindet mein Mitgefühl für dich.“

Cami wendet sich kurz ab und schließt ihr Designprogramm. Sie ist mit Abstand eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe. Sie hat unglaublich langes blondes Haar, helle makellose Haut und beneidenswert grüne Augen. Auf den ersten Blick möchte man meinen, einer modernen nordischen Göttin gegenüberzustehen. Umso mehr hat es mich verwundert, dass Cami sich ihrer eigenen Wirkung kaum bewusst zu sein scheint und kein Glück mit Männern hat. Bei ihrem Aussehen ist das schwer zu glauben. Ihre letzte Beziehung hat sie nicht glücklich gemacht, ganz im Gegenteil, und wie sie mir in unserer ersten richtigen Kennenlernnacht in der Wohnung – nach ungefähr zwei Flaschen Wein – erzählt hat, hat Cami bisher nie diese unwiderstehliche, erotische Anziehung zu einem Mann verspürt, wie ich sie Jan gegenüber empfinde. Deshalb fühle ich mich etwas mies, weil ich zuerst völlig durch den Wind in aller Herrgottsfrühe jammernd in unserer Wohnung auftauche, nur um dann von unserer Nacht vorzuschwärmen, die ich mittlerweile mit gemischten Gefühlen betrachte.

„Er bringt alles durcheinander“, seufze ich. „Sieh mich an, Cami! Ich bin ein Wrack, und das nach nur einer Nacht mit ihm. Dabei ist er erst ein paar Tage hier.“

„Und jetzt?“

„Jetzt geh ich erst mal zur Arbeit und gehe ihm aus dem Weg, soweit das überhaupt möglich ist.“ Kopfschüttelnd betrachtet sie mich besorgt. Sie weiß so gut wie ich, dass mein Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Dennoch sagt sie nichts. Das rechne ich ihr hoch an.

Als ich vom Schreibtisch aufstehe, um ins Bad zu gehen, kündigt der Signalton meines Smartphones eine neue Nachricht an. Unsere Blicke kreuzen sich aufgeregt.

„Das ist sicher er“, sagt Cami. „Sieh nach!“

Ich angle nach meiner Tasche auf dem Boden und suche nach dem Handy. Als ich es in der Hand habe, zögere ich. Mein Magen meldet sich. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe. Davor, dass er wütend ist, oder davor, dass er es nicht ist. Einen tiefen Atemzug später klicke ich auf die ungelesene SMS. Sie ist von Jan.

Eigentlich sollte ich ja Guten Morgen schreiben, doch mein Morgen ist nicht gut.

Und wieso? Weil du nicht mehr neben mir liegst.

Du sollst wissen, ich bereue die letzte Nacht nicht, keine Sekunde davon. Und ich will nicht, dass du es tust.

Ich kann verstehen, dass es dir vielleicht zu schnell gegangen ist oder dich durcheinandergebracht hat. Aber die letzte Nacht WAR KEIN FEHLER, Ella!! Also rede dir das ja nicht ein!

PS: Ich gebe nicht auf!

The free excerpt has ended.