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Windschiefe Gestalten

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Mutter Sterzelweg konnte froh sein. Ohne Augenarzt hatte sich ihr Sehvermögen gebessert. Ohne Brille sogar konnte sie in den Journalen lesen, daß des Fürsten von Herostall berühmtes Rennpferd in den Besitz des Leutnant Sterzelweg übergegangen sei. Welch ein Triumph über alle Neider, die man hatte, welch eine Reklame für die Firma!

Aber es kam noch besser. Ihr Leutnant hatte aus dem Rennen zu Iffezheim den zweiten Preis errungen. Dreißigtausend Mark waren es gewesen. Nicht allzuviel, wenn man bedenkt daß die Überführung des Pferdes Geld gekostet hatte, und daß man den Sieg mit einem Champagnergelage im Stefaniehotel zu Baden-Baden feierte. Aber was wollte Geld bedeuten gegenüber dem Umstand, daß ihr glorreicher Sohn mit einem Male mitten unter die feudalsten Herren gekommen war. Daß er in seinen Armen Damen wiegen durfte, die andere Sterbliche nur durch die verschleierten Abbildungen in der »Woche« kennen lernten. So dachte großzügig Mutter Sterzelweg, und offenbar, sie mußte zu gleichem Denken ihren Mann verführt haben, denn er kaute seltener an seiner Schnurrbartspitze und putzte an Sonntagen seine Nase in ein halbseidenes Taschentuch.

Während Marcellus an der erträumten Jakobsleiter hinaufkletterte, stieg Maurus daran hinunter. Das Gesicht, das der alte Prokurist Bleibtreu des Morgens ins Bureau brachte und des Abends wieder heimtrug, gefiel dem Buckligen nicht, nicht einmal dann, als ihn sein Vater beauftragt hatte, unter die Arbeiter seines Geschäftes eine ansehnliche Summe als Neujahrsgratifikation zu verteilen. Jedes Zucken eines Muskels schien zu fragen: Ist das Großmut oder nur Maske, hinter der die Teufelsfratze des schlechten Geschäftsganges sich zu verstecken sucht? Er mißtraute bereits allem, den schönen Worten, den Taten und am meisten den Zahlen einer zurechtfrisierten Bilanz. Einzig seine Hunde warenʼs, von denen der Bucklige noch etwas Gutes erwartete. Er dressierte die beiden Franziskanernovizen auf das trefflichste. Brachte ihnen bei, daß sie auf seinen Ruf, auf seinen Pfiff zu kommen, auf seinen Befehl still zu sitzen hätten. Er schneiderte ihnen ein Geschirr zurecht und spannte sie vor einen leichten Wagen. Beim Marsch nach dem Bahnhof hin war Selbstzucht ein unbedingtes Erfordernis, daß man nicht vergaß, man sei im Dienst und hinter jeder leichtsinnigen Katze herlief, die über den Weg turnte. Auch Balgereien mit seinesgleichen, so heilsam sie sonst wohl auch sein mochten, waren in den Dienststunden ausgeschlossen, und der Versuch wurde regelmäßig mit einem Fußtritt bestraft. Gefüttert wurden sie nicht übermäßig, und an die Fastenzeiten waren sie vom Kloster aus gewohnt. Weiter trieb Maurus die Hundeerziehung nicht, da er weder Professoren noch Schauspieler aus den Tieren machen wollte, sondern eben Arbeiter, die auch über den Achtstundentag hinaus schafften, statt sich hinzustellen und über Wolkenkuckucksheim den Mond anzubellen oder mit jeder Mundharmonika um die Wette zu heulen.

In jenen Tagen war im Hause Sterzelweg eine kleine Veränderung vor sich gegangen. Nicht etwa, daß eine Giebelwand eingefallen, ein Flügel abgebrannt wäre. Nein, die Sache hatte nicht das geringste Auffällige für einen, der vorüberging, und war doch für den Tieferblickenden von ernster Bedeutung. Das Geschäft war in ein Aktienunternehmen umgekrempelt worden.

Maurus ahnte, daß dies so etwas sei wie das Umtaufen und Neubemalen eines gestrandeten Schiffes, damit man es nicht erkenne und aufs neue Vertrauen zu seiner Seetüchtigkeit fasse. Und warum auch nicht? War es doch von dem gleichen Kapitän Sterzelweg, der jetzt nur Direktor hieß, geführt; von dem gleichen Lotsen gesteuert.

Nein, nicht ganz war die Bemannung die gleiche. Bleibtreu der Alte hatte sich losmustern lassen. Das fiel auf im Publikum, und es gab vor allem dem Buckligen zu denken. Wer sollte ihm nun mit Kopfschütteln und halben Worten eine Andeutung geben, wenn das Schiff ohne Besteck im Nebel lief? Nein, Maurus war mehr noch wie seither auf seine eigene Schlauheit angewiesen, die ihn lehrte, wie aus einem Buche aus dem Benehmen des Vaters herauszulesen, was er wissen mußte. Er beobachtete den Alten, wie nur je ein Geheimpolizist einen Verdächtigen beobachtet hat. Er kontrollierte seine Reisen, zählte die Briefe, die für ihn eingelaufen waren, und prägte sich die Gesichter aller derer ein, die auf seinem Bureau verkehrten. Wer nur im entferntesten so aussah, als ob seine Vorfahren im Lande Posen von Knoblauch und Zwiebeln gelebt hätten, erregte seinen Verdacht, und wenn er gar mit einer Peitsche zwischen den Fingern in den Hof trat, dann war er für ihn zu einer Scharrmaus geworden, die an dem Baume des Hauses Sterzelweg nagte.

Maurus hatte vernommen, von ausgedienten Soldaten vielleicht, von einer Gemüsefrau, einer Hemdenbüglerin, daß sein Bruder außer seinem Rennstall auch noch andere kostspielige Tugenden habe, daß er den Damen vom Ballett die Trikots kaufe und daß er spiele und sein Ehrenwort verpfände, wenn sein Bargeld ausgegangen war. Was hatte doch der Depeschenbote neulich so dringend von dem Vater verlangt? Geld natürlich. War das vielleicht in einer Stunde, wo das brüderliche Ehrenwort eine leere Renommage geworden wäre, wenn der Vater nicht einsprang? Warum hatte der Alte so stürmisch den Kassenschrank durchsucht und war dann zur Mutter gelaufen, damit auch sie die Geheimfächer ihres Schreibtisches plündere? Maurus fühlte, daß über dem Hause Sterzelweg eine Wolke stand, die, wenn nicht bald eine Hochzeit kam, auch mit einem Pistolenknall sich entladen konnte.

Die Hochzeitsklänge kamen nicht; auch der Pistolenknall wurde nicht gehört. Dagegen las man in der Zeitung, daß der Rennstallbesitzer Leutnant Sterzelweg nach dem iranischen Hochland abgereist sei, um die Stelle zu suchen, auf welcher der Erzvater Noah seinen ersten Rausch ausgeschlafen habe.

Das war noch was. Damit konnte Marcellus sich ins Konversationslexikon hineinschmuggeln. Leider kam es anders.

Nach der Abreise des Sohnes regnete es unbezahlte Wechsel in des Vaters Bureau herein, und diese schwemmten das Aktienunternehmen hinweg und den Direktor als Schreiber in die Hinterstube eines Winkeladvokaten hinein und dessen Gattin in den Backsteinnebenbau einer Vorstadtstraße.

Aber die Sterzelwegs hatten doch noch einen zweiten Sohn gehabt, wie hieß der nur? Einerlei. Aber der war ja bucklig gewesen. Wer wird nach ihm fragen? Der zählt nicht mit.

Maurus wünschte auch nicht, daß man nach ihm suche. Er hatte sich mit seinen Hunden nach dem Vorort einer Residenz zurückgezogen, kaufte bei den Bauern die Milch zusammen und beförderte sie an jedem neuen Morgen in die Stadt. Wenn er in seinem blauen Kittel an der Seite des Hundefuhrwerks durch die Straßen zog und eine Schelle ertönen ließ, öffnete sich an einer bestimmten Stelle der Färbergasse immer die Pforte eines Vorgartens, und ein magerer Arm streckte eine blecherne Milchkanne heraus. Maurus goß, ohne zu messen, Milch in das Gefäß hinein und ermunterte dann seine Hunde, daß sie weiter gehen möchten. Aber die Tiere wollten nicht recht; sie winselten, lamentierten und schienen um ein einziges freundliches Wort bitten zu wollen von einer, der die Dürftigkeit ihrer Kleidung offenbar nicht gestattete, daß sie hinter der Jasminhecke hervortrat. Nun, so gingen sie denn doch weiter und zogen den Karren vor eine andere Tür, wo man abermals Milch absetzte, und so weiter, bis schließlich das Ziehen des Wagens nur noch eine Spielerei war auf dem Heimweg von der Stadt und die munteren Vierfüßler fast ausgelassen wurden. Sie machten Sprünge neben der Deichsel her, guckten nach ihrem Führer zurück. Sie schienen diesen einladen zu wollen, er möge sich nur aufsetzen, sie würden ihn schon ziehen, ihn und die strotzende Geldtasche an seiner Seite. Ja, so war das Leben der drei ein recht vergnügliches und jeder neue Tag die Quelle neuer Freuden.

Aber auch über dem Himmel dieser Idylle schwebte eine Wolkenwand grauer Bedenklichkeiten. Der Karren wurde immer schwerer, die Last größer. Das Geschäft dehnte sich aus. Der Bucklige mußte sich ein Pferd anschaffen und einen größeren Wagen. Nun wurde das erst recht ein vergnügtes Treiben. Der Blaukittel saß auf dem Bock, das Pferd wieherte, die Peitsche knallte und die Hunde sprangen bellend neben den schlagenden Rädern her. So ging es in die Stadt hinein und dem Vorgarten in der Färbergasse entgegen. Diesmal half es nichts, daß das Pförtchen sich nur zu einem kleinen Spalt auftat. Die Hunde, nicht mehr vom Geschirr belastet, sprangen wider die Lattentür und hätten sicher eine weibliche Gestalt umgeworfen, wenn nicht ein scharfer Pfiff sie daran erinnert hätte, daß man auch die Zärtlichkeiten nicht übertreiben darf. Statt nun die Dame über den Haufen zu rennen, begnügten sie sich damit, daß sie dieselbe am Rocksaume faßten und sie auf den Bürgersteig zerrten. Da stand sie nun und schlug über dem Kopf die Hände zusammen. Leser, ihr denkt wohl, aus Verwunderung über die Hunde? Nein, sie tat es wegen des Pferdes; von welcher Seite sie es auch betrachten mochte, kein Zweifel war darüber mehr möglich. Leibhaftig, wenn auch nicht mehr im gleichen spiegelnden Felle, stand des Fürsten Bleß von Herostall berühmte Stute vor ihr und trug statt des Herrenreiters einen Packsattel auf dem Rücken. Da nun war sie ein nützliches Wesen geworden, so nützlich wie Maurus, ihr Sohn, der ja auch einen Packsattel auf dem Rücken trug. Zum ersten Male, daß sie dies sehen konnte, ohne daß sie sich schämte, seine Mutter zu heißen. Sie wehrte die zudringlichen Hunde von sich ab, hob die Schürze und weinte bitterlich.

Der Bucklige dachte: ʼs ist Wasser genug auf der Erde, was sollst du neues dazu weinen? Deine Kundschaft könnte mißtrauisch werden. War sie es denn nicht ohnedies schon? Klagte nicht am Samstag der Bäcker über die zu dünne Milch? Hatte er nicht recht? War sie nicht so blau fast wie sein Fuhrmannskittel gewesen? Die Pest über diese Bauern, die aus der Pumpe im Hof mehr Milch holten als aus dem Euter der Kuh! Könnte man dies Gaunergesindel nicht ausschalten, wenn man sich selber eine Kuh hielt? Aber die ihrerseits rechnete auf einen Kleeacker, und zwar auf einen mit roten Blumenköpfen und weichen, saftigen Stengeln. Ob der wohl zu beschaffen war?

 

Maurus überzählte zu Hause sein Geld und sagte sich: es muß reichen. Acht Tage später schon brüllte in seinem Stalle eine Kuh und summten Tausende von honigtrunkenen Hummeln über seinem Acker, während im Hofe ein Tüncherlehrling aus gespitztem Schnabel pfiff und auf den Wagen den Namen »Kindermilch« pinselte.

Niemand ist gezwungen, an die Allmacht Gottes zu glauben. Wer aber jene der Reklame leugnet, ist ein Esel. Wunder kann man mit ihr wirken, zumal wenn man dazu noch einen Buckel hat. »Wo habt Ihr diese Sahne her?« hieß es bald da, bald dort in allen Kaffeehäusern.

»Es ist leicht zu merken. Von einem buckligen Milchmann,« war die Antwort.

Nun gingen ganze Frauenprozessionen auf die Suche nach Maurus Sterzelweg. Wo er sich nur blicken ließ, am Brunnen, vorm Briefkasten, auf der Schranne, immer war er von Weibern umstellt, die mit ihren Kannen klapperten und einen Spektakel machten, als ob sie des Teufels Hofmusikanten wären und einen Ausflug nach dem Blocksberg machten. Es half nichts, Maurus mußte mehr Milchkühe einstellen und die Äcker aufkaufen, wo immer einer feil wurde. Es fehlte nicht viel, und er hätte ein Rittergut zusammengebracht, wenn er nicht zuweilen wieder abgestoßen hätte, was andere brauchten. Sein Besitz war in die Bauflucht der aufstrebenden Stadt hereingefallen. Maurus wurde ein Spekulant wider Willen. Jeden Quadratmeter seines Geländes bekam er mit einer Käsekiste voller Taler bezahlt. Es ging gar nicht mehr anders: die bucklige Mißgeburt in ihrem blauen Leinenkittel war Millionär geworden und brauchte einen Vermögensverwalter.

Wie es manchem so geht auf der Welt: Der reiche Milchhändler saß eines Abends auf der Bank vor seiner Stalltür und kratzte sich abwechselnd, bald rechts, bald links mit allen zehn Fingern hinter den Ohren. Ihn quälte die Sorge, wo er wohl eine ehrliche Seele hernehmen möchte zur Verwaltung seiner Reichtümer. Freilich, wenn der alte Bleibtreu sich nicht eingekapselt hätte. Aber der lag wie ein Engerling in seiner Hülle auf dem Kirchhof draußen und wartete auf die Auferstehungsposaune. Aber wenn der Knecht auch schlief, der Herr wachte noch. Zwar nicht für sich, aber für andere Leute direkterte Herr Sterzelweg noch immer in der Welt herum, bald bei einem Essigfabrikanten, bald bei einem Seifensieder.

Wie wärʼs, überlegte sich Maurus die Sache, wenn du deinen Vater zu dir nähmst? Jetzt, wo er keinen Rennstallbesitzer mehr zu ernähren braucht, würde er wohl mit einem bescheidenen Honorar auskommen.

Der große Gedanke richtete den kleinen Körper auf und streckte die verwachsene Wirbelsäule. Als das Männlein sich von seiner Bank erhob, kam er sich selber wie ein Riese vor, und selbst die Hunde schienen ihn für einen solchen zu nehmen, denn mit verlegenem Bellen beschrieben sie weite Kreise um ihren Herrn.

Wie die Geschichte jetzt weiter geht, kann jeder Kalendermacher erzählen.

Nämlich vor dem Hause des Milchhändlers wurden eines Tages zwei alte Leute, Betten und ein verschossenes Kanapee abgeladen, und die Familie Sterzelweg war insoweit wieder hergestellt, daß Maurus nun seinerseits hätte sagen können: Ich bin des Kommerzienrats Einziger, das heißt ich habe noch einen Bruder, aber der wird wohl von einem asiatischen Ungeheuer aufgefressen sein.

So wahrscheinlich dies auch war, in Wirklichkeit stimmte es doch nicht. Krokodile und Klapperschlangen hatten den Marcellus nicht verschluckt, vielleicht weil sie sich von einem verschuldeten Rennstallbesitzer keinen besonderen Genuß versprachen. Er lebte weiter am unteren Ufer des Amazonenstromes und war der angesehene Inhaber eines Zeitungskioskes auf dem Kai einer Hafenstadt. In solch einer hervorragenden Stellung und an einem solchen Fleck war er natürlich mit allem vertraut, was auf unserem Planeten vor sich ging. So hatte er frühzeitig erfahren, daß man in dem kultivierten christlichen Europa fromme Vorbereitungen traf, einander zu töten. Da war unter dem bereits ergrauenden Haare Marcellusʼ die Sehnsucht noch einmal erwacht nach den vordem so leichtsinnig verscherzten Leutnantsepauletten. Als Kohlentrimmer hatte der Kommerzienratssohn sich nach Genua geschafft, und von da war er über die Alpen gegangen, nicht wie Cäsar an der Spitze eines Heeres, sondern an der Spitze eines spanischen Rohres, wie sie in den Flußniederungen Südamerikas zu Tausenden wachsen. Marcellus fand sein Vaterland einem empörten Bergsee gleich. Der Sturm hatte seine Wasser ins Kochen gebracht, und zwischen dem empörten Gischt der kämmenden Wellen schwamm auf einmal manche Planke eines untergegangenen Schiffes, die wieder ein nützliches Werkzeug werden wollte, eine Ruderstange, ein Hammerstiel.

Marcellus brannte förmlich darauf, ins Gewühl einer Schlacht zu kommen. Da wollte er für eine alte Schuld büßen, siegen und sich auszeichnen. Mit dem Eisernen Kreuze erst auf der Brust und mit der wiedereroberten Schärpe am Offiziersdegen wollte er hingehen und seine Angehörigen aufsuchen.

Und sie kam, diese erste Schlacht. Einen Feind, einen Gegner bekam Marcellus nicht zu Gesicht. Er hörte nur das Pfeifen und Zischen zentnerschwerer Eisenklumpen um seine Ohren. Streifte ein solcher Klumpen einen Menschen, so war der Tapferste so gut geliefert wie der Feigling. Gegen diese Teufelsgeschenke gab es nur einen Schutz: das Eingraben in die Erde. Marcellus nahm seinen Spaten vom Tornister herunter und scharrte sich dem Maulwurf gleich ein Loch in den Boden. Man war auf einem Kirchhof, und manches frische Grab zeigte sich bereit, noch einen Lebendigen neben dem Toten in seinen Frieden einzuschließen. Bald war Marcellus in der erwühlten Grube auf einen Sarg gestoßen. Schlug er nun mit dem Spaten die Bretter ein und kniete sich auf des Toten Schenkel, so hatte er Schutz gefunden für seinen Kopf, seine Schultern und seine Brust. Die Arbeit war schrecklich, aber sie war die Forderung einer unbedingten Notwendigkeit. Sie mußte verrichtet werden, wie hohl und schauerlich es auch aus dem Sarge klingen mochte bei jedem Spatenschlag. Marcellus schaffte, daß ihm der Schweiß von der Stirne rann und niederträufelte auf des Begrabenen Totengewand, das vielleicht vor Monaten auch sein Hochzeitsgewand gewesen war.

Da geschah nun etwas Schreckliches: Der Leichenstein des Toten protestierte gegen die Grabesschändung. Einer unter ihn sich schiebenden Mine gehorchend, hob er sich in die Luft empor, um beim Niederfallen herabzuschlagen auf den gebeugten Rücken des Soldaten, der hinter ihm Schutz gesucht hatte.

Als die Nacht den Kampf beendet, fanden zwei Sanitätssoldaten den ehemaligen Offizier halb von Schollen zugedeckt in einem Granattrichter liegen.

Man grub ihn aus und trug ihn in einer schwarzen Tragbahre nach dem ersten Verbandsplatz hin. »Bruch der Wirbelsäule«, stammelte ein grauhaariger Stabsarzt und deutete mit dem Daumen seiner rechten Hand über die Schulter hinweg nach hinten.

Die Pantomime war verstanden worden. Man transportierte den Halbgelähmten von Spital zu Spital auf einem langen Leidenswege bis ins Herz von Deutschland hinein. Sein letzter Aufenthalt war in einem Lazarett, das von seinem Bruder Maurus mit Milch versorgt wurde. Bald bekamen die Brüder Anschluß aneinander, und als Marcellus die Krankenanstalt verließ, wußte er, wo er sich hinzuwenden hatte, um auch seine Eltern wieder zu finden. Maurus hatte Platz für alle, und noch einmal wieder lebte die Familie Sterzelweg unter den gleichen Hohlziegeln zusammen, nur daß Kommerzienrats jetzt nicht mehr einen, sondern zwei Söhne hatten, die bucklig waren.

Urban der Stammler

Pfarrerssohn und Pfarrerstochter hatten ihn im einträchtigen Zusammenarbeiten hergestellt. Warʼs da ein Wunder, wenn er in der Wiege schon einem Pfarrer, ja über das hinaus einem Konsistorialrat ähnlich sah? Urban hatte man ihn getauft, weil man ihn von den Bauernbuben unterscheiden und dem Verständnis zu Gemüte führen wollte, daß er kein Plebejer werden solle, sondern das eben, was sein Name sagte, ein urbaner, feiner Mensch, der sich an der Tafel eines Fürsten sogar die Zähne stochern könne.

Vorläufig war der kleine Weltbürger klug genug, keine der auf ihn gegründeten Hoffnungen zu enttäuschen, durch vorlautes Wesen etwa. Er baute nur äußerlich an dem Tempel der Gelehrsamkeit, der aus ihm gemacht werden sollte, und verriet sehr spät erst durch lallende Worte, daß auch in seinem Innern etwas vor sich gehe. So kurz auch diese seine erste verbale Geistesoffenbarung war, und so abgerissen und sinnlos die Worte, von den Eltern wurden sie wie die Laute eines Orakels hingenommen und symbolisch als glückverheißend gedeutet.

Als Urban erst einmal zur Schule ging, wurden seine Sprechversuche von den Mitschülern mit Gelächter und von seinem Lehrer mit staunender Verwunderung hingenommen. Es stellte sich heraus, daß der redegewaltigen Pfarrersgeneration ausnahmsweise ein Stotterer zugeteilt worden war. Hätten Vater und Mutter sich von diesem Schicksalswinke bestimmen lassen, so wäre über einen ehrsamen Sattler hinweg den vereinigten Staaten von Europa vielleicht ein Präsident beschert gewesen; allein diesen Entwicklungsgang ließ der elterliche Ehrgeiz nicht zu. Urban mußte an die altsprachlichen Grammatiken heran, und wenn er sich auch daran die Zunge abgebrochen hätte. Aus eigenem Antrieb ahmte er noch den Demosthenes nach, nahm Kirschensteine in den Mund und suchte sich, neben den Automobilen herlaufend, dem Chauffeur verständlich zu machen. Sprechkünstler nahmen den Gymnasiasten in die Lehre, und mehr als ein Scharlatan und Hypnotiseur versuchte an ihm seine Wunderkräfte. Es half alles nichts, Urban war und blieb ein Stotterer.

Inzwischen hatte er sich bei guten schriftlichen Arbeiten durchs Lyzeum hindurchgestottert und bezog die Universität. Einer Heilung seines Leidens nicht mehr ganz vertrauend, hatte der Bruder Studio vorsichtshalber zwei Eisen ins Feuer gelegt. Er studierte Theologie und Philologie gleichzeitig, ersteres aus innerem Antrieb und das zweite, um noch einen Pfeil zu haben, der sich aus seine Armbrust legen ließ, wenn der erste nutzlos abgeschossen war. Als Urban bei einem Landgeistlichen seine erste Kandidatenrede hielt, gingʼs in der Kirche zu, wie vor einem Kasperletheater. »Vernehmt die Worte,« hatte er sagen wollen, aber er war über das V nicht hinweggekommen, obwohl er den Mund verzog, an den Lippen kaute, die Nase unter den Backen beerdigte, die Augen schluckte und seine Zuhörer mit einem Speichelregen taufte. Eine allgemeine Heiterkeit war im Gotteshause entstanden, und um Ärgernis zu vermeiden, hatte der Pastor Loci aus dem Pfarrstuhl heraus dem Organisten ein Zeichen gegeben, daß er die Orgel in Gang bringen möge. Als der Probekandidat die Kirche verließ, hörte er einen Schulbuben zum andern sagen: »Du, wenn der Wurstel am Sonntag wiederkommen sollte, versäum die Kirch nicht, einen Groschen ist die Gaudi wert, und kannst sie für einen Hosenknopf haben, den du in den Klingelbeutel wirft.«

Am heutigen Sonntag hatte der Pfarrherr vergeblich eine wohlwollende Rezension vorbereitet. Seine Frau hatte umsonst gekocht, und eine Pfarrerstochter hatte sich mit Absichten auf den Probekandidaten nutzlos herausgeputzt. Urban hatte in der Leute Fremdenzimmer den Talar über den Kopf gezogen und war durch ein Gartenpförtchen hinaus vom Orte seiner Niederlage heimgeflogen. Hus auf seinem Scheiterhaufen war nicht so gründlich ausgeräuchert worden, wie der Theologe in ihm.

Den zweiten Schuß nach der Scheibe einer Lebensstellung hin wagte der junge Mann nun mit dem Pfeile der Philologie. Es gelang ihm, eine Stelle als Lehramtsassessor zu ergattern. Er wurde in der untersten Klasse als Repetitor angestellt, und zwar mit dem überraschenden Erfolg, daß nach Verlauf von einem Monat die ganze Sexta stotterte, mitsamt dem Schuldiener und dem Bäckerjungen, der im Hofe die Zehnuhrbrötchen verkaufte. Da demnächst ein Besuch der obersten Schulbehörde aus der Residenz zu erwarten war, so befürchtete man eine Verschleppung der Seuche und entließ kurzerhand den zukünftigen Demosthenes. —

Urban sah sich in bezug auf seine Zukunftsaussichten schwer getäuscht, aber er war nicht mutlos. Er bemühte sich in einer fränkischen Universitätsstadt um die Stelle eines Lagerhausverwalters, die nur wenig Beredsamkeit erforderte, allerdings auch keine Kenntnisse der alten Sprachen. Und doch war es nicht nutzlos gewesen, daß Urban diese erlernt hatte. Alte Freundschaften von der Schule her hatten ihn mit einer studentischen Korporation in Verbindung gebracht, als deren geistreicher Kneipzeitungsredakteur er bald eine hervorragende Rolle spielte.

 
 
Samstags bringt er seine Sachen,
Freitags pflegt er sie zu machen —
 

hatte jemand dem »Ulk« nachgedichtet, und mit diesen Worten wurde er auf der Wurstonenkneipe zweimal die Woche heiter empfangen und angeheitert entlassen. So waren die Samstage gewissermaßen die Zäsur geworden in dem stets gleichmäßigen Rhythmus von Fässerrollen und Kistenstürzen im Leben des Stotterers.

Trotz dieser Abwechslung war über Urbans Gemüt eine Wolke von Schwermut hingezogen. Der Winter war vor der Tür, der Ofen wollte nicht brennen, und die Strümpfe hatten Löcher. Warʼs zu verwundern, wenn der Vereinsamte die Absicht äußerte, daß er sich in den Ehestand stürzen möchte? Ein Agent hatte von der tragischen Entschlossenheit Kunde erhalten und war mit einem Heiratsantrag an den Stammler herangetreten. Alle äußeren Verhältnisse stimmten wunderbar. Die Dame war nicht mehr so jung, reich, schön und nur mit einem Hunde belastet. Es wäre also nur darauf angekommen, daß Urban ihr gefallen hätte bei einer gelegentlichen Konfrontation. »Der Gott, der Bub und Mädchen schuf«, zusammen mit dem Agenten wußten diese herzustellen, aber sie führte nicht zu dem erwünschten Resultat. Gegen den Bewerber an sich wäre nichts einzuwenden gewesen, wenn er nur das verwünschte Stottern nicht an sich gehabt hätte. Aber gerade an diesem Tage stammelte der Heiratskandidat noch viel heftiger, als es vormals der Probekandidat getan hatte. Das Fräulein entsetzte sich über die Fratzen, die er dabei schnitt, und entließ den Bewerber und Agenten mit nur allzudeutlichen Zeichen ihrer Ungnade.

Der abgewiesene Freier setzte sich zu Hause neben den kalten Ofen hin und pfefferte mitsamt seiner Galle seinen ganzen Ärger in Dutzende von Epigrammen hinein, die er den Wurstonen als Christbescherung zu liefern hatte, denn das Christfest war nah. Schon war die Spessartfichte mit Rollmöpsen, Tabaksbeuteln, Bockwürsten und Fastenbrezeln verziert. Es brauchten nur noch Kerzen angesteckt zu werden, und der Weihnachtszauber war wieder einmal in der verräucherten Studentenkneipe. Auch Urban war da mit seinen gereimten Gastgeschenken. Man trank sich in die Feststimmung hinein, stieß mit den Gläsern an und sang Lieder, die bald mehr, bald minder durch ihren Inhalt dem Feste Rechnung trugen. Zu guter Letzt fing man an, den Baum astweise mit dem, was gerade dranhing, zu verauktionieren. Bei diesem Geschäfte kamen dann so nach und nach die Xenien ans Lampenlicht, die von Urban verfaßt, aber seither unter Wursthäuten und Katzenpapier versteckt waren. Manch guter Vers wurde vorgelesen. Man trank seinem Verfasser zu, bis dieser Wetterbeständige endlich so gegen Mitternacht einen ziemlichen Rausch hatte. Nun hätte er gerne eine Rede gehalten, wenn ein Mädchen dagewesen wäre; geschwommen, wenn er Wasser um sich gehabt hätte. Kurzum, er wollte unter allen Umständen etwas Unsinniges tun, und deshalb packte er den entlasteten Weihnachtsbaum mitsamt dem bretternen Untergestell und stahl sich damit aus der Kneipe hinaus in eine tunnelartige Straße hinein. Wäre ihm niemand begegnet, so hätte der Torso von Weihnachtsbaum am nächsten Tage seine Stube gewärmt. So aber schlich sich im Halbdunkel ein blauschwarzer Polizist an ihm vorbei, der ihn mit mißtrauischen Blicken musterte. Das ärgerte unsern Freund, und im Nu hatte er sich eine Methode ausgedacht, wie er den Polizisten ärgern könne, ohne sich strafbar zu machen. So ließ er denn versuchsweise einmal den Christbaumtorso aufs Pflaster fallen. Genau wie erʼs gewünscht hatte, fiel das Ding mit dem hölzernen Stützbrett platt auf die Straße. Es gab einen Knall, als ob in einem Weinkeller ein brennendes Spiritusfaß geplatzt wäre, und die windschiefen Giebel der engen Gasse neigten sich nach vornen und schienen nachsehen zu wollen, ob denn da niemand wäre, der dem Unfug steuere.

Überflüssige Mühe. Schon war der Polyp an Urban herangetreten und hatte ihn mit einem seiner Fangarme umschlungen. Wohl hätte der muskelstarke Angegriffene durch ein Schütteln seines Körpers sich befreien können, aber er tat es nicht. Es war ihm der Gedanke gekommen, daß er mit dem schlechtbestelltesten, was an ihm war, wie der Tintenfisch sich wehren könne. Er wollte einmal sein Stottern als Waffe gebrauchen. »Wa—was wollen Sie nur von mir, Ve—Verehrtester? Bins denn e—etwa ich, der hier ru—uhestörenden Lärm verursacht? Ka—kann ich dafür, wenn die Schwe—ere die Körper nach unten zieht? Mir war aus der Vi—visage der Zwicker gefallen, und da hat die Stange da na—achgewollt. A—aber, daß Sie I—Ihre Pflicht tun müssen, ist ja selbstverständlich. Doch i—ich bitte Sie darum, be—beruhigen Sie sich damit. Wa—was einmal war, wird nicht wieder vo—vorkommen.«

Der Beamte ließ sich in der Tat von Urbans bescheidenem Wesen imponieren, und mit Rücksicht auf dessen Sprachfehler stahl sich sogar ein leises Mitleid in seine Nachtwächterseele hinein. Er ließ seinen Gefangenen los, empfahl diesem noch eine gewisse Vorsicht an im Tragen solch widerspenstiger Gegenstände und ging seiner Wege.

Der Stotterer sah ihm über die Schulter nach. Kaum daß der Polizist um die nächste Ecke verschwunden war, so knallte das, was einmal Christbaum war, zum zweiten Male auf die Erde nieder. Diesmal öffneten sich Kammerfenster in dem verschlafenen Gäßchen, und statt des einen, kamen gleich zwei Schergen der Gerechtigkeit auf den Ruhestörer los. So gut Urban nun auch stottern mochte, alles Mitleid war von den Polizisten weggeblasen, von der Straße, vielleicht sogar von der ganzen Stadt. Es half nichts, der Frevler mochte noch so unartikulierte Laute ausstoßen, er wurde mitgezogen, hingezerrt, hinaufgestoßen zum Polizeigebäude hin. Dieses war ein weitläufiger Bau, der hinter einer hohen Torüberwölbung rechtwinklig in einem Hofe stand, einem Kloster ähnlich, und aus einem solchen vielleicht auch hervorgegangen. Da derer, die hineinwollten, nur wenige waren, so hatte man den Glockenzug hochgehängt, und der eine der Polizisten mußte sich strecken, um ihn zu erreichen. Urban bekam einen Arm frei, und nun sauste abermals der Christbaum auf die Erde nieder und weckte ein jahrhundertaltes Echo in den weitgesprengten Gängen des düsteren Baues. Ein Rabe kam geflatschert, schrie zornig auf und hackte mit dem Schnabel nach des Eingebrachten Stiefeln. Das gehörte so als Selbstverständlichkeit zu den Gepflogenheiten dieser gefiederten Polizeistelle. Als aber Urban sich bückte und seinen Baumstamm wieder an sich nahm, da machte der Schwarzrock, daß er auf die einzige Laterne kam, die den Hof beleuchtete und über dem Haupteingang angebracht war, der nach den Kanzleien hinleitete.

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