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Die Mühle zu Husterloh

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6. Kapitel

Wie hatte doch das Geld in kurzer Zeit die Mühle umgekrempelt. Vor den Fenstern waren die rotblühenden Geranien verschwunden und die verbleiten Butzenscheiben waren durch große Platten Spiegelglas verdrängt, hinter denen weiße Spitzenvorhänge jedem neugierigen Blicke den Eingang verwehrten. Im Zimmer machte sich selbstbewusst ein Kanapee breit, und dort, wo früher hinter einem gewürfelten Kattunvorhang das Bett der Eltern sich schämig verbarg, stand ein klobiges Möbel, dessen Zweck eigentlich niemand begriff, ebenso wenig wie seinen Namen »Büffet«, den Röse Ricke ihm sprachkundig gegeben hatte. Auch der Uhrkasten mit seinem Insassen, einer alten bedächtig zählenden Schwarzwälderin, war verschwunden, und statt ihrer schnatterte nun ein leichtfertiges kleines Ding auf der sogenannten »Konsole« geschwätzig den Lauf der Zeit herunter.

Hinter den Dingen waren die Menschen nicht zurückgeblieben. Mutter Höhrle hatte ihren Umfang durch einen Reifrock verdreifacht und die Kinder flohen vor ihr, wie vor Goethes wandelnder Glocke. Hätten Suse und Liese die Mode mitgemacht, so konnte fast ein Glockenspiel aus dem Hause Höhrle werden. Aber sie taten es nicht, obwohl auch sie in ihrer Kleidung etwas städtischer geworden waren. Für den Alten hatte man vom Hausierer ein seidenes Halstuch erstanden, das Liese oder Suse, wenn er am Sonntag ausging, über seinem Hemdenkragen zu einem kunstvollen Knoten schürzten. Unter seinem glattrasierten Kinn bildeten die beiden, wie schwarze Ohren abstehenden Zipfel einen wirkungsvollen Abschluss. Das war alles, was von dem erhobenen Gelde dem Hausherrn persönlich zugute kam.

Auch im Stall hatte sich manches geändert. Die Esel waren ausgezogen bis auf einen, der nicht verkäuflich war, und aus den steinernen Trögen, aus denen die Genügsamen ihre Rüben genossen hatten, fraßen jetzt zwei anspruchsvolle Pferde den teuren Hafer, den ihnen der zum Pferdeknecht avancierte Mühlbaschel aufschüttete.

Als man die Mähren mit aufgebundenen Schwänzen durchs Dorf geführt hatte, war viel pferdeverständiges Volk hintennach gezogen. Auch Mordche Rimbach war dabei. Die Beine in die Knie gesunken, stand er im langen Kaftan da, hatte beide Daumen im Ärmelausschnitte der Weste, und graumelierte Haarbüschel schlüpften unter seinem schmierigen Stulpkäppchen hervor und hingen wie Heringschwänze über seine gefurchte Stirn hernieder. Während alle Welt ein Urteil fertig hatte und damit nicht zurückhielt, schwieg der Jude, und erst als die Müllerin dem Schecken über den glänzenden Rücken fuhr und seine Frömmigkeit lobte, sprach er ruhig vor sich hin: »Flieh ihn wie die Pest, denn er ist ein Bruder der Kuh.«

Dann ging er schlotternden Ganges auf die andere Seite des Gespannes und musterte den Rappen, der neben dem Schecken stand. Seine Beine wurden dabei krummer und krummer, und der ganze Hebräer glich zuletzt einem auf den Kopf gestellten Ypsilon.

»Du bist müde, Mordche,« rief ihm Vater Höhrle zu, »ich will dir einen Stuhl holen, dass du dich ausruhen kannst.«

»Sehr gütig, lass mich auf den Beinen, bis ich dir den Pferdemetzger geschickt habe,« sagte der Jude und wackelte in seinem Kaftan über die Wiese hin, seinem Hause zu.

Im Gegensatz zu Mordche Rimbach war Mutter Höhrle mit dem Pferdekauf recht zufrieden. Jetzt hatte sie, was sie brauchte. Sie konnte sonntags in die Kirche fahren, und sie hatte den Mühlbaschel, obwohl sie ihn eigentlich seiner Triefaugen wegen nicht mochte, doch so weit abgerichtet, dass er in einem Abstand vor den Damen Groß und Moos zu fahren wusste, der diesen das ausgiebigste Staubschlucken zu betrübender Notwendigkeit machte.

Am besten schnitt bei der Transsubstantiation des Hauses Höhrle der kleine Hans ab. Der Tagedieb ging nun schon eine geraume Weile in die Schule, und ob nun der Winter eine kleine Kattundecke von Schnee auf die Erde gelegt hatte, oder der Sommer etwas staubigen Puder auf die Straße, gleich musste er ins Kirchdorf gefahren oder von dort wieder abgeholt werden. Man sah die Pferde mehr im Silbergeschirr vor dem Viktoriawagen als vor dem Lastwagen, und es fehlte nur wenig und Vater Höhrle konnte seine Säcke selber tragen.

Der kleine Hans war übrigens ein guter Schüler, trotzdem er kein fleißiger war. Eine Zeitlang hielt er mit den Besten Schritt, dann ließ er nach und wurde von den Mittelmäßigen überholt, bis es ihm wieder ersprießlich dünkte zu arbeiten, um die Ersten einzuholen. So war er eigentlich bei Lehrern und Schülern gut gelitten, bei letzteren vor allem des Umstandes wegen, weil er Dackel malen konnte. Nun waren diese derart, dass sie jedem andern Tiere genau so ähnlich sahen, wie einem Dachshund, aber nachdem Hans Höhrle, der Sohn eines angesehenen Geschlechtes, gesagt hatte, es seien Dachshunde, glaubten die andern an ihn, strebten ihm nach und vor dem Titelblatt eines jeden Katechismus verlebten von jetzt ab unzählige Dackel ihr hundemäßiges Leben.

Der Pfarrer, der wusste, was die Mutter mit dem Knaben vorhatte und ihn früh zum Dienste der Kirche erziehen wollte, ließ ihn sogar zum Messedienen zu. Dieses Amt verwaltete Hans mit stolzer Würde, was ihn übrigens nicht hinderte, vor dem Hochamte den Messwein mit Inbrunst zu versuchen. Auch verstand er es, kleine Kerzenstummel wegzustehlen, um mit ihnen an Septemberabenden gräulich zugeschnittene Kürbisse zu erleuchten.

Zu Hause hatte Höhrle junior an dem zurückgebliebenen Esel einen guten Kameraden. Zur Arbeit nicht mehr angehalten, aber auch nicht mehr gefüttert, trieb sich das Tier in den Baumgärten hinter dem Dorfe herum und verschmähte weder Weißrüben noch Kohlkraut, auch dann nicht, wenn es zweifelhaft war, ob er sich auf dem Grund und Boden der Familie Höhrle aufhielt oder auf dem anderer Leute.

Hans wurde des Öfteren ausgeschickt, ihn zu suchen, und nie brachte er ihn nach Hause, ohne dass er irgendeinen Schelmenstreich ausgeführt hatte.

Mit Vorliebe holte er den einen oder anderen seiner Schulkameraden herbei und veranlasste ihn, den Rücken des Grauen zu erklettern. Dann kitzelte er den Esel, bis er den Kopf durch die Vorderbeine steckte und so seinen Reiter zwang, sich zu entscheiden, ob er über die musikalisch oder die landwirtschaftlich produktive Seite eines Eseldaseins zur Erde rutschen wollte. Beides hatte seine Bedenklichkeiten, und nicht selten kamen Mütter in die Mühle, die über zerrissene Hosen und aufgeschundene Knie ihrer Sprösslinge bitter zu klagen hatten.

Frau Höhrle nahm derlei Streiche ihres Lieblings keineswegs tragisch. Sie lachte höchstens und entließ die Ankläger mit dem Stachel des beleidigten Rechtsgefühles im Herzen.

»Euch werden wir’s einbrocken,« sagten die Leute, und sie wären lieber Hungers gestorben, als dass sie von dem Mehle der Mühle zu Husterloh gegessen hätten. So arbeitete Hans früh zum Nachteil des väterlichen Geschäftes.

Zuweilen nahm Suse den Wildfang vor und erklärte ihm: »Dass sie Liese den Auftrag geben werde, über Hansens Streiche mit dem Vater zu reden.« Der Strolch lachte und sagte höhnisch:

»Du wirst es der Liese sagen, die wird es dem Vater sagen und dann werde ich, wenn Gott will, die Prügel bekommen! Höre Suse, das ist ein weiter Umweg, da kann sich sogar ein Landbriefträger verirren. Glaubst du wirklich, Schwester, dass die Prügel an ihre richtige Adresse kommen?«

Suse musste lachen, aber sie konnte ihrem Bruder nicht Unrecht geben. Leider war die Methode, nach der man den Stammhalter des Hauses Höhrle erzog, so, dass ihm jede Unart ungestraft hinging, weil die Nemesis niemand finden konnte, der den Strafvollzug bewerkstelligen wollte. Das wusste der Bengel sehr wohl, und deshalb stellte er sich mit souveräner Würde über Gesetz und Recht. Er war angesehener Leute Kind. Er ging in die Schule, wenn es ihm gerade passte, wenn es ihm nicht passte, lag er auf dem Anger und ließ sich die Sonne in den Magen scheinen. Aus dem Nachbargarten holte er jeden Apfel, der ihm gefiel, und nur einmal, als er zur Kirmeszeit von dem Marktstand einer Zuckerbäckerin ein süßes Herrgöttle aus Lebkuchen heruntergenascht hatte, ereilte ihn die Rache. Wie’s Gewitter war die resolute Frau mit einem Staubbesen hinter ihm her, und nun bezog er in einer großen Generalabrechnung, was er sich ratenweise im Laufe der Jahre verdient hatte. Arg durchwalkt kam er nach Hause, ja er lahmte sogar ein wenig, aber all den mitleidsvollen Fragen der Seinigen setzte er ein stoisches Schweigen entgegen. Er hatte Gerechtigkeitssinn genug, um zu wissen, dass er nicht schuldlos leide, und sein von der Mutter ererbtes Selbständigkeitsgefühl ließ es nicht zu, dass ein anderer sich seiner wie eines Mündels annahm.

Auch klagte er zu Hause niemals über ein Ungemach, das ihm die Schule einbrachte. Seine Lehrer behandelten ihn wie eine kleine Respektsperson, und dieser Umstand gerade, sowie das bessere Aussehen seiner Kleider, seiner Bücher, seines Ranzens schufen ihm Gegner unter seinen Mitschülern, die nun einmal von historischen Vorurteilen nicht beschwert, kein anderes Vorrecht anerkannten, als das der stärkeren Faust. So war der kleine Hans nicht selten gezwungen, wenn seine Mitschüler die Ehrfurcht vor dem Dackelmaler vergaßen, gegen ein ganzes Rudel anzukämpfen, und er tat es ohne Empfindsamkeit mit Mut und ohne Klage, wenn er einmal den Kürzeren zog. Es übte der Verkehr mit seinen Altersgenossen auf ihn eine gute erziehliche Wirkung aus, und es hätte zu seinem Segen ruhig noch ein paar Jahre so fortgehen können, wenn er nicht eines Tages einen blutigen Hemdenkragen nach Hause gebracht hätte.

Seine sonst so starknervige Mutter, die sich in der letzten Zeit immer mehr aus dem Weibe heraus zur Dame entwickelt hatte, fiel mit erkünstelter Grazie in eine komfortable Ohnmacht auf das neue Kanapee, und als es dem Duft geriebenen Meerrettichs endlich gelungen war, sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückzurufen, überhäufte sie den unglücklichen Vater Höhrle, der mit Gelassenheit das Doppelweh von Frau und Kind zu tragen schien, mit einer Flut von Vorwürfen. Sie sprach von Rabenvätern, die mit ansehen könnten, wie ihr eigenes Fleisch und Blut von einer entmenschten, – entmenschten, – entmenschten– offenbar suchte sie hier nach einem Substantivum, das stark genug wäre, ihrer Indignation Ausdruck zu verleihen, aber sie fand es nicht, – und als nun Röse Ricke, die von der blutigen Tat Kunde bekommen hatte und herbeigesprungen war, mit »Rotte Kora« aushalf, wurde sie mit einem dankbaren Blicke belohnt, und die Müllerin seufzte tief auf, als ob ihr ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Dann aber, als ihr die hohe Würde, der ihr Sohn langsam entgegenreifte, einfiel, faselte sie von einem Sakrilegium, vor dem die blöde Menge bewahrt werden müsse, indem man den Gegenstand ihres Hasses dem Bereiche ihrer Fäuste entzöge.

 

Jetzt wusste Vater Höhrle, wohin die Wetterfahne zeigte, und er sah den Hauslehrer bereits hinter seinem Tische sitzen und mitessen, obwohl er noch lange nicht wusste, womit er ihn bezahlen sollte. Denn die Mühle ging schlechter von Jahr zu Jahr. Der Alte hatte versucht, die Qualität seines Mehles zu verbessern, um es Groß und Moos gleichzutun. Er hatte den Schälgang enger gestellt und eine hellere Farbe erzielt; aber damit hatte er die Quantität verringert, und die Bauern, bei denen Müller und Spitzbube ohnedies als gleichwertige Begriffe gelten, klagten, dass sie übervorteilt würden. Die Pferde fraßen wohl, aber sie produzierten nicht wie die Kühe, und was sie an Arbeit leisteten, nutzte ihre Kraft nicht aus und hätte billiger durch die Esel besorgt werden können. Dabei wurde Mutter Höhrle von Tag zu Tag anspruchsvoller. Ganz nach Belieben ergänzte sie Fehlendes in ihrem Hausrat und komplettierte ihn nach Laune. Die Pferde entzog sie dem Feldbau und Mühlenbetrieb durch gelegentliche Reisen, die sie machte, um sich und den kleinen Hochwürdigen bei Freunden und Bekannten in nah und fern zu zeigen.

Kaum mehr gab es in der Umgegend eine Kindstaufe oder einen Leichenschmaus, bei dem nicht Mutter Höhrle wie Bankos Geist aus der Versenkung emporstieg.

Als solch’ schwere Gewichte auf die Wage seiner pekuniären Leistungsfähigkeit geworfen wurden, sah Vater Höhrle mit Schrecken die Schale, auf der sein Haben lag, hoch in die Lüfte schnellen. Eine mit Verzweiflung verwandte Resignation erfasste ihn und lähmte seine Arbeitskraft. In die Träume seiner Nächte drängte sich eine unheimliche Gestalt mit einem blauen Streifen um die Mütze, einer kleinen Kokarde über dem Glanzlederschild und abgegriffenen Jackettaschen, aus denen gelbe Aktenkuverte vorlaut und aufdringlich hervorleuchteten –: der Gerichtsvollzieher. Am Tage sah er mehr, als ihm lieb war, den breiten Planwagen der Firma Groß und Moos, der seine Gedanken wie ein Leichenwagen auf trübe, unfriedliche Wege leitete. So wurde er immer einsamer, strich durch das Erlengebüsch seiner Wiesen mit der Sense, ohne dass er gewusst hätte, wo er mähen sollte. Am Wehr setzte er sich sinnierend nieder und sah seinem Knechte, dem Mühlbach, bekümmert in die ewig wechselnden Züge.

Da geschah’s, dass eines Tages das sinnlose Murmeln des Baches sich für das Ohr des Grübelnden zu klaren Worten formte. »Was sitzest du ratlos da«, sprach der Bach. »Hab’ ich nicht seit Jahrhunderten deinem Hause treu gedient. Warum willst du meiner Kraft misstrauen, seitdem der windige Halunke Dampf da unten im Tal sein Wesen treibt? Fasse mich fester, Vater Höhrle, dass ich an Widerständen meine Kraft erneuere! Schleudere mich tiefer hinab in den Abgrund, dass ich die Wucht des Anpralls für mich habe, und lass meinen Zorn in der Turbine wüten, und du sollst sehen, dass ich mehr kann, als feiste Forellen füttern. Hinweg mit dem trägen Umtrieb des Wasserrades, das schwerfällig wie Samson in der Mühle zu Gaza die plumpen Steine wälzt. Kleine hurtige Porzellanwalzen schaffe herbei, raschelnde, wuselige Siebe will ich dir schwingen, tausend kleine Hebel will ich dir brechen, und unruhig muss es in der Mühle werden wie in einer Schachtel Maikäfer. Folge mir, der ich die Sache kenne, Vater Höhrle. Schaffe ich nicht oben in der Papiermühle eine ähnliche Arbeit, warum sollte ich bei dir versagen?«

Das waren tröstliche befreiende Worte, und der bekümmerte Müller lauschte auf und dachte über ihren Sinn nach. Mit einem Male erschien ihm nun alles so klar, so selbstverständlich, und es war ihm fast, als ob die Ratschläge gar nicht von außen gekommen, sondern in ihm selbst entstanden wären. Ein nie geahntes Vertrauen zu der eigenen Kraft beseelte ihn. Ja, so musste es gehen. Die Mühle musste von Grund aus umgestaltet werden, dann, – dann musste sich alles – alles – noch zum Guten wenden. Vater Höhrle nahm seine Sense auf die Schulter und ging mit elastischen Schritten, fast wieder ein Jüngling, seinem Hause zu. An diesem Abend sahen Suse und Liese das sonst so trübe Gesicht des Vaters wieder einmal sonnig heiter, ohne den Grund zu kennen, und Scherz und Lieder fielen wie reife Erbsen von den Schoten aus ihren weit geöffneten dankbaren Herzen heraus. An diesem Abend war seit langer Zeit zum ersten Mal wieder das Glück auf seinem Rundgang zwischen geborstenen Hütten und morschen Heustadeln in der Mühle eingekehrt.

Am nächsten Tage schon meldeten sich allerlei Bedenklichkeiten zur Stelle. Die Sache kostete viel, und das vorhandene Bargeld hatte Mutter Höhrle mit den Pferden und sonstigem Tand vergeudet. Doch die Mühle hatte Kredit. Der Bachmüller zog sich gut an, damit er nach Wohlstand aussehen möge, und ging zum Sparkassenvorstand. Man empfing ihn höflich, aber man hielt die Truhen geschlossen. Man bedeutete ihm mit Achselzucken, dass man seiner Kreditwürdigkeit nicht misstraue, dass man aber höchst bedauerlicherweise durch Paragraphen von Statuten gebunden sei und einen Bürgen verlangen müsse.

So weit war es also. Der einst so gut stehende Müller galt für erschüttert, man brauchte einen, der ihn stützte. Die Pille dieser Wahrheit, obwohl von dem Beamten mit höflichen Worten vergoldet, war für Vater Höhrle schwer zu schlucken. Er ging mit langem Gesichte und leeren Taschen weg, und sein erster Gedanke war: »Mich seht ihr da drinnen nicht wieder.« Allein die Gewissheit, dass er sein Geschäft, so wie es bisher war, nicht weiter treiben könne, beugte den Rest seines Stolzes, und so entschloss er sich, bei seinem Schwager, der ein kleines Geschäft in Kolonialwaren betrieb, vorzusprechen und ihn um die geringe Gefälligkeit zu bitten, seinen Namen an den Fuß eines Aktenbogens zu schreiben.

Franz Schütteldich, der Bruder von Frau Höhrle, hatte in letzter Zeit zu allem, was er schon war, die Würde eines Gemeinderates erworben, sprach von Grundbüchern, Flurbereinigung, Akten und Registraturen und unterschrieb mit Fanatismus alles, was vor ihn kam. Kaum hatte er gehört, was Vater Höhrle von ihm verlangte, so zog er mit Begeisterung die Hände aus einem Schmierseifenfass, wischte die Nase an einem Handtuch und sagte: »Gleich, gleich Schwager, und warum denn nicht.«

Damit war die Sache, vor der sich Vater Höhrle so unsagbar gefürchtet hatte, in überraschend einfacher Weise erledigt. Er hatte im Handumdrehen die Kunst des Schuldenmachens erlernt. Die Quelle floss, aber niemand sollte ihm diesmal die durch Schütteldichs Wünschelrute erschlossenen Wasser über unfruchtbares Brachland leiten.

7. Kapitel

Unterdessen hatte Hans Höhrle in Gesellschaft eines Hauslehrers auf der Wanderschaft dem Salböle des Bischofs entgegen den ersten Meilenstein hinter seinen Rücken gebracht. Der Jammer der »Elend’schen« Grammatik war überwunden, und bereits warfen die großen Ereignisse des »Bellum gallicum« ihre drohenden Schatten auf des Knaben seither so sonnigen Lebensweg. Der teure Hauslehrer, der bis dato seinen lateinischen Lebensgang geleitet hatte, war nicht Stratege genug, um seinen Zögling durch einen so ohrfeigenreichen Feldzug zu führen. Das Geld war knapp und sollte der Mühle zugute kommen, und so gewann auch Mutter Höhrle die Einsicht, dass man den zukünftigen Domherrn einstweilen dem bischöflichen Konvikt in Mainz anvertrauen solle.

Der Tag, der Hansens Kinderglück abschloss, begann mit einem leichten Nebel, dessen Grau die Septembersonne mit einigen goldenen Pfeilen durchschoss. Das Bohnenlaub im Garten hatte bereits die fleckig kränkelnde Farbe des Herbstes, und die kleinen Fichtenstangen, die es getragen, lagen entlastet in Haufen umher. Das Vieh ging auf den geschorenen Wiesen, die ihr sattgrünes Sommerkleid mit einem lichtgrünen vertauscht hatten, in das die blauen Kelche der Herbstzeitlosen gar zierlich eingestickt waren. Der Wald war scheckig wie das Kleid eines Harlekin in den Fastnachtstagen.

Hans Höhrle stand am offenen Fenster, schaute in den aufdämmernden Morgen und war bemüht, sich Stück für Stück in einen neuen Anzug hineinzuzwängen. Er putzte sich zur Reise in die Bischofsstadt und zu einem anderen Zweck. Er hatte nämlich noch einige Abschiedsbesuche zu machen und darunter einen, der ihm sehr wichtig war. Hans Höhrle wäre kein ganzes »Röhrle« gewesen, wenn er nicht neben seinem Hang zum geistlichen Stande noch eine andere fromme Neigung gepflegt hätte. Ihn zog es, man kann nicht genau sagen seit wann, zu einer kleinen Agnes hin, der er beim Suchen von Haselnüssen zuweilen die ringelnden Locken aus dem garstigen Reisig gelöst hatte. So mag es gekommen sein, dass ihr lieber Kopf mit den haselnussbraunen Augen zwischen seinen Händen ihm wie ein artiges Spielzeug vorkam, das er nach Laune drückte und herzte. Agnes, weniger Kind als er, war betroffen von dieser weitgehenden Art der Spielerei und hatte schon das Bewusstsein, eine Unschicklichkeit geduldet zu haben. Sie ließ verstimmt das Köpfchen hängen. Das rührte den Hans Höhrle, den seine Sünde nicht genügend reute, als dass er nicht deren Wiederholung wünschte. So wusste er sich denn zu helfen. Er kehrte den Biedermann heraus und erklärte, dass Agnes von jetzt ab im stillen seine kleine Frau sei, bis er in die Lage käme, sie durch ein lautes »Ja« vor aller Welt zu einer solchen zu machen. So gewann er fast das Recht des Nießbrauches, und was einmal geschehen war, geschah öfters. Bald fand Agnes Geschmack am kindischen Getändel, schlug die kleinen Hände ineinander, dass es klang wie das Jauchzen der Kastagnetten, und hing sich hilfesuchend an seinen Arm, wenn es im wilden Lauf durch Hecken und über Gräben ging. Doch zuweilen war sie ernster, besann sich auf ihre neuen Pflichten, schritt sittsam neben ihm her und entdeckte, dass an seiner Weste ein Knopf fehlte und dass ein anderer nur noch an wenig Fäden hing. Auch musterte sie altklug mit dem besorgten Blicke einer sparsamen Bauersfrau die Kartoffelfelder und sprach nicht ohne Kummer von den schlechten Aussichten für die Kraut- und Bohnenernte. Derartige Bemerkungen beruhigten den Knaben, weil sie ihm die Sicherheit gaben, dass er dereinst eine sparsame Gattin haben werde. So lebten sie im Frieden dahin. Seitdem es aber im Dorfe bekannt geworden war, dass Hans nun auf die Schule käme, um sich vorläufig zum Pfarrer und dann zum Bischof weihen zu lassen, war Agnes zurückhaltender. Gewiss teilte sie nicht die blöde Ansicht des Bauernvolkes, dass einer, der mehr lernt als seinen Namen schreiben, nun unbedingt ein »Hochwürden« werden müsse, aber sie ahnte mit dem feinen Instinkt des Weibes, dass Hansens fortschreitende Bildung einen Graben zwischen sie beide wühlen würde, den sie dann nicht mehr überspringen könnten. Schon dass er wiederkehren und hochdeutsch reden sollte, war ihr ein widerwärtiger Gedanke.

Sie zog sich von dem Höhersteigenden scheinbar zurück. Sie schmollte. Sie begünstigte in auffallender Weise wohl einmal einen anderen Knaben, ließ sich suchen und nicht finden. Dies alles war dem Hans nicht entgangen, und er fürchtete um seinen Besitz. Nach wenigen Stunden schon legte sich zwischen sie und ihn ein Kilometer nach dem anderen. Das gab einen weiten Spalt, in den sich bequem ein anderer lagern konnte.

Einer derartig betrübenden Möglichkeit musste Hans zuvorkommen. Noch einmal wollte er die sprechen, aus deren Augen jene schmelzende Glut geflossen war, die seine Kinderseele entflammt hatte. Er wusste, dass sie drüben hinter den Haselsträuchern bei den Kühen ihres Vaters zu finden war, und dahin eilte er jetzt. Bald erblickte er sie sitzend zwischen den Zweigen des Unterholzes auf dem weißblühenden Teppich des Hasenklees, seine seitherige kleine Frau. Sie hatte das müde Braungrün hinsterbender Buchen- und Brombeerblätter zu einem melancholischen Strauß gebunden und schien auf jemanden zu warten, dem sie ihn geben könne. »Agnes!« rief Hans. Das Mädchen fuhr zusammen, erhob sich, kam näher und blieb doch wieder befremdet stehen, als sie den Freund in dem neuen modischen Anzug sah. Sie ahnte, dass von jetzt ab wie mit dem äußeren, so mit dem inneren Menschen ein Wandel vor sich gehen werde. Umsonst war’s, dass Hans ihr beteuerte, nicht jeder, der durch ein Gymnasium gedrückt werde, brauche mit geschorenem Schädel herumzulaufen. Umsonst, dass er ein Dutzend Jahre vorüberziehen ließ wie einen flüchtigen Kranichzug. Umsonst, dass er ihr von allem Geld und allen Ehren, die er auf sich zu häufen gedachte, ein gutes Teil versprach. Es half alles nichts. Ihr schönes nachdenkliches Gesicht wiegte sich gedankenvoll von einer Schulter zur anderen, ihr Auge schweifte geängstigt ins Weite, ihre Pupille wurde größer und größer, als ob sie einem nachsehe, der kleiner und kleiner wird und in der unendlichen Weite des Weltenraumes für sie wenigstens verschwindet. Stumm reichte sie ihm noch einmal die Lippen zum Kusse, befestigte den Blätterstrauß mit dem verbleichenden Grün der Hoffnung an seinem neuen Rocke und floh wie vor einem ihr fremd gewordenen Menschen aus dem schützenden Waldesdunkel hinaus in die zwinkernde Helle eines vielversprechenden Septembermorgens.

 

Hans sah die liebe Gestalt von goldglänzenden Nebelschleiern umflossen vor sich fliehen, und ihm ward traurig zumute, zum ersten Mal in seinem Leben. Er fing an, sich vor der Weite zu fürchten, in der er nichts bedeuten und so leicht sich spurlos verlieren konnte, und heimwehkrank ging er, seinen Strauß unterm Rocke verborgen, dem Dorfe zu.

Das Herz war ihm schwer, und er wäre am liebsten einsam geblieben. Das ging nicht an. Da war der Onkel Schütteldich, Inhaber der Firma Knuff und Schütteldich, Gemeinderat und Bürge für gar manchen, der aus dem Vorschussverein etwas herauspressen wollte. Er wohnte so gelegen, gerade nebenan der Sparkasse, er galt für wohlhabend, und es schmeichelte ein wenig seiner Eitelkeit, wenn er mit der Zugkraft seines klangvollen Namens das steife Geld der Kasse ins Rollen bringen konnte. Er freute sich, wenn er andere und anderes sich bewegen sah, der eigenen Ruhe, denn er war von unüberwindlicher Faulheit. Er war Junggeselle geblieben, weil er die Anstrengung des Heiratens fürchtete. Sein Geschäft betrieb er von einem dreimal reparierten Ledersofa herunter mit der Spitze einer langen Pfeife. Wer einen Hering verlangte, legte das Geld auf den Ladentisch und bequemte sich nach der Ecke, die Schütteldich mit seiner Pfeifenspitze ihm bezeichnete. Dort fand er, was er suchte. Kam einer, der etwas kaufen wollte, was gewogen werden musste, so lud ihn Onkel Schütteldich ein, neben der Schmierseifentonne Platz zu nehmen, bis noch einer käme. Wegen eines einzigen Geschäftes aufzustehen, dazu war er nicht zu bewegen.

In halb liegender Stellung traf ihn unser Hans auf dem Ledersofa und erklärte ihm in Kürze, dass er gekommen sei, um Abschied zu nehmen. Schütteldich blies aus seiner Pfeife einige Frage- und Ausrufezeichen in die Luft, als ob er sagen wollte: »Wohin? – Und was soll aus diesem Kinde werden?«

Der Knabe beantwortete diese Wimpelsignale prompt: »Ich soll ein Geistlicher werden, Onkel, und soll fort nach der Bischofsstadt.«

»Du, ein geistlicher Herr?« lachte Onkel Schütteldich. »Höre, mein Junge, dein Onkel ist auch nicht allwissend, aber das kann er doch prophezeien, dass du eher an die Mondsichel einen Stiel drechselst, als den Weihwasserpinsel schwingst. Wo warst du übrigens heute morgen schon, verliebter Kakadu, bevor du zu mir kamst?«

Hans errötete und schwieg.

»Ich will dir was sagen. Von der Dachluke unseres Hauses hat man eine schöne Aussicht, und ich, dein Onkel, weiß, dass du mit einem schelmigen Buben verkehrst, der Agnes heißt.«

Dem derart gefolterten Knaben lief eine Purpurröte bis unter die Haare, und er stammelte verlegen: »Du wirst doch schweigen können, guter Onkel!«

»Ich«, sprach dieser, »ich kann unverschämt schweigen jedem anderen gegenüber. Dir aber sage ich: Überlass den langen Rock anderen Leuten, die krumme Beine haben! Gewiss, ich sage nichts gegen den Priesterstand. Schon seine bequeme Zeiteinteilung: Ein Werktag und sechs Sonntage, gefällt mir sehr. Aber, Hans, das Zölibat, das Zölibat, und die Mädels und die Mädels!«

Und Onkel Schütteldich lachte verschmitzt wie einer, der viel erzählen könnte, wenn er wollte. Es gehörte so zu seinen kleinen Schwächen, durchscheinen zu lassen, dass er nicht aus Mangel an Auswahl Junggeselle geblieben sei, sondern weil die Größe des Angebots seine Kaufkraft überstieg.

Nachdem Onkel Schütteldich eine Zeitlang mit verschlagenem Zwinkern vor sich hin gelacht, wendete er sich um, so dass er auf dem Bauche lag, und begann mit der Linken unter dem Sofa zu wühlen. Es dauerte nicht lange, und er beförderte einen alten Krug ans Tageslicht, der mit einem halben Holzdeckel notdürftig verschlossen war. Aus dem Kruge entwickelte er nun wie aus einem Zauberkasten eine schier endlose Strumpflänge, aus dieser einen Lederbeutel und aus diesem einige schier erblindete Taler.

»Die sind für dich«, sagte er. »Die Herren in der Stadt verstehen nur den Leuten den Kopf zu füllen und lassen den Magen leer. Wenn du die gesunden Sinne deines Onkels geerbt hast, dann wirst du riechen, wo der Metzger wohnt, und wirst hören, wo man den Teig in der Backmulde schlägt. Wenn sie dich hungern lassen, wirf die Bücher in den Rhein, komm hierher, heirate Agnes und übernimm deines Schwiegervaters Hotel ›Zum Weltschirm‹. Damit Gott befohlen!« sagte Onkel Schütteldich, qualmte und verschwand wie Israel hinter der Wolkensäule im grauen Dunste einer Tabakswolke.

Kaum hatte Hans Höhrle den Laden seines Onkels verlassen, als er dem würdigen Pfarrherrn begegnete, der, sein Brevier betend, gerade aus der Frühmesse kam. Der alte Herr steckte das braune, abgegriffene Büchlein in die Hintertasche seiner Sutane und nahm den Jungen bei der Hand.

»Du willst Abschied nehmen, um aus unseren Bergen in die Welt hinauszugehen. Komm mit, ich will dir Gottes Segen mitgeben und noch was anderes.«

Derweilen hatten die beiden die Schwelle des Pfarrhauses überschritten und standen vor dem übervollen Büchergestell des alten Herrn, der sich streckte und zwei mächtige Folianten mit vergoldetem Lederrücken herunterholte. Liebevoll wiegte er sie in seinen wohlgepflegten Händen und sah dem Knaben stramm ins Gesicht. »Siehst du,« begann er, »dies ist die Strickleiter, an der schon gar mancher zu hohen Ehrenstellen in Staat und Kirche emporgestiegen ist!«

Da er das Wort Kirche etwas scharf betonte, so sah Hans, der wegen der Agnes kein gutes Gewissen hatte, etwas betreten zur Seite.

Der geistliche Herr merkte das nicht, denn er hatte die Einbanddecke umgeschlagen und las: »Taschenwörterbuch der Lateinischen Sprache von Georges.« Hans erschrak und suchte im Geiste den gewaltigen Umfang dieses Buches mit dem Kosenamen Taschenwörterbuch in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Der Pfarrer aber drehte plötzlich nach vorn um und las dem Knaben eine schier endlose Namensliste von Leuten vor, die das Buch vordem besessen. Da waren Männer verzeichnet, die es zum Regierungsbauinspektor, Steuerperäquator, Kanzleirat, Rechnungsrat, Dompraebendenten usw. gebracht hatten. Kurzum, das Vorblatt des Buches war das reinste Pantheon, in dem illustre Menschen aller Art beigesetzt waren. Indem der Pfarrherr dem Knaben die letzte Seite des Buches vor Augen hielt, ließ er sich von diesem bestätigen, dass auf dieser keinerlei weder Gedrucktes noch Geschriebenes zu finden sei. Hans konnte dies mit gutem Gewissen tun, und der Pfarrer fuhr fort:

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