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Die Mühle zu Husterloh

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33. Kapitel

H

ans Höhrle, eine Pflanze, die in fettem Boden aufgewachsen, war noch kein sturmtrotzender Baum geworden. Sein Charakter hatte etwas weichlich Wetterwendisches. Wohl konnte irgend eine Regung seines Herzens sich im Moment zu rascher Tat umsetzen, aber alles, was in der Ferne drohend vor ihm stand, fand ihn mutlos, verzagt und geneigt, aus der Arena auszubrechen. Hans hatte eine ängstliche Vorahnung, dass das Haus des Hopfenchristen, wie man Herrn de Lerée im Börsencafé nannte, sein Verhängnis werden könne. Jenes Schweigen auf der Klavierbank an der Seite der Hausfrau, welchen Sinn konnte es nur haben? Erwartete die Dame seinerseits ein kleines offensives Vorrücken, oder beabsichtigte sie selber aus der Defensive herauszutreten? Solche Gedanken waren es, die unsern Freund die Mittagsglocke überhören ließen, und das Zirkuspferd wieder in die Manege trieben, immer um die Stadt herum, bis sein Vorsatz, dem Hause der Grobheit und des Schweigens fern zu bleiben, genügend befestigt schien.



Ein Briefträger außerdem, der mit einer Hand voll Briefen eilig auf sein Haus zuging, drückte das Barometer seiner Aussicht wieder etwas in die Höhe und versprach auf Jahre hinaus erträgliches Wetter. Aus der schwarzen Tasche an der Seite dieses Engelsbildes war schon manches herausgekommen, was eine kritische Situation gelöst hatte. Warum sollte er verzweifeln? Auf seinem Stehpult konnte ein Dutzend Offerten liegen, eine glänzender als die andere. So dachte er, aber er ging doch an seiner eignen Haustür vorbei. Musste unbarmherzig eine Illusion zerstört werden, so hatte dies noch Zeit bis zum Abend.



Die Tagesstunden verbrachte er mit ziellosem Wandern durch die Nachbardörfer. Der Abend überraschte die Mutter Erde mit einem kalten Sprühregen, ohne dass sie sich dagegen mit einem Regenschirm wehren konnte. Die Menschen konnten das, bis auf unseren Hans, der ohne Schutz durch die Nässe ging. An der Pumpe vor seinem Hause standen die Stumpfröcke, die man nur en gros lieben konnte oder gar nicht, weil es unmöglich war, die eine von der anderen zu unterscheiden. Sie sahen sich ähnlich, wie eine Carodame der anderen. Sie rochen auch gleich, alle ein wenig nach Zwiebelschalen. Sie standen da mit nackten Armen. Was kümmerte sie der kalte Regen! Von der Haut nach innen gezählt, war alles wasserdicht an ihnen. Sie lachten, wie sie schon hundertmal gelacht hatten und wie sie immer lachten, wenn Hans vorüberging. Der Student sah heute genauer hin wie sonst wohl.



Seit Agnes sich von ihm gewandt, war in seinem verwitweten Herzen Platz für ein anderes Weib. Er grüßte mit einem vertraulichen Kopfnicken, wie man einen grüßt, den man genauer kennt, und erregte unter den Mädchen ein verwunderliches Knuffen und Stoßen, weil keine der anderen traute und jede ihre Nachbarin im Verdacht hatte, dass sie mit dem Studenten bereits da sein könne, wohin sie doch selber wollte. Hans fühlte, dass man hier seinen Groschen für voll nahm und freute sich dessen.



»Wer von einem guten Frühstück kommt, widersteht leichter den lockenden Gerüchen eines Diners,« dachte er, und er nahm sich vor, in den nächsten Tagen mit einer von den Drallen ein wenig anzubandeln. So ein kleines Verhältnis konnte ein Panzerhemd werden in künftigen Gefahren, die unsicher, aber doch ängstigend vor seiner Seele standen, wenn am Ende doch nichts anderes übrig bliebe, als bei Frau de Lerée anzunehmen?



Er ging die Treppe hinaus und öffnete die Tür. Einige geknickte Lichtpfeile der Straßenlaterne schossen ihm von der lackierten Platte seines Stehpultes entgegen. Das war angenehm, denn es gab eine vorläufig orientierende Helle, bis ein Streichholz gefunden war. Als dieses brannte, war leider nichts zu erkennen, als ein einziges kleines Kuvert mit magerem Inhalt. Hans hielt es unter die Nase. Es roch nach Pech und Sohlleder. Das fehlte noch in diesem Augenblick, wo er gehofft, dass sich sein Schicksal zum Guten wenden müsse, eine Schusterrechnung! Verdrießlich stützte er den Ellbogen auf das Stehpult, legte den Kopf in die Hand und starrte auf das Spiegelbild der Straßenlaterne, das ihm aus dem schwarzen Glanzlack entgegenzwinkerte.



Wohl hörte er, wie das Lachen der Stumpfröcke lauter und zudringlicher wurde, wie die Henkel klapperten und die Kübel herausfordernd aneinander stießen, als hätten die Mädel seine Gedanken von vorhin erraten und erwarteten heute noch eine Entscheidung.



Für Hans war diese durch die Schusterrechnung in weite Fernen gerückt, aber Frau de Lerée kam wieder näher und der Geldsack des Hopfenchristen. »Was wird anderes übrig bleiben, ich muss leben,« sagte er und kroch in seinen Alkoven hinein. Im Traume stand das schöne Weib vor ihm mit glühenden Augen, die nach einer Seele suchten, der ihren verwandt, nach einem Manne, der begriff, dass sie eine in goldene Ketten geschlagene Sklavin sei, und der hochherzig genug war, sie zu befreien.



Alles, was jemals durch die Lektüre Rousseaus, Walter Scotts und Jean Pauls an Romantik in die Seele des Jünglings eingezogen war, nahm in jener Nacht Gestalt an, kämpfte, siegte oder ging triumphierend unter. Hans war der Mittelpunkt einer schier unglaublichen Donquichotterie.



Am nächsten Morgen regnete es immer noch, und das war gut. Hans brauchte nur den Kopf zum Fenster hinauszustrecken, und er hatte eine kalte Dusche, die sein fieberhaft erregtes Gehirn etwas abkühlte und seinen Gedanken die Richtung ins Reale gab. Am Gewicht der Hose beim Ankleiden bemerkte er, dass sein Reichtum seit gestern früh sich abermals vermindert hatte. Das war in hohem Maße bedauerlich, zumal zu befürchten stand, dass am Fuße der Schusterrechnung sich ein Autogramm des Meisters Draht finden könne, das den gestrengen Universitätsrichter wie Bankos Geist aus einem Brunnenschacht von Aktenbündeln steigen ließ.



Hans wich dem uneröffneten Kuvert mit banger Scheu aus, vollendete seine Toilette, und trug seine Zweifel zur Abwechslung einmal in die Krankensäle des Spitals. Da lag einer, der im Begriff war, der Menschheit im Allgemeinen und Schuster- und Schneiderrechnungen im besonderen Lebewohl zu sagen. Neben ihm auf dem Nachttische stand in einem Glase noch ein Restchen Rotwein, das hätte er noch trinken können, aber er wollte es nicht. Es sollte nicht heißen, dass er gar nichts zurückgelassen hätte. Einige Fliegen umschwirrten den Nachlass. Der Mann hatte nichts dagegen. Er lag mit gleichgültigem Gesichtsausdrucke und geschlossenen Augen da. Zuweilen holte er rasch nacheinander tiefe Atemzüge ein, als ob er sich für eine Weile mit Sauerstoff verproviantieren wolle, dann stockte das Respirationsgeschäft, um bald darauf mit großer Energie aufs Neue einzusetzen. Von den anderen Betten her waren ängstliche Blicke nach dem Sterbenden gerichtet. Mancher Kranke hatte sich aufgesetzt und blickte empört um sich, weil jemand wagte, in seiner Gegenwart zu sterben. Hans trug eine spanische Wand herbei und rahmte damit dem Abschiednehmenden sein Teil am Erdenrund noch enger ein. Auch dagegen hatte der Sterbende nichts. Wären alle Herrscher, vor denen seit Adams Tagen die Menschheit gezittert, an ihm vorbeigezogen, er hätte nicht einmal mit dem Finger das grüne Zeug in dem Holzrahmen verschoben, um sie anzusehen.



Hans konnte sich von dem Anblick des Sterbenden nicht trennen. Ihn hielten die Rätsel des Lebens, das »wie« und das »warum«. Welten, die einst vor diesen Augen gefunkelt, waren in nächtliche Abgründe gesunken, waren nicht mehr vorhanden. Mochten Planeten mit grässlichem Donner sich zu Staub zerreiben, diesen Ohren flößten sie keinen Schrecken mehr ein. Noch zwei, drei rasche Atemzüge, dann war der letzte Bedarf an Luft gedeckt.



Niemand mehr hatte die Konkurrenz des Toten von jetzt ab zu fürchten. Aber wer und wozu hatte man den Armen in die Welt geschickt? Etwa damit er das »wie« begreife? Dann waren die Schmerzen seiner Mutter und die seinen umsonst ausgegebenes Lehrgeld. Daran arbeitete ja auch Hans, aber er war nicht weit gekommen in der Erforschung der Weltenrätsel. Wenn er nur wenigstens das Sterben lernen möchte, um seine Sache so still zu machen wie der, der hier vor ihm lag. Hans war so niedergeschlagen heute und fühlte in sich ein geheimes Grauen, aber nicht vor dem Tode, sondern vor dem Leben und dem, was es ihm noch bringen mochte.



Als der junge Mediziner aus der Klinik ging, dachte er nicht mehr an die Stumpfröcke und an die Gefahren, die im Hause des Hopfenchristen seiner warteten, erst recht nicht. Er hatte der Majestät des Todes ins Auge geschaut. Das Misstrauen gegen sich selber war verschwunden, und ein starkes Pflichtgefühl war wieder einmal erwacht. Der Vater und Suse, so klang es aus der Tiefe des Herzens herauf, und doch, und doch!! Zwei Tage später stand Studiosus Höhrle der Frau de Lerée zum zweiten Male gegenüber.





34. Kapitel

E

s ging gegen Abend, und ein ungestümer Wind trieb erbsendicke Hagelkörner wider die Fensterscheiben, als Hans wieder einmal neben seinem Zögling auf der Klavierbank saß. Und es war gut, dass alles so war, wie es war.



Während der Sturm seine »Lieder ohne Worte« spielte, spielte das Fräulein einen Trauermarsch im Galopptempo. Während ihre Blicke dem Schauspiel der Natur vor den Scheiben aufmerksam folgten, verwechselten ihre Finger Dur und Moll in reizvoller Ungebundenheit. Es war ein Glück für den Kandidaten Höhrle, dass ein Teil der Dissonanzen, die schmerzvoll aus dem Klavier geboren wurden, in dem großen Klagen unterging, womit der Wind die leeren Gänge des stillen Hauses füllte. Gleichwohl traf von musikalischen Unmöglichkeiten noch so viel an das Trommelfell unseres Freundes, dass dieses, ohne die Dämpfung von außen, geplatzt wäre, und dass Hans mit Grausen an ein weiteres Zusammenleben mit diesem Flügel und mit diesem musikalischen Ungetüm dachte. Zu dem Überfluss an Mangel von Talent gesellte sich bei seiner Schülerin auch noch eine geradezu ideale Trägheit und eine beneidenswerte Gabe, mit den Füßen zu verderben, was sie allenfalls mit den Händen gutgemacht hatte. Alles, was Hans an musikalischen Unterweisungen seither aufgebracht hatte, war in das Fass der Danaiden geschöpftes Seifenwasser. Wäre der Samstag mit seinen Goldstückchen in rosa Seidenpapier nicht gewesen, der Vielgequälte hätte dem Andenken seiner Mutter gegrollt, die einst den Knaben aus der Gesellschaft der Mühlesel ans Klavier gezwungen hatte. Allein, das Gebot der harten Notwendigkeit, der Umstand, dass er sich seinen Unterhalt selber verdienen musste, zwangen immer wieder seine unbezahlten Stiefel bald durch den Schmutz, bald durch den Schnee, die in stimmungsvoller Abwechslung die Straßen füllten, nach dem stillen Hause hin und an dem Rätsel vorüber, das, ans Geländer des Treppenhauses gelehnt, von dem Hauslehrer den Wegezoll eines freundlichen Blickes erhob.

 



Doch zuweilen gab es auch ein interessanteres Intermezzo. Wenn die Range absolut nicht gewillt war, sich im Reich der Töne quälen zu lassen und Kopfweh oder eine andere imaginäre Krankheit vorschützte, dann ereignete es sich wohl einmal, dass die gnädige Frau neben dem Kandidaten Platz nahm und ihre Seele mit der seinen in harmonische Gefilde entschweben ließ. In solchen Augenblicken war das junge Weib nicht mehr die Dame mit der vornehmen Zurückhaltung, sie war Hansens Gespielin, sah ihm mit Vertraulichkeit fordernder Naivität tief in die Augen und duldete leutselig, dass er seine ermüdete Hand auf ihrem Knie ausruhen ließ. Näher, als durch den Zwang des Notenlesens bedingt war, saß sie an seiner Seite. Hans fühlte die Wärme ihres Körpers, fühlte, wie ihr Arm tastend an ihm niederglitt, wie sich ihre Hüfte verlangend an ihn schmiegte. Hans bebte, zitterte, wollte kühn sein und wagen, wurde wieder mutlos und fürchtete sich vor dem Augenblick, wo das Weib sich selbst vergessen könne, und sehnte ihn doch mit allen Kräften seiner Seele herbei. Der Zweifel schon, geliebt zu werden von einer Dame, an der Hunderte begehrlich emporsahen, schmeichelte seiner Eitelkeit, und die Gewissheit gar, hätte ihn vor sich selber zu einem lorbeerbekränzten Triumphator gemacht. Aber nichts von alledem, was geschehen konnte, geschah. Nach einer Weile lagen beide spitzenumrahmte Hände der Dame müde in ihrem Schoß, ihr Kinn sank auf die Brust. Hans mochte sich einbilden, dass ihre Lider eine Träne zerdrückten, gesehen hat er es nie. In Augenblicken des qualvollsten Grübelns bewog ihn öfters ein mahlendes Geräusch hinter seinem Rücken, sich umzuschauen. Die musikalische Range stand hinter ihnen und kaute Äpfel. So endete mehrmals recht prosaisch, was anfangs so poetisch sich anließ.



In den langen Wintermonaten wechselte draußen das Wetter, und im Salon der Frau de Lerée die Zimmerdekoration. Über den November und die erste Hälfte des Dezember halfen die Dahlien hinweg, dann kamen blühende Alpenveilchen und Kamelien. Im März streckte der Krokus in dem milderen Klima zwischen Vorfenster und Fenster seine blauen, weißen und gelben Köpfe hervor. Bald aber überwuchsen diese Kelche die krausen Blütenkolben der Hyazinthen und verurteilten sie zur Bedeutungslosigkeit. Der April brachte laue Tage und lockte im Freien aus den Aprikosen- und Pfirsichreisern den Blütenschnee. Der Wind stieß zuweilen in die Straßen herein und warf auf das Pflaster Haufen weißer und rosa Blütenblätter, die aussahen wie Konfettiwürfe verflogener Maskentollheit.



Hans ging in dem warmen Sonnenschein dem stillen Hause zu, etwas fröstelnd bei dem Gedanken an den feuchten Schatten des Stiegenhauses, der sich all die Wintertage hier so oft über seine Schultern gelegt hatte. Langsam stieg er die Treppe empor, langsam schritt er an dem Rätsel vorüber, er hatte Zeit. Die musikalische Range konnte vor sechs Uhr nicht aus der Schule zurückerwartet werden. Er trat in den Salon. In einer hellen Frühjahrstoilette traf er die gnädige Frau auf dem Sofa, einen Finger vergraben zwischen den Blättern eines Buches. Hans setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl. Vor ihm in der Luft spielte ein kleiner, gelber Schuh in einem zarten Spitzengehege von Unterröcken, die einen zweiten gelben Schuh bald zeigten, bald versteckten. Es war, als ob man in den Kelch einer Lilie hineinsehe, so weich, so duftig, so keusch.



»Und auf dem Grunde dieses Blumenkelches liegt ein Geheimnis, das lockende Geheimnis von dem Weiterleben der Arten.« Das war der Gedanke, der dem kundigen Anatomen in diesem Augenblicke prickelnd durch das Gehirn stach und seine Sinne verwirrte.



Es war kein Zeichen von guter Lebensart, dass Hansens Blicke an den Schuhen hingen, aber er konnte die Augen nicht abwenden, und sein Gegenüber tat nichts, um ihm das neckende Schauspiel zu entziehen. Nur eine flammende Röte, die ihr ins Gesicht stieg, verriet, dass sie wusste, wo die Gedanken des jungen Mannes weilten. Im Übrigen schien um ihre Augenbrauen eine schmerzvolle Melancholie zu lagern, so tief, so abgrundtief und schwarz, dass keiner Nächte Dunkel mit ihr vergleichbar war. Fast anbetend saß der junge Mann vor diesem Heilgenbilde und wäre wohl versteinert, und säße zum Leidwesen einer Heiligen noch dort, wenn nicht der Himmel ein Einsehen gehabt hätte und mit einem Donnerwetter dreingefahren wäre.



Was aus der drohenden Gewitterwolke über dem Städtchen zwischen die Häuser niederfiel, war einer jener kurzen, bellenden Töne, wie sie den Dieb überraschen, der mit der Hundehütte nicht gerechnet hat. Jedermann, der inmitten geheimnisvollen Schweigens diese kläffenden Laute hört, glaubt in den Boden sinken zu müssen. Frau de Lerée war ein Weib. Sie tat das Gegenteil von dem, was Männer tun. Sie sprang auf und hing hilfesuchend an dem starken Arm ihres Hauslehrers. So schmiegt sich die Efeuranke schmeichelnd an den Eichenstamm, und weiß doch, dass sie ihn erwürgen wird.



Wie lange das Gewitter dauerte, das damals in der kleinen Universitätsstadt Haus von Haus durch einen Gießbach trennte, alle Nachbarschaft aufhob, und nur Frau de Lerée und Hans Höhrle einander schuldvoll näher brachte? Gerade so lange, als Fräulein Wendtland, die Dame mit den Schulregeln im Gesicht, in der Pestalozzistraße, ihre höheren Töchter unter ihrem Dache zurückhielt, zum Ärger aller Putzmacherinnen, die aus dem Platzregen einigen Vorteil ziehen konnten.



So verließen Hans Höhrle und Fräulein de Lerée zu gleicher Zeit das schützende Obdach und traten hinaus in den Abendsonnenschein, der in glänzenden Garben aus den zerrissenen Gewitterwolken brach und die windschiefen Giebel der alten Fachwerkbauten vergoldete. Lehrer und Schülerin hätten sich begegnen können, begegnen müssen, wenn der Kandidat der Medizin noch das gute Gewissen mit sich getragen hätte, wie vor einer Stunde. So aber stieß die Schuld wie ein gebieterischer Schutzmann ihn weg vom Bürgersteig und trieb ihn durch enge Gassen mit Fenstern, die zur Erde herunterreichten und dem Passanten den Einblick in Spelunken durch Grünzeug und verstaubte Schnapsflaschen wehrten. Hans Höhrle wich dem Blick der ehrlichen Menschen aus, weil er immer in ein Gesicht sehen musste, das ihn wie die tragische Maske seines Schicksals angrinste.



Als er nämlich die Korridortür des stillen Hauses hinter sich schloss, da stand am Treppengeländer, da wo es immer stand, das Rätsel mit süffisantem Lächeln und Augen, aus denen der Neid und alle sechs anderen Todsünden vergiftete Pfeile schossen. Hans fing alle diese schneidigen Spitzen auf, und mit Schrecken begriff er, dass die Türen Schlüssellöcher haben, und dass die Parze da mit ihren gelben Zähnen seinen Schicksalsfaden durchbeißen konnte.



Hans trat mit den Absätzen fest auf das Pflaster auf, er verlangte nach Geräuschen. Die Stille ängstigte ihn. Dass es außer der Stimme seines Gewissens noch andere Laute auf der Welt gab, schon diese Entdeckung verlieh ihm etwas Sicherheit wieder. Er begrüßte deshalb auch die Dissonanzen einer Drehorgel, die ein Stelzfuß vor den Fenstern weiterschleppte, wie eine Ablenkung auf andere Bahnen und warf ein für seine Verhältnisse reich bemessenes Almosen in den Zinnteller des Krüppels. Zu Hause angekommen, öffnete er die Fenster seiner Bude und ließ den Geruch der dampfenden Erde herein und das Lachen der Stumpfröcke, die sich an der Pumpe des Frühlingsabends freuten. Der Gedanke, dass sie ähnliches zu bereuen haben möchten, wie er, und doch lachen konnten, beruhigte ihn etwas. Wo viele auf der Anklagebank sitzen, ist der einzelne weniger schuldig.



Nach einer Weile spornte ihn ein gewisser Trotz gegen das, was er vor sich selber eine kindische Furcht nannte. Er warf den Hut in die Ecke, setzte die Mütze auf und eilte in den Kreis der Genossen. Der Wächter, der die erste Stunde des neuen Tages auf dem Kuhhorn blies, sah ihn mit Kopfschütteln schwankenden Schrittes nach Hause zurückkehren.



Der nächste Morgen brachte unserem Freunde den Januskopf eines zweifachen Katers und folgenden Brief seiner Schwester Suse.



»Mein lieber Bruder Hans!



Welch großes Glück ist es doch, dass Du bei edel denkenden Menschen Gelegenheit gefunden hast, Deinen Unterhalt zu verdienen. So wird der Rest Deiner Studienzeit herumgehen, und Du wirst durch die Arbeit Deines schönen Berufes die letzten Tage unseres Vaters mit Sonnenschein füllen. Um uns brauchst Du zunächst nicht besorgt zu sein. Es gibt eine liebende Vorsehung, von deren gütiger Hand auch wir geführt werden. Denke Dir, der Mordche Rimbach war bei uns und hat unser altes Zinn, Kannen, Schüsseln und Teller um eine Summe gekauft, mit der wir unser Leben auf lange hinaus fristen können. Vater zögerte, das Geld anzunehmen, so viel war’s, doch Mordche Rimbach sagte:



›Stuss, ich kaufe für einen Liebhaber. Wie die Motte den alten Filzhüten nachkriecht, so gibt es Narren, die nach altem Zinn suchen. Wer kann dafür, dass die Hühner Maikäfer fressen,‹ und er zählte das Geld auf den Tisch und ging.



Und noch etwas. Klaus Priester kam in der Dämmerung und brachte uns den quittierten Holzabfuhrschein.



›Der Brunnen des Glücksritters ist bald ausgeschöpft,‹ bemerkte er. ›Nun handle ich nach dem Wort der Bibel: ‚Erwirb dir Freunde mit dem ungerechten Mammon’, denn bald wird es heißen: ‚Klaus, die Beine auf die Pritsche und wieder ans Hosenmachen’. ‚Gut, dass dies Luderleben ein Ende nimmt‹’. Die einzige, die mich in dem Schiffbruch dauert, ließ er so nebenbei fallen, ist die arme Agnes.‹



Das ist’s, Hans, was ich Dir schreiben wollte. Du siehst, wie der Finger Gottes Deinen und unseren Lebensweg vorzeichnet. Übersieh die zarte Linie nicht, lass sie die Leuchte Deines Fußes sein, und wir alle werden zu einem freundlichen Ziele gelangen. Ich bin voll froher Zuversicht, und nur der Umstand, dass Vater öfters kränkelt, erfüllt mich zuweilen mit Sorge.



Nun lebe wohl, lieber Bruder, und vergiss nicht, dass Du der Deinen letzte Hoffnung bist.



Deine Schwester Suse.«



Dieser Brief steigerte Hansens Qualen ins Ungemessene. Der Gedanke, dass er in der Vorstellung seiner Schwester als Engel lebte, während er vor sich selber ein Verworfener war, erfüllte ihn mit niederdrückender Zerknirschung. Wo das harmlose Mädchen die Führung Gottes sah, erkannte sein klarer blickendes Auge die Fallstricke der Verführung. Er ahnte nur zu gut, wer der Auftraggeber des Mordche Rimbach war, und aus welchem Born der Edelmut des Klaus Priester floss. Manche Frage, die neugierig von den Lippen der Frau de Lerée kam, hatte er ahnungslos beantwortet. Nun hatte sich ein Netz von Wohltaten um ihn und die Seinen geschlungen, das er nicht zerreißen konnte, wie sehr er auch an seinen Maschen zerrte. An der Distel der Sünde wuchsen Feigen, aber, zur Stunde wenigstens, hatten sie für Hans Höhrle einen herben Beigeschmack. Es litt ihn nicht mehr in der einsamen Bude. Ihn zog es mit Macht nach den Krankensälen der Klinik, dort, in der See des fremden Leides, hoffte er das seinige ertränken zu können.



Am Abend eines reuevoll durchlebten Tages schrieb er einen Brief an Frau de Lerée, bat, in dieser Woche die Stunden ausfallen lassen zu dürfen, und entschuldigte sein Fortbleiben mit Unpässlichkeit.



Die Woche ging und ihr Samstag brachte einen Kommers in den festlich geschmückten Hallen des Tivoli. Um alle Tische schlang sich der bunte Kranz farbiger Mützen und heller Kneipjacken, nur zuweilen unterbrochen durch den schlichten Anzug eines alten Herrn.



Hinter dem gelättelten Stabwerk der Galerie sah man weiche Damenkleider und glückstrahlende Mädchengesichter, die sich neugierig über die Brüstung neigten, um unten in der großen, bunten Musterkarte einen zu suchen, den sie sich als Tänzer wünschten und vielleicht noch als etwas mehr. Aber auch die Augen da unten, die so oft ins Bierglas guckten, hatten den Flug nach dem Höheren nicht verlernt, und trotz der ziemlich beträchtlichen Niveaudifferenz waren bald zwischen droben und drunten alte Beziehungen aufgefrischt, und zu neuen die Präliminarien geschaffen.

 



Hans Höhrle, der am Kopfe einer langen Tafel präsidierte, sah oben einen Schuh, der in einer Wolke von Spitzen tänzelte, und ahnte, was sein Gaukeln zu bedeuten habe. Als er sich stellte und mit der Schlägerklinge auf der Tischplatte das Zeichen zum Beginn des Kommerses gab, neigte sich oben ein schöner Frauenkopf über die Brustwehr, und Hansens Ahnung ward zur Gewissheit. Alles, was nun an Gründen für und wider diese Frau im Laufe der Woche vereinzelt auf ihn eingedrungen war, stürmte nun vereint in hellen Haufen auf ihn zu und brachte ihn in namenlose Unsicherheit. Dazu in dem Engelsangesicht dieser Niobeblick, der immer zu sagen schien: Siehe, wie die Tage meiner Jugend einem Moloch geopfert werden, habe Mitleid mit mir und übertreibe nicht meine Schuld. Tantalus an seinen Felsen geschmiedet war weicher gebettet als ich im goldenen Käfig einer liebeleeren Ehe.



Bin ich denn gar so verwerflich, weil ich abseits von dem rauen Pflaster, aus dem ich wallen muss, nach der Blume der Liebe suche? Hab’ Erbarmen und kehr’ zurück!



So redete eine Stimme in dem Jüngling lauter und lauter, und die Künstlerin Mitleid kam herbei und formte geschäftig die Gestalt der Gefallenen um, zu einer Märtyrerin mit frommem Dulderantlitz.



Hans, verloren in seine Grübeleien, vergaß seines Amtes zu walten und musste sich von Ignaz Kaufmann den Zuruf gefallen lassen: »Schläfst du? Wenn nicht, so kommandiere doch den Kantus drei, hörst du nicht, dass die Musik die Weise vorspielt?«



Hans fuhr auf; er hatte in der Tat nichts gehört. Kantus drei, war das nicht das Schwurlied? Und gerade in diesem Augenblick dies ernste, feierliche Lied. Hans floh aus dem Saal. Draußen in der Nacht der Bäume verbarg er sich und seine wiedererwachten Selbstanklagen an einer Stelle, zu der nicht mehr der blendende Glanz des lichtstrahlenden Festsaales zu dringen vermochte. Sein sonst so stolz getragener Rumpf lehnte müde an dem glatten Stamm einer Weißstanne, als ob er sich nicht selber zu halten vermöchte. Der ganze Mann schien kleiner als er war. Das bittere Empfinden, dass sein Fehl ihn ausschloss von diesem Liede, drückte ihn zusammen. O, dass er nicht nötig hätte zu erröten bei den Worten dieses Liedes. Dass er noch harmlos aller Welt kühn ins Auge hätte sehen können, wie einer dieser Füchse, die da drinnen im Festsaal zu singen begannen:





»Schwört’s bei dieser blanken Wehre,

Schwört’s ihr Burschen allzumal:

Fleckenrein sei unsre Ehre

Wie ein Schild aus lichtem Stahl.

Was wir schwören sei gehalten,

Treu bis zu der letzten Ruh!

Hört’s ihr Jungen, hört’s ihr Alten,

Gott im Himmel, hör’s auch du.«



Leise hatte Hans jedes Wort nachgesprochen, leise, ganz leise, nicht für die Jungen, nicht für die Alten und für Gott im Himmel erst recht nicht. Als Anklage gegen sich selbst sollte jede Silbe wie Scheidewasser auf einen goldenen Schild fallen und den Vorsatz eingraben: Einmal und nicht wieder.



Wie er so stand und mit der Stahlscheide des Schlägers an seiner Seite in den abgefallenen Tannennadeln wühlte, schmiegte sich ein weicher Arm um seinen Nacken, und zarte, warme Wangen legten sich in sein Gesicht. Hans wusste, ohne aufzusehen, dass dies nur eine sein konnte, nur die, bei der seine Gedanken in Furcht halb und halb in Liebe weilten. Die er fliehen und doch wieder suchen wollte. Ihre körperliche Gegenwart genügte, um den schwachen Mann alle Gewalt über sich selber verlieren zu lassen, und so umarmte er wieder, was er eben noch weit von sich zu werfen beschlossen hatte.



»Du kommst am Montag wieder,« sagte die schöne Versucherin, als ihre Lippen sonst nichts zu schaffen hatten, und das Stückchen Fleischesschwäche, das seit Adams Zeiten in jedem seiner Nachkommen steckt, sagte: »Ja.«



Was sollte Hans anders sagen? Wenn ihn der Reiz des Weibes nicht zog, so stieß ihn die eiserne Faust der Notwendigkeit. Er musste und wollte leben. Es sank die Schale, in der das Böse lag, tiefer und schnellte ihr Gegenüber hoch in die Luft, und nun ist es gleichgültig für den Leser, wie der Kommers endete, es muss ihm genügen, wenn er erfährt, dass Hans am Montag der folgenden Woche im Hause de Lerée seine Musikstunden wieder aufgenommen hat.



Zuweilen traf er die Gnädige, zuweilen nicht, ja es schien fast, als ob die gefallene Frau ihm aus dem Wege gehe. Flüchtig huschten ihre Tritte durch das Zimmer, tränenfeucht und scheu glitten ihre Blicke über Hansens Erscheinung hin. Ach, dies Glü

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