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Die Mühle zu Husterloh

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»Lass ihn da,« bat er, »es sind genug Mäuler an der Krippe.«

Hans fing einen traurigen Scheideblick des Hundes auf und trat hinaus in das erste Entwicklungsstadium des jungen Tages. Die Luft regte sich nicht. Sie wollte die Sonne nicht wecken, die Grausame, die gestern so unbarmherzig gebrannt hatte. Die Vögel schwiegen, aber es war ein hastiges Kommen und Gehen vom und zum Nest. Die Alten hatten es eilig, die Bedürfnisse des Haushaltes herbeizuschaffen, bevor die flimmernde Luft das Auge blendete und den Flug erschwerte. Der Bach war mager geworden und müde. In Tümpeln unter dem Erlengebüsche ruhte er sich aus, bevor er durch Kiesel und Felsblöcke seine dünnen Seidenbänder weiterschob.

Hans war ruhiger geworden. Die absolute Bewegungslosigkeit, die ihn umgab, senkte ihren Frieden mit suggestiver Kraft in seine Seele. Drüben, da, wo das Grün des Wiesenteppichs, vom Walde überschattet und beschützt, satter wurde und fast schwarz, lag sein Elternhaus. Ein dünner Rauch, wie er der Glut des Reisigfeuers entsteigt, kam aus dem Schornstein, blieb in der Luft stehen und bildete bedeutungsvolle Frage- und Ausrufezeichen. Dass die Mühle nicht ging, war ein Umstand, der die Morgenstille ins Ängstliche steigerte.

Hans kam näher und sah den Bastian unter dem Wetterdach auf der Schnitzbank sitzen. Ein großer, blauer Lappen, der, ohne nach der Farbenwirkung zu fragen, sich auf der Schulter seines Wamses breit machte, redete eine Sprache, die zwar höflicher, aber nicht minder eindringlich war als das, was die Besitzerin des »Weißen Elefanten« gestern geredet hatte. Bastian legte den Rechenstiel beiseite, den er mit der Schärfe des Schnitzmessers geglättet hatte, erhob sich und streckte dem jungen Herrn die breite, knochige Hand entgegen, die im Dienste des Hauses Höhrle hart geworden war und sich anfühlte, als ob sie aus Nussbaumborke geschnitten wäre. Hans kannte diese Hand von Kindesbeinen auf, diese Hand, die ihm auf den Esel geholfen, diese Hand, die kratzte, wenn sie schmeicheln wollte, und vor der er schon als Knabe seine Wange zu hüten wusste. Was hatte diese Hand an Werten errungen in einem langen Leben? Nichts, rein gar nichts. Nichts für sich und nichts für andere. Und heute ging es ganz ohne sie. – Sie zählte zu jenen tausenden von Händen, die überflüssig geworden sind durch die Kraft der Maschine. Wem fiel es im Betriebe von Groß und Moos ein, das Korn auf den Speicher zu tragen? Das besorgte ein Paternosterwerk durch ein halbes Dutzend von Stockwerken, und aus dem Silo lief es wie ein Ameisenvolk, Körnchen hinter Körnchen über die Walzen der Mahlgänge.

Baschel war wie ein Torso aus einer untergegangenen Kulturepoche. Er zählte nur noch als Konsument und dazu noch an einer Stelle, wo wenig mehr zu konsumieren war. Das fühlte er schon lange und das fühlte er jetzt wieder, wo er in das jugendfrische Gesicht des Studenten sah, und eine verlegene Röte kroch unter dem Mehlstaub seines alten Gesichtes vom Kinn bis zur Stirne. Ihm war’s, als ob er sich entschuldigen müsse, dass er noch im Hause, noch am Leben sei, aber er brachte kein Wort hervor. Ein »Grüß Gott!« war alles, was die zwei sich zu sagen hatten.

Hans stieg die Treppe empor, Baschel langte nach seinem Schnitzmesser und neigte das Haupt mit einem schweren Gedanken: »Einen Dienst willst du wohl dem Hause Höhrle noch leisten,« und tastend griff er in die Tasche seines Wamses, um sich zu überzeugen, ob ihm die Schweden nicht davongelaufen seien.

Die Diele des Hausflurs, die unter Hansens Füßen knarrte, rief Suse an die Küchentür.

»Bist du allein gekommen?« war ihr erstes Wort! »Hast du den Vater nicht gesehen, nicht auf der Eisenbahn, nicht in dem Kirchdorf? Drei Tage schon ist er fort. Heinz Wohlgemuth hat gleichfalls Geld gewonnen. Vater hat dessen Stiefel angezogen, weil er denkt, das bringt Glück, und ist fort. Nun sitz ich hier und harre, harre die langen Nächte in dem stillen, stillen Hause. Ach, Hans, wie unheimlich schreit das Käuzchen aus der Bodenluke. Das bedeutet nichts Gutes, und heute Nacht hat unsere Kuh sich losgerissen und stand am Morgen bei Mordche Rimbach im Grasgarten.«

Noch hielt sie die Hand ihres Bruders in ihren Fingern und sie zog ihn hinter sich her ins Zimmer ohne ihn anzusehen. Ihr Blick irrte durch die trüben Fensterscheiben auf die Chaussee hinüber. Dort, wo diese aus dem Walde heraustrat, dort suchte sie etwas. Ihr scharfes Auge entdeckte unter den Zweigen eine Bewegung und belebte sich. Das konnte der Vater sein. Doch er war es nicht. Es war ein Weib, das ein Reisigbündel auf dem Kopfe trug. »Hans,« sagte sie enttäuscht, »mir ist so bang, wenn er nur wieder kommt. Velten Kainz ist gegangen, und sie haben ihn in Lindenbronn aus dem Teich gezogen. Martin Brand setzte sich auf die Spitze des Kanterfelsens und jagte sich eine Kugel in den Kopf. In Fetzen gerissen las man seinen Leib von den Steinen herunter. Nicht jeder gewinnt, nicht jeder. Ach, Hans, was wirst du erfahren müssen! Auch der Wirt zum Weltschirm hat verloren, und nun will er mit dem Golde eines Schwiegersohnes den Gerichtsvollzieher von der Schwelle weisen; ach, Hans, ach Hans!«

»Ach, Hans,« sagte Suse seufzend, »manch einer verliert sein Geld in diesem Wirbelsturm des Wahnsinns, der unser Tal durchtobt, mancher noch Besseres, alle aber den Glauben, dass es noch einen Gott gibt, dem unser Wohl und Wehe am Herzen liegt. Hans, was auch kommen mag, sei du stark und trage deinen Verlust im Konkurs des Dorfes Husterloh mit Würde. Viel müsste ich dir sagen, wenn ich es wagen dürfte, ganz offen gegen dich zu sein.«

»Mehr als ich weiß, kann ich von dir nicht mehr hören, Schwester, und deutlicher, als ich sie gehört habe, kann dein Mund die Wahrheit nicht predigen: Dass das Weib eine Ware ist, dem ausgefolgert, der sie am besten bezahlen kann. Lass uns schweigen, Schwester.«

Eine Weile saßen sich die Geschwister lautlos gegenüber. Es war so still. Nur der Perpendikelschlag der Uhr verkündete, dass die teilnahmslose Zeit mit unermüdlichen Sekundenschritten durch Jahrtausende schreitet. Was bedeutet im Kommen und Gehen der Jahrmillionen ein vernichtet Menschenglück?

Suse erinnerte sich ihrer häuslichen Pflichten und eilte der Küche zu. Bald stand die Suppe auf dem Tisch. Auch Baschel erschien und nahm mit einer linkischen Verbeugung Platz. Zu Mutters Lebzeiten war das anders gewesen. Die stolze Frau zog einen scharfen Strich zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Aber nun war beides zusammengeweht wie Stroh und Reisig, wenn der Sturm haust. Die traurigen Reste des alten Glanzes konnte man auf einen Spaten kehren und zum Müllhaufen tragen. In dem großen Schiffbruch saß Kapitän und Matrose auf einer Planke. Die nächste Welle, die kam, konnte beide verschlingen. So aßen die drei ihr Brot gemeinsam, tranken aus dem gleichen Wasserkrug und hatten den gleichen ängstlichen Gedanken: »Wie wird Vater Höhrle aussehen, wenn er wiederkommt?«

Der Tag verstrich, ohne dass irgendwer das einsame Haus betreten hatte. Zu holen war nichts mehr, und bringen mochte keiner etwas. Auf den Vater hatte man vergebens gewartet. Sein karges Essen war mit dem niederbrennenden Herdfeuer kalt geworden und unansehnlich wie eine Katzenmahlzeit. Der Abend kam und führte den Sebastian Stallmann heraus in die Stube zu den Geschwistern.

»Bald werden wir ins Dorf gehen und den Postwagen erwarten, zwei Stunden noch,« sagte er kurz und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Uhrkasten nieder, während sein Auge das Zifferblatt um Rat fragte. Sonst pflegte der Mühlbaschel um diese Stunde zu rauchen, heute tat er es nicht. Vielleicht, dass es ihm an Tabak fehlte, vielleicht auch, dass er mit irgendeinem Entschlusse rang, der ihm die Freude an diesem seinem letzten Lebensgenuss vergällte.

Längst war es dunkel. Zweimal schon hatte das Kuhhorn des Nachtwächters die Hunde geweckt, da reckte sich Baschel und blinzelte nach der Schwarzwälderin. »Es wird Zeit,« sagte er, und alle drei machten sich auf den Weg. Sie gingen, wie man zu einem Examen geht, zu einer richterlichen Entscheidung über Mein und Dein, die Herzen in der Klemme, das Fünkchen Hoffnung kläglich schwelend unter der Asche der Verzagtheit.

Man kam vor der Posthalterei an. Nur wenig Vorkehrungen waren getroffen, den Wagen zu empfangen. Eine Laterne, die an einem Nagel hing, beleuchtete die Aufschrift: Kaiserliches Postamt, und der Apotheker lief in Schlafrock und Pantoffeln herum und wartete auf die Abendzeitung aus der Residenz.

Das war nun nicht der Zuschauer, nach dem man geschickt hätte, wenn er nicht schon dagewesen wäre. Der Apotheker war eine grätige Natur. Man musste ihn mit Vorsicht genießen, wie einen Weißfisch. Aber selbst wer dies tat und schon dachte, dass er ihn halb verdaut hätte, merkte nachträglich, dass ihn etwas im Schlunde kitzelte. Er war wie seine Pillen mit etwas Zucker überzogen, aber die Kandierung war nicht dicht genug, und das bittere Aloe machte sich den Geschmacksnerven störend bemerkbar. Selbst sein Altruismus und sein Mitleid waren vergiftet mit dem Strychnin einer boshaften Schadenfreude. Ohne eine hämische Bemerkung hätte er unsere Freunde nicht begrüßen können. Das wussten die drei, und deshalb versteckten sie sich an der Peripherie des Laternenlichtkreises zwischen den Häusern, obwohl man schon die Achsen des Postwagens auf dem Pflaster schlagen hörte.

Die Pferde begrüßten die Aufschrift: Kaiserliches Postamt mit untertänigst ergebenem Wiehern und hielten still. Diensteifrig, als ob er sich ein Trinkgeld verdienen wolle, öffnete der neugierige Handlanger Äskulaps den Kutschenschlag. Sein Lohn bestand in einem Fußtritt auf eines seiner vielen Hühneraugen.

»Verfluchter Pferdehuf,« stieß er zwischen den Zähnen hervor und wankte zurück.

Der Mann, der ihn getreten hatte, schien kein Bewusstsein zu haben von dem, was er tat. Wie einer, der von einer Reitschule heruntergesprungen ist, kreiste er ein paar Mal um sich selber und lief dann in einer falschen Richtung geradeaus.

 

»Gerechter Himmel, der Vater,« schrie Suse auf, und Hans und Bastian stürmten vor, um den Mann einzufangen, der einem Schlafwandler ähnlich vorwärts torkelte.

»Betrunken ist er oder verrückt,« bemerkte zartfühlend der Apotheker, der drüben, an die Mauer gelehnt, sich bückte, um durch den Plüschpantoffel hindurch seine misshandelten Hühneraugen zu massieren.

»Hierher, hierhinaus geht der Weg nach unserer Mühle,« flüsterte Bastian und fasste seinen Herrn bei der Schulter.

»Ganz gewiss,« pflichtete der Apotheker bei, »da hinaus geht der Weg nach der Mühle, an der du und Vater Höhrle soviel Anteil habt, wie der Teufel am Himmelreich. Da hinaus, da hinaus, besinnt euch doch, Männer! Euere Esel fanden den Weg im Dunkeln, eine Zeitlang euere Pferde auch, und nun scheint’s gar, als ob ihr selber ihn nicht finden könntet. Haltet ein Streichholz an den Alkohol in eurem Magen, Vater Höhrle, er wird ausreichen, euch den Weg zu beleuchten!«

Jetzt riss dem Mühlbaschel die Geduld.

»Mach dass du fortkommst, du Brechmittel,« brüllte er den Apotheker an, »oder ich quetsche dich, bis alle Katzen des Kirchspiels sich zu deinen Füßen wälzen, weil deine Hühneraugen Baldriantropfen weinen,« und er reckte seine gewaltige Rechte nach der Gurgel des Apothekers.

Mit einem Satz war dieser der Gefahr entronnen und in der Postkutsche geborgen, deren Verschlag hinter ihm zuklappte.

»Nun bin ich auf fiskalischem Gebiet,« rief er durchs Fenster, »wer Zeit hat, ein Vierteljahr zu sitzen, der mag mich hier angreifen.«

Der Postknecht hatte indessen die Briefe und Wertsachen abgeliefert, und die Pferde zogen den fiskalischen Kasten mitsamt seinem Insassen unter das weitausladende Dach der Scheune, auf deren Tenne der Apotheker es wieder wagte, auf das Niveau anderer Leute herunterzusteigen und seiner hochgespannten Neugier ein Ventil zu öffnen.

»Wo hast du den Höhrle aufgelesen, Postphilipp?«

»Hm! er saß auf dem Brückengeländer der Weschnitz wie einer, der so viel Wasser trinken will, dass er seinen Durst für immer stillt.«

»Hast du ihn angerufen, oder er dich?«

»Ich ihn, weil er gar so elend aussah. Bezahlt hat er nicht.«

Philipp halfterte die Pferde ab.

»Dann hat er sein Geld an der Bank gelassen, das Geld für den Wald, das ihm Mordche Rimbach ausbezahlte. Gut, dass man hinter die Schliche solcher Leute kommt. Was sollte aus dem Vorschussverein von Husterloh werden, wenn er nicht wenigstens einen Mann von meiner Umsicht im Aufsichtsrat hätte, der beobachten, ja beobachten und bis Mitternacht wachen kann.«

So sprach der Apotheker mit selbstgefälliger Betonung, hüllte sich in seinen Schlafrock und in seine Würde als mehrfacher Aufsichtsrat und strebte seinem Hause zu.

Die Nacht über schlief der betriebsame Herr auf seiner Neuigkeit wie auf einem Prokrustesbett, und als der Hahn krähte, stand er auf und streute sein Wissen nebst einer Handvoll Kornabfällen zunächst in den Hühnerstall. Der Hahn kollerte und tat sehr überrascht, vergaß aber gleichwohl nicht, sich aus der gemeinsamen Mahlzeit das Beste auszulesen. Der Apotheker, ärgerlich darüber, dass seine Mitbürger verschlafene Hühner seien, sah die leere Straße auf und ab. Er entdeckte endlich den Barbier auf seinen Gängen von Stube zu Stube, den Bäcker vor seinem Ofen, die Mägde am Brunnen, und alle wussten nach wenig Augenblicken, was er wusste. Sein mit gut geheucheltem Mitleid vorgetragener Sermon von den Verlusten des Vater Höhrle an der Bank, seinem Versuche, die Weschnitz in seinen Magen zu leiten, seiner Drehkrankheit vor der Postkutsche, war reichlich durchsetzt mit Pfandeinträgen, Real-, Brief- und Sicherheitshypotheken und erzielte ausreichend seinen Zweck, den Kredit des Hauses Höhrle, soweit es noch möglich war, zu untergraben. Zu Rauschkolb lief der Apotheker, die zwei zu einem dritten usw., bis das Siebengestirn des Vorschussvereins-Aufsichtsrats in den geschmierten Stiefeln und bei Onkel Schütteldich zu geheimer Sitzung versammelt war. Vor dieser heiligen Zahl ehrenwerter Männer und vor einem, der wohl Sitz aber keine Stimme hatte, entrollte der Apotheker ein Bild von Soll und Haben des Hauses Höhrle mit Übertreibungen und Faustschlägen auf den Tisch, bis der eine gerade, der statutengemäß nicht mit zu reden hatte, die Sache dick bekam. Holofernes nämlich, angeekelt von der Patzigkeit des Wortführers, stürzte vor und riss dem schreckerstarrten Pillenfabrikanten das Vorhemd mitsamt dem Papierkragen von der Männerbrust.

»Willst du, infamigter Hundsknochen,« schrie Onkel Schütteldich und warf seinen Stiefelzieher nach dem Tier. Holofernes wollte allerdings, aber mehr noch, als er schon hatte. Empört über die gemeinen Schimpfworte, an die er nicht gewöhnt war, griff er noch zweimal mit den Zähnen zu und schälte den Pillendreher so annähernd aus der Weste und dem Jägerhemd heraus.

O, Holofernes, bester aller Hunde, was Menschenhabsucht und Bosheit noch weiter am Hause Höhrle sündigen mögen, nimm du Dank für den Versuch, den du gewagt hast, einen von der Sorte zu richten, die aus den trüben Stunden anderer sich einen heiteren Tag herzurichten verstehen.

30. Kapitel

Vater Höhrle hatte keine gute Nacht. Aus den weichen Armen seiner Kinder war er in die eisernen Kneipzangen der Dame Reue gefallen. In allen Verlusten des Niederganges hatte er sich seither ein gutes Gewissen bewahrt, nun war auch das dahin. Stunden, die von der Ewigkeit bereits verschlungen waren, wurden wieder hervorgewürgt und führten aus dem Acheron Gestalten mit sich, die drohend vor Vater Höhrle hintraten. Des Wachsens und Vergehens der Hydraköpfe war kein Ende. So erlebte er die jüngst entschwundenen Tage immer und immer wieder mit dem gleichen qualvollen Frage- und Antwortspiel.

Welcher Dämon konnte ihn verleiten, mit dem plumpen Fabrikat eines Odenwälder Dorfschusters das schlüpfrige Parkett eines Spielsaales zu betreten? Wo hatte er nur den Mut hergenommen, unter dem verlogenen Reichtum eines überladenen Plafonds dieser Lasterhöhle zu weilen? Warum war er nicht geflohen, als ihm das Spiegelglas der Wände mitten unter dem Pomp der aufgeputzten Halbwelt die mitleiderregende Karikatur eines Menschen, das Bild eines armen verschrumpften Bäuerleins, sein Bild, zeigte? Sich selber, sein gutes Gewissen, sein Geld und mit ihm die Möglichkeit, seinem Sohne eine Existenz zu gründen, hätte er da noch retten können. Nun war’s zu spät. Der Erlös für seinen schönen Wald war aus kleinen goldenen Rädern über das grüne Tuch des Spieltisches gerollt und verschwunden in einem Abgrund, aus dem er wenigstens ihn nicht mehr herausholen konnte. Als kleiner Mann war er vor die rollenden Kugeln des Zufalls getreten, als Bettler musste er ihrem falschen Spiel den Rücken kehren. O, welch’ ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Bettler und dem, der sich mit Selbstbewusstsein noch einen kleinen Mann nennen kann. Vater Höhrle war vor sich selber zu einem Nichts herabgesunken. Die Glut der Reue, die ihm den Busen entflammte, ließ sich nicht mit dem Bächlein feuchter Trostgründe löschen, sie verlangte einen Strom, der sie erstickte, und den Herd, auf dem sie brannte. Diesen Strom hatte er vorgestern gesucht, er war dem Rhein zugelaufen, wie ein Trunkener, und die Leute, die ihm begegneten, blieben stehen und schüttelten die Köpfe. Er achtete dessen nicht. Er lief nur immer zu. Einmal musste doch der Fluss kommen, der es übernahm, seine Leiche fortzutragen, weit fort an ein Gestade, wo niemand den toten Höhrle kannte und seine Schuld. Er lief und lief, aber der Strom kam nicht. Er lief in ein Gewühl von Menschen hinein, über deren unsinniges Rennen die Gaslaternen mit breiten Gesichtern lachten. Dann kam eine ruhige, finstere Straße, wo niemand sein Begleiter war, als die nagenden, bohrenden Gewissensbisse, denen er durch rasches Laufen zu entfliehen suchte. Da, mit einem Male lief er mit der Stirne wider einen dunklen Gegenstand. Es war ein Totenwagen, der die Leiche eines Juden nach einem fernen Kirchhof brachte, wo der Sohn Abrahams seinesgleichen fand und mit ihnen dem großen Auferstehungstage entgegenschlummern konnte.

In Vater Höhrle erwachte die Vision, dass er der sei, der im Kasten liege, und dass ein anderer dahinter hergehe, wo er jetzt schritt.

»Gut, dass er tot ist,« sagte der letztere, und der wirklich Tote lachte heimlich und sagte: »Mit dir tausche ich noch lange nicht. Lauf dir nur die Füße wund, mir tut sicher kein Knochen mehr weh.«

So genoss der geängstete Mann die süße Wonne des Totseins, die bei uns Glücklichen kaum einer versteht, bis der Tag kam, und eine Schar schwarz gekleideter Menschen brachte, die mit zerrissenen Rockkragen den Totenwagen erwarteten. Jetzt merkte Vater Höhrle, dass es nichts sei mit seiner Vorstellung von einem Schweben hoch über dem Guten und Bösen. Die Leute sahen ihn verwundert, fast vorwurfsvoll an, und er drückte sich seitwärts in einen Feldweg hinein, lief und lief, bis er ermüdet bei einer Brücke niedersank und in des Schlafes Armen seinen süßen Traum vom Totsein weiter spann, bis ihn der Postphilipp fand und aufrüttelte in die schier unerträgliche Wirklichkeit der Dinge.

Während derart die schlaflosen Stunden der Nacht ein Schreckbild nach dem anderen vor Vater Höhrles Seele führten, stand der Mühlbaschel mit verhaltenem Atem vor der Kammertür und lauschte auf jedes Geräusch, das von des Alten Lager kam.

»Da drinnen in der Kammer könnte ein Gedanke zur Tat reifen, die ich verhindern muss.« Das sagte sich Sebastian Stallmann, und deshalb stand er auf seinem Posten, bis er Susens Pantoffel in der Küche schlürfen hörte. Dann schlich er davon und setzte sich vorm Hause auf die Schnitzelbank. Er hatte vor, ein paar Stück Hölzer zu schärfen, weil er die zerbrochene Riegelwand der Mühle flicken wollte.

Da kam Mordche Rimbach vorüber und fragte: »Bist du im Dienst des Kaspar Rauschkolb, dass du diese Wände auszubessern versuchst?«

»Ist’s so weit?« fragte Sebastian Stallmann.

Jener nickte bedeutungsvoll und ging. Bastian legte das Schnitzmesser über die Flicklappen seiner Knie und überdachte sein geringes armes Erdenwallen. In einem Stalle hatte man ein Kind gefunden am Tage des heiligen Sebastians. Mit diesen zwei Tatsachen war Vor- und Zuname des armen Erdenpilgers gegeben. Der Knieriemen eines Schusters und der Haselstock des Dorfschulmeisters besorgten die ethische und ästhetische Erziehung bis zur Konfirmation. Dann ward Sebastian Eseltreiber in der Mühle und avancierte späterhin zum Müllerburschen. Damit hatte er die höchste Stufe seiner Lebenskarriere erreicht. Nun war er alt und sollte sich in neue Verhältnisse schicken, das ging nicht. Seinem Herrn konnte er noch einen guten Dienst leisten, dem Rauschkolb einen Possen spielen, beides wollte er tun und damit das Werk seines Lebens abschließen.

Er stieg hinauf in seine Kammer und zog seinen Mutzen an, den mit den großen Stahlknöpfen und den geschweiften Taschenklappen, von dunkelblauem Tuch, dort aber, wo der Stoff sich umlegte, hellblau gescheuert. Einst war dies Kleid die Modetracht des Tales, nun gingen außer dem seinen nur noch zwei solcher Überröcke zur Kirche, und unserer hier tat es heute zum letzten Mal.

Sebastian Stallmann hörte mit großer Andacht die Messe und nach derselben meldete er sich vor der Sakristei zur Beichte. Ohne Beichtspiegel ging’s, und er war bald fertig. So reine Gewissen brauchten kein langes Putzen. Man hätte die Sünden seines ganzen Lebens auf einen Fingernagel schreiben können, und doch kam er nicht vom Beichtstuhl los.

Er hatte ein kleines Anliegen, womit er nicht so recht herausrücken wollte. Nach einer geraumen Weile verlegenen Hustens und Räusperns platzte er endlich los: »Das war zum letzten Male heut, Herr Pfarrer, die Rockärmel halten nicht mehr, und auch gar so zerrissen mag ich nicht zum Tisch des Herrn kommen.«

»Gott sieht das Herz, Baschel, und nicht das Kleid,« sagte der Pfarrer.

»Ja, aber mich geniert’s, wenn ich so lumpig vor ihm steh’. Könnt’ ich nicht so einen kleinen Vorschuss von Absolution mitnehmen, so viel etwa, dass es noch für eine oder die andere Sünde ausreichen würde?«

»Baschel, dir ist der Himmel noch manches schuldig. Geh’ und vertraue, dass Gott gütig ist. Dir wird er gerne durch die Finger sehn, weil er seinerseits dich seither nicht allzu gerecht behandelt hat.«

Sebastian ging getrost nach Hause und zog vor der Schnitzelbank seinen Mutzen aus. Er trug ihn nicht hinauf in seinen Kleiderkasten, sondern hängte ihn an den Türpfosten der Mühlstube. »So,« sagte er, »wenn sie allenfalls noch ein paar Brocken finden sollten, können sie dieselben da hineinwickeln.« Dann arbeitete er, als ob er in seinen alten Tagen noch Millionär werden wolle.

 
* * *

Nur der Chausseewart erinnerte sich einer gleichen Hitze, wie sie heute herrschte. Die Sonne kannte keine Schonung. Der Schnitter in den Erntefeldern warf die Sense über die Schulter und ging heim, ihm folgte der Binder mit den Strohseilen. Die Ähren brachen vom gerösteten Halme ab und fielen zur Erde nieder. Sollte man sich schinden, um den Mäusen einen bequemen Tisch zu decken? Vielleicht, dass die Taufrische der Nacht den Halmen wieder etwas Zähigkeit verlieh. Man konnte ja in der Frühe des nächsten Tages wiederkommen. So dachte Husterlohs männliche Bevölkerung, war am Abend nicht übermüdet, und die Wirte hatten Vorteil davon.

Im »Weltschirm« saß die Stube voller Gäste, und auf der Kegelbahn arbeitete man in Hemdsärmeln bei Lampenlicht und »machte Holz« an einem König und acht Bauern. Es konnte nichts Friedlicheres geben.

»Feuer!« erschallte es durch die mondbeschienenen Gassen hin, »Feuer!« rief es zu den Haustüren herein, »Feuer!« erklang es schauerlich von einem Stockwerk zum anderen hinauf bis unter die Sparren des Speichers. Alle Hunde bellten das Wort in ihrer Sprache nach, Menschen rannten kopflos widereinander und schrien sich an: »Es brennt!« Das Vieh in den Ställen wurde unruhig und zerrte an den Ketten. Der Türmer verlor in der Eile seine Schlappen, aber nun hing er doch ohne sie am Seile, und die Glocke mit ihrem unheimlichen Bim-Bim vermehrte noch die allgemeine Bestürzung.

Endlich, wie von einem Windstoß aus seinem Hause geworfen, erschien der Feuerwehrkommandant in glänzendem Messinghelm mit dem wallenden Pferdeschweif auf der Straße, zunächst ausschließlich damit beschäftigt, die Schnalle seines schwarz und rot gestreiften Bauchgurts zu schließen. Dann rannte er nach einem, zwei, drei Häusern hin, klopfte ein-, zwei-, dreimal an die Läden, überzeugte sich jedes Mal, dass er sich geirrt, und dass hier der Mann nicht wohne, der mit der Trompete das Feuersignal zu geben habe. Und ohne Feuersignal kein ordonnanzmäßiger Brand.

Indessen erschienen andere Blechhauben mit Beilen und Stricken an der Seite vor dem Spritzenhause und suchten nach dem Schlüsselloch. Fäuste griffen nach der Klinke, Schultern stemmten sich gegen die Eichenbohlen der Tür, Äxte versuchten die Scharnierbänder zu lösen. Ein Schlüssel hätte all diese zwecklosen Versuche, Eingang zu finden, aus der Welt geräumt, aber das war’s gerade, was man nicht hatte. Schrecklich klangen die drohenden Kommandoworte des Feuerwehrhauptmanns in den Menschenknäuel hinein. Sie besserten nichts an der verfahrenen Situation und den Schlüssel schafften sie auch nicht herbei. Es kam eine brennende Fackel gewackelt, noch eine, noch eine. Jetzt drängte einer, der Haken und Dietriche an einem Stahlreif trug, in den Haufen hinein. Das war der richtige, der konnte helfen, aber die stürmende Menge der Blechhauben ließ ihn nicht ans Schlüsselloch heran.

»So nehmt doch Vernunft an, Leute, drückt euch nicht tot wie eine Hammelherde, hier ist der Schlosser. Lasst ihn vor,« schrie eine Stimme, aber niemand achtete ihrer.

Da, unvermutet wie ein Hagelwetter auf ein Glasdach, prasselten wuchtige Schläge mit dem Schlüsselbund auf die Blechhauben nieder. Das half, der Mann kam vor, die Tür ging auf, und hundert Hände griffen in die Radspeichen der Feuerspritze. Im Nu war sie auf die Straße gezogen, vorn und hinten mit uniformierten Männern bestellt, die sich nicht wenig darauf einbildeten, da stehen zu dürfen, wo sie standen. Nun hätte es losgehen können und auch sollen, denn wieder und wieder schrie es: »Es brennt, es brennt in der Mühle,« und die Glocke bimmelte dazu, aber der Knecht, der das Gespann zu stellen hatte, war noch nicht da. Er stand am Brunnen, tränkte seine Pferde und sagte vor sich hin: »Wer langsam reit’, kommt grad so weit.« Endlich hatte er unter dem Treiben und Drängen von vielem Volk, das die Straßen mit Geschrei und Nachtgewändern füllte, die Pferde vor die Deichsel gehuft. Wer sich nicht vor den Fußtritten der Tiere fürchtete, griff zu, und in einem Augenblick waren die Stränge und Leitriemen geknüpft und geschnallt. Aber der Knecht ließ sich nicht zum Fortfahren drängen. Er überhörte jede noch so drohende Aufforderung zur Eile, prüfte jeden Riemen und jede Schnalle noch einmal, dann erst schwang er sich auf seinen Kutschersitz, und rollend wie ein Donnerwetter fuhr der Spritzenwagen zum Dorf hinaus. Weiber mit fliegenden Haaren, barfüßige Jungen, Hunde und Kinderwagen gaben ihm eine Zeitlang das Geleite, bis sie überholt und abgetan waren. Aber andere Gruppen, welche die Erde ausgespien haben musste, waren da, und zappelnde Beine und wild in die Luft geworfene Arme rechts und links der Spritze nahmen kein Ende. Es war eine schreckliche, rote Glut, die dahinten das Tal abschloss, und über ihr wimmelten in klumpigem Grau Myriaden feuriger Käfer, glühende Wanzen, Heuschrecken, Kakerlaken und leuchtende Fledermäuse. Pferde und Menschen schienen in einen offenen Höllenrachen hineinzurennen.

Näher kam das Ziel. Die Flamme, die über dem Dache raste, war unten noch durch das Mauerwerk des Hauses gebunden. Man sah nur durch die Leere der Fensteröffnungen, dass das Feuer auch da am Werk der Zerstörung war. Aus den Türen stürzten Menschen mit allerlei Hausrat beladen, warfen ab in der Tageshelle, die das Haus umgab, eilten zurück und suchten dem glühenden Rachen zu entreißen, was möglich war. Andere sah man müßig dastehen, unfähig, etwas anderes zu vollbringen, als die Hände zu ringen.

Mit lautem Krachen fuhr die Spritze vor. Kommandoworte ertönten und Männer sprangen zur Erde. Die Pferde waren von den Strängen gelöst, man konnte in der Enge ihre nervöse Unruhe nicht brauchen. Menschenkraft führte den Spritzenwagen dem Wasser zu. Die Eimer schöpften im Bach, der Pumpenkolben hob und senkte sich, und bald schoss mit explodierendem Puffen das Wasser aus dem Schlauch. Die Flamme schrie ein wenig, als sie das feindliche Element auf ihrem Rücken spürte, aber triumphierend leckte sie dessen ungeachtet zum Himmel auf. Sie war bereits zu mächtig geworden. Die Männer an der Spritze verdoppelten ihre Anstrengungen. Eine zischende Wasserschlange legte sich über das Ziegeldach, fauchte und spie. Die Traufe weinte ärger als im schlimmsten Gewitterregen.

Mordche Rimbach, der in der Menge stand, wurde unruhig.

»Wenn sie Erfolg hätten, wem käm’s zu gut? Nur der Versicherungsgesellschaft.« So fragte er sich selber und so antwortete er sich selber. Dann ging er zum Bachufer nieder. »Wo viel Menschen sind, gibt’s viel Dummheiten,« murmelte er durch die Zähne und nahm einem Feuerwehrmann den Eimer ab.

»Stell dich aber an wie ein Christ,« sagte dieser.

»Nicht möglich, mit dem Kopf eines Jüd,« entgegnete Mordche Rimbach, und trat in den Bach.

Er nahm den Ledereimer und fuhr damit bis auf den Grund des Bachbettes, gerade so, als ob er baggern wollte. So machte er es nun mit jedem folgenden Eimer, der ihm leer in die Hände kam. Es dauerte nicht lange, und an der Spritze gab es ein gräuliches Wettern und Fluchen. Die Seier im Becken waren versandet und verschlammt, die Spritze gab kein Wasser mehr. Mordche Rimbach konnte aus dem Bache heraustreten und sich unter die Zuschauer mischen, die Daumen im Ärmelausschnitt seiner Weste. Sein Gewissen war so ruhig, wie die Feuerspritze, die dastand und von all ihren Gelenken nicht eins mehr bewegte.

Mit dem Verlauf, den die Dinge bis dato genommen hatten, war so ziemlich jedermann zufrieden, mit Ausnahme des Rauschkolb. Was brannte, war eigentlich sein Haus. Kleinigkeiten, die gerettet wurden, schädigten den Vater Höhrle und konnten ihm nützen. So stellte er eine Leiter ans Dach, stieg hinauf und brüllte »Mannschaft!« Einer von den Blechköpfen kam nach, nahm mit vieler Vorsicht einen Ziegel nach dem anderen aus der Hand seines Vordermannes entgegen und ließ ihn zur Erde fallen. Die Leute unten lachten, und mit diesem Lachen hatte die ganze Feuersbrunst ihr tragisches Aussehen verloren und endete als Komödie. Die verwegensten Witze wurden gemacht und reichlich belacht. Aus dem Keller hatte man ein Fässchen Apfelwein gerettet, und auf dem Baumstück hinterm Hause begann ein wüstes Trinken aus Mützen, alten Stiefeln, aus Feuereimern und überhaupt aus jedem Gegenstand, der sich dazu hergab, das begehrte Nass für einige Augenblicke zu beherbergen.

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