Extra Krimi Paket Sommer 2021

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

5

Rick Montalban empfing uns in einem weitläufigen Salon. Durch die hohe Fensterfront hatte man einen fantastischen Blick auf den Atlantik.

Montalban war ein hochgewachsener, grauhaariger Mann mit braungebranntem Gesicht und aufmerksamen braunen Augen. Er trug einen grauen Anzug. Sein Alter schätzte ich auf Mitte Fünfzig bis Anfang Sechzig.

Neben ihm stand ein etwa dreißigjähriger junger Mann. Er wirkte wie eine jüngere Ausgabe Montalbans.

Ich zeigte meine ID-Card und stellte uns vor.

"Special Agent Jesse Trevellian, FBI. Dies ist mein Kollege Milo Tucker. Mister Montalban?"

"Buenos días, senores", knurrte "El Columbiano", der meines Wissens allerdings schon seit Jahrzehnten die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Er deutete auf den Mann neben sich. "Das ist mein Sohn José."

Ich nickte José Montalban kurz zu.

Zwar war ich ihm noch nie persönlich begegnet, hatte aber schon einiges über den jungen Montalban gehört. Dirty Rick wollte ihn zu seinem Nachfolger aufbauen. Einem Nachfolger mit blütenreiner Weste. So hatte der Alte ihn bislang aus allem rausgehalten, was irgendwie nach Illegalität roch. José Montalban war für uns ein unbeschriebenes Blatt. Abgesehen davon, dass er auf der Columbia Betriebswirtschaft studiert hatte, wussten wir nichts über ihn. Vor allem war er bislang nicht ein einziges Mal mit der Justiz in Berührung gekommen.

Rick Montalban musterte zuerst mich, dann Milo mit einem abschätzigen Blick.

Ein geschäftsmäßiges Lächeln bildete sich um seine dünnen Lippen.

"Das FBI hat schon versucht, mir was am Zeug zu flicken, als Sie beide vermutlich noch auf die Grundschule gingen!" Er lachte heiser. "Sie werden da wohl kaum mehr Glück haben. Ich bin gespannt, was Sie von mir wollen." Er warf einen demonstrativen Blick auf die Rolex an seinem Handgelenk. "Meine Zeit ist knapp. Und da Sie schon ein paar Minuten zu spät zu dieser Unterredung gekommen sind, sollten Sie den Rest der Zeit, die ich Ihnen zugestehen will, gut nutzen. Alora, qué es passado? Ich denke, es lohnt sich nicht, dass wir uns extra setzen..."

"Wir sind nicht wegen Ihrer Drogengeschäfte hier", erklärte ich ruhig.

"Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen, G-man! Alles was Sie hier unter Zeugen äußern, werde ich vor Gericht sonst gegen Sie verwenden! Etwa, wenn ich Sie wegen Verleumdung verklagen sollte!" Er lachte heiser. Dann trat er einen Schritt vor, richtete den Zeigefinger wie den Lauf einer Waffe auf mich. "Niemand hat mir je die Beteiligung an Drogengeschäften oder dergleichen nachweisen können! Also passen Sie gut auf, was Sie so von sich geben!"

Innerlich kochte ich.

Die Arroganz von Dirty Rick war kaum zu überbieten.

Clive Caravaggio, der ihn besser kannte, hatte schon gewusst, weshalb er Milo und mir diesen Besuch aufgehalst hatte.

Ich musste mir alle Mühe geben, ruhig zu bleiben. "Wir sind nicht wegen Ihrer Geschäfte hier", erklärte ich noch einmal. "Es geht um Ihre Tochter."

"Dolores! Was ist mit ihr?"

Sein Gesicht veränderte sich. Die Besorgnis, die jetzt in seinen Zügen zu lesen war, erschien mir echt.

"Wir müssen Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass Ihre Tochter Dolores Montalban nicht mehr lebt."

"Was?"

"Ihre Leiche wurde auf der Müllkippe Cannary Lane gefunden. Sie war in Plastik eingewickelt, hatte den Körper mit eigenartigen Zeichen bemalt und..."

"No es verdad!", entfuhr es Rick Montalban. "Madre de Dios, das kann nicht wahr sein."

"Leider ist es so, wie mein Kollege gerade berichtet hat", mischte sich jetzt Milo in das Gespräch ein.

"Dolores...Was mit ihr geschehen?"

"Das wissen wir nicht", erklärte ich. "Die Todesursache ist noch weitgehend unklar. Außer einem kleinen Einstich in der Bauchgegend gibt es keine sichtbaren Verletzungen. Näheres wissen wir, wenn die Obduktion abgeschlossen ist."

"Ich habe ein Foto zur Identifizierung hier", sagte Milo.

Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog es hervor.

"Geben Sie her!", forderte jetzt José Montalban. Er warf einen kurzen Blick auf das am Tatort gemachte Polaroid und gab es anschließend seinem Vater.

Tränen glitzerten in Rick Montalbans Augen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Das Gesicht wandelte sich zu einer Maske unbändiger Wut.

"Das ist meine Schwester", sagte José. "Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Am besten Sie lassen uns jetzt allein."

"Das kann ich nicht", erwiderte ich.

"Wieso?"

"Weil wir diesen Fall bearbeiten und sowohl Ihnen als Ihrem Vater ein paar Fragen stellen möchten. Wir gehen bislang davon aus, dass Dolores Montalban nicht eines natürlichen Todes starb und daher..."

"Seit wann kümmert sich das FBI um solche Fälle?", brauste jetzt Rick auf. Er lockerte die Krawatte und den ersten Hemdknopf. "Das ist ein Fall für das NYPD. Aber das FBI hat damit überhaupt nichts zu tun."

"Da irren Sie sich", erklärte ich.

"Geben Sie es doch zu, Agent Trevellian! Sie wollen jetzt sogar den Tod meiner Tochter dazu benutzen, um mir auf der Nase herumtanzen zu können! Um mir was anzuhängen ist Ihnen buchstäblich jedes Mittel recht!"

"Es geht darum, den oder die Mörder Ihrer Tochter zu finden", sagte ich so ruhig wie möglich. "Ein Zusammenhang mit dem organisierten Verbrechen ist im Übrigen nicht ausgeschlossen."

"Ach, hatte Dolores etwa jetzt plötzlich auch etwas mit Drogenhandel zu tun? Hören Sie doch auf, Trevellian. Sie sind geschmacklos."

"Sie haben Ihre Tochter vor drei Tagen als vermisst gemeldet?"

"Sí, es verdad. Sie hat in New York eine Wohnung, die ich ihr gemietet habe. Ich lasse diese Wohnung rund um die Uhr überwachen. Man hört ja heute so viele schreckliche Dinge über die Kriminalität im Big Apple..."

Ich sah, dass Milo die Augen verdrehte, als wollte er sagen: 'Ausgerechnet dieser Mann muss sich darüber beklagen!'.

"Sie kam nicht nach Hause?", schloss ich.

Montalban nickte. "Weder in ihre New Yorker Wohnung noch hier. Für eine Nacht hätte ich nichts gesagt. Dolores führte ein Leben, das in der Tradition unserer Familie als - cómo dice? - zügellos gegolten hätte. Aber so ändern sich die Zeiten."

"Mister Montalban, ich frage Sie gerade heraus: Wurde Dolores Opfer einer Entführung?"

Er sah mich entgeistert an. "No, Senor! Wie kommen Sie darauf?"

Milo meldete sich zu Wort. "Im Laufe Ihres Geschäftslebens - oder wie immer man das bezeichnen mag - haben Sie sich nicht nur Freunde gemacht, Mister Montalban."

"Un amigo por toda gente - wer kann das schon sein, Agent Tucker?"

"Was den Tod Ihrer Tochter betrifft, glauben wir, dass sie zuerst entführt wurde. Irgendetwas ging schief. Vielleicht hat sie das muskellähmende Gift nicht vertragen, das man ihr verabreicht hat. Jedenfalls kam Dolores ums Leben und dieser Mord wurde als Teil eines satanistischen Rituals getarnt."

"Das ist nur eine Theorie", stellte José Montalban klar, der bisher geschwiegen hatte.

Milo drehte sich zu ihm herum. "Aber eine, für die es Indizien gibt. So hat Ihr Vater in letzter Zeit große Barabhebungen vorgenommen. Möglicherweise haben sich die Entführer also mit einer Forderung gemeldet!"

"So, Sie überwachen immer noch meinen Zahlungsverkehr?", fragte Dirty Rick. Ein Raubtierlächeln erschien auf seinem Gesicht. "Ist das nicht illegal?"

"Sie wissen genau, dass derartige Maßnahmen von unabhängigen Richtern überprüft werden müssen", antwortete Milo. "Im Übrigen sind wir ja nicht die einzigen, die hinter Ihnen her sind. Mit der DEA und der Steuerfahndung gibt es wohl auch ein paar Meinungsverschiedenheiten."

"Wir sollten den Anwalt anrufen", meinte José an seinen Vater gerichtet.

"Wie wär's, wenn Sie mit uns kooperieren und auspacken!", fuhr ich dazwischen, ehe Rick etwas sagen konnte. "Es geht um die Mörder Ihrer Tochter."

"Ja ich weiß", murmelte er.

"Dann sollten Sie es auch riskieren, dass vielleicht das eine oder andere ans Tageslicht kommt, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten. Wie gesagt, einige Indizien deuten auf eine Entführung hin. Ich gehe davon aus, dass Sie zumindest ahnen, wer dahinter steckt."

Rick Montalban verschränkte die Arme. "Und an wen dachten Sie da so?"

"Geschäftliche Konkurrenten, vielleicht auch Leute aus Ihrer Organisation..."

"Jetzt werden Sie unverschämt!"

"Die Entführer hatten auf jeden Fall Insider-Wissen."

"Das haben Sie sich alles schön zurechtgelegt, nicht wahr?"

"Es wäre nett, wenn Sie uns die Auflistung Ihrer Telefongesellschaft über sämtliche angenommenen Gespräche überlassen würden..."

"Ich dachte, die hören Sie ab!" Montalbans Gesicht wurde grimmig. "Ein Entführer wäre kaum so dämlich, sich per Telefon zu melden, Trevellian! Im Übrigen ist das alles Unsinn, was Sie sich da ausgedacht haben."

Ich zuckte die Achseln. "Möglich. Aber ich warne Sie: Versuchen Sie nicht, auf eigene Faust den Rächer zu spielen! Wir werden Ihnen genau auf die Finger sehen, bei allem, was Sie tun!"

"Halten Sie mich für so dumm? Sie und Ihresgleichen träumen doch nur davon, dass ich mich vergesse und wie ein Berserker durch Manhattan laufe... Dann könnten Sie mich endlich in Handschellen legen! Aber Sie kennen mich schlecht, G-man! Verdammt schlecht!"

Einige Augenblicke lang herrschte eine angespannte Stille.

Milo und ich wechselten einen kurzen Blick.

 

Auf die Sache mit der Entführung stieg Rick Montalban nicht ein. Ob "El Columbiano" die Wahrheit sagte, war allerdings eine zweite Frage.

"Okay, gehen wir mal davon aus, Sie sagen die Wahrheit, dann bleibt noch die Spur in Richtung Okkultismus", nahm Milo das Gespräch wieder auf. "Ihre Tochter hatte entsprechende Kontakte und wurde mehrfach wegen Kirchen- und Grabschändung bestraft."

Rick Montalban nickte.

Er bedeckte einige Augenblicke lang das Gesicht mit der rechten Hand, atmete schließlich tief durch und schüttelte stumm den Kopf.

"Soy católico, Senor Trevellian. Ich bin tiefgläubiger Katholik und meine Tochter ließ sich das Zeichen Satans zwischen die Schulterblätter tätowieren, sodass man es immer sehen konnte, wenn sie etwas tiefer ausgeschnittene Kleidung trug. Madre de Dios! Zu meiner Zeit trugen nur Sträflinge Tätowierungen, heute laufen selbst Töchter aus gutem Hause damit herum! Aber dieses Zeichen..." Er schüttelte den Kopf.

"Sie wollte provozieren", mischte sich José ein. "Ich glaube, sie hat das mit dem Satanismus gar nicht so richtig ernst genommen. Das war ein Spaß für sie."

"José, wie redest du? Ist das ein Spaß, nachts in Kirchen einzudringen und im Haus des Herrn - en la casa de dios! - abartige Rituale mit Schweineblut durchzuführen, Grabsteine umzuwerfen oder zu besudeln? Ist das ein Spaß?" Rick Montalban drehte sich um, ging ein paar Schritte bis zur Fensterfront. Er blickte hinaus in Richtung Atlantik. Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen. Schließlich fuhr "El Columbiano" in gedämpftem Tonfall fort: "Ich hatte immer gehofft, dass Dolores auf den rechten Weg zurückfindet. Schon um ihrer Mutter willen..."

"Mit Ihrer Frau hätten wir auch gerne gesprochen", sagte ich.

"Das dürfte kaum möglich sein."

"Warum?"

"Meine Frau ist seit längerem psychisch krank. Sie befindet sich im Sanatorium von Ebenezar, Rhode Island. Falls Sie versuchen sollten, Kontakt mit ihr aufzunehmen, werde ich alles tun, um das zu verhindern."

"Soll das seine Drohung sein?"

"Fassen Sie es auf, wie Sie wollen, Mister Trevellian. Wenn meine Frau von Dolores' Tod erfährt, könnte das ihren Zustand sehr verschlimmern. Und nun betrachte ich dieses Gespräch als beendet." Montalban wandte sich an die Bodyguards, die die ganze Zeit über gewartet hatten. "Bringt sie raus!"

"Moment!", rief ich.

"Ihre Zeit ist um, G-man. Ich gehe nicht davon aus, dass sie ernsthaft daran interessiert sind, den Mord an meiner Tochter aufzuklären. Ich wüsste also nicht, worüber wir weiter zu reden hätten!"

"Wir können das Gespräch gerne im Bundesgebäude an der Federal Plaza fortsetzen!", erwiderte ich. "Aber vielleicht sind Sie ja vernünftig und geben uns doch noch ein paar Auskünfte."

Rick Montalban lag eine Erwiderung auf der Zunge. José legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter. El Columbiano beruhigte sich daraufhin wieder etwas und schwieg. José sagte ein paar Sätze auf Spanisch.

Anschließend wandte sich der Kronprinz des Kolumbianers an uns. "Mein Vater ist sehr mitgenommen von der Nachricht, die Sie ihm überbringen mussten. Ich glaube, es wäre das Beste, wir setzen das Gespräch ein anderes Mal fort. Ich werde in der Zwischenzeit mit meinem Vater reden..."

Ich hatte eigentlich keine Lust, diesen Gangsterboss so einfach davonkommen zu lassen. Rick Montalban spielte mit falschen Karten. Er verschwieg uns etwas.

Aber Milo nickte mir leicht zu. "Geht schon in Ordnung!"

Milo hatte Recht.

Dieser Mann mochte ein übler Krimineller sein. Aber in diesem Moment war er in erster Linie ein Vater, der seine Tochter verloren hatte. Dafür hatte er Mitgefühl verdient, was auch immer er auf dem Kerbholz haben mochte.

José wechselte ein paar Sätze Spanisch mit den Bodyguards und begleitete uns anschließend anstelle dieser kampflustigen Gorilla-Meute zum Wagen.

"Ich sehe ein, dass Sie unsere Hilfe brauchen", erklärte er, als wir allein waren. "Im Grunde haben wir dasselbe Interesse: Der Mord an meiner Schwester muss aufgeklärt werden."

"Ihr Vater scheint das etwas anders zu sehen", erwiderte ich.

"Mein Vater gehört einer anderen Generation an. Er kam als Einwanderer und musste sich nach oben kämpfen. Die Polizei war dabei nicht immer ein Freund und Helfer für einen jungen Latino, der es zu etwas bringen wollte. Ich hingegen bin hier geboren."

Mir kommen die Tränen, dachte ich. Jetzt versuchte José seinen Vater als armes Opfer von polizeilicher Diskriminierung darzustellen. Ehe ich etwas erwidern konnte, reichte José Montalban mir eine Visitenkarte.

"Besuchen Sie mich in meinem Firmenbüro in der Seventh Avenue. Da können wir uns vielleicht ungestört unterhalten, Agent Trevellian."

"Darauf werde ich bestimmt zurückkommen", antwortete ich.

6

"Was hältst du von dem Kerl?", fragte Milo, nachdem wir das abgezäunte Gelände rund um das Montalban-Anwesen verlassen hatten.

"Von wem sprichst du? Dem Vater oder dem Sohn?"

"Ich meine José."

"Ein aalglatter Typ. Ehrlich gesagt, kann ich mir noch keinen Reim darauf machen, was für ein Spiel er spielt."

"Ich habe das Gefühl, dass es gewisse Gegensätze zwischen Vater und Sohn gibt, Jesse."

"Ja, das glaube ich auch."

"Vielleicht kommt ja wirklich etwas dabei heraus, wenn wir uns mit ihm allein unterhalten. Und gleichgültig, womit Dirty Rick uns auch drohen mag – vielleicht werden wir uns doch noch mit Mrs. Montalban reden müssen!"

"Mal abwarten."

Ich schaltete einen Gang höher und beschleunigte den Sportwagen etwas.

"Dirty Rick hat uns nach Strich und Faden belogen", sagte Milo. "Ich wette, es gab eine Entführung. Und ich wette auch, dass der große Boss ganz genau weiß, wer dahinterstecken könnte. Aber davon sagt er uns keinen Ton, weil er selbst mit den Schuldigen abrechnen will!"

"Falls das stimmt, haben die Betreffenden keine besonders große Lebenserwartung mehr."

"Du sagst es."

"Über eins komme ich allerdings bei Montalban nicht hinweg, Milo!"

"Worüber sprichst du?"

"Ich nehme Dirty Rick ab, dass er als tiefgläubiger Katholik über das Satanszeichen auf dem Rücken seiner Tochter entsetzt war..."

"Mal ehrlich: Man muss doch kein Katholik sein, um davon nicht begeistert zu sein, Jesse?"

"...aber dieser Kerl findet nichts dabei, mit dem Finger zu schnipsen und eine Armee von Killern von der Kette zu lassen, wenn ihm irgendein Gesicht nicht passt. Mal davon abgesehen, dass seinetwegen Tausende Crack-Süchtige wie lebende Zombies durch die Gegend gehen, bevor sie schließlich jämmerlich krepieren."

"Sei fair, Jesse: Die Justiz konnte ihm nie etwas nachweisen!"

"Dass du in diesem Zusammenhang von Fairness sprichst, Milo, wundert mich! Wenn du mich fragst, ist nicht fair, dass dieser Verbrecher seinen Kopf bislang immer aus der Schlinge ziehen konnte!"

Milo zuckte die Achseln. "Schätze, den Teil über Nächstenliebe hat El Columbiano in der Bibel rasch überschlagen..."

7

Von der Müllkippe an der Cannary Lane aus machten sich Clive Caravaggio und unser indianischer Kollege Orry Medina auf den Weg zu Dolores Montalbans New Yorker Wohnung.

Sie lag in Greenwich Village in einem Gebäude, das im Stil der sogenannten Cast Iron-Architektur errichtet worden war, die von großen, zusammengeschweißten Metallplatten gekennzeichnet wurde. Man imitierte damit den Stil von Fabrik- und Lagerhallen, die diesen Stadtteil ursprünglich geprägt hatten. In den sechziger und siebziger Jahren hatten sich viele Künstler hier niedergelassen, die in den Achtzigern von den Yuppies verdrängt worden waren. Aber in Häusern zu wohnen, die wie Industriebauten aussahen, war immer noch hip.

Dolores Montalbans Wohnung lag im vierten Stock.

Clive und Orry ließen sich mit dem Aufzug hinauffahren.

Ein Team der Scientific Research Division war verständigt worden und auf dem Weg hier her. Es würde dafür sorgen, dass Dolores' Zimmer erkennungsdienstlich genauestens unter die Lupe genommen wurde.

Unsere Kollegen erreichten die massive Stahltür.

Sie stand einen Spalt offen. Am Zustand des Schlosses war zu sehen, dass sie gewaltsam geöffnet worden war.

Clive und Orry wechselten einen kurzen Blick. Beide griffen zu den Dienstpistolen vom Typ SIG Sauer P226 und postierten sich rechts und links der Tür.

Offenbar gab es noch jemanden, der sich für die Wohnung von Dolores Montalban interessierte.

Orry öffnete mit einem Tritt die Tür. Sie flog zur Seite.

Clive stürzte mit der SIG im Anschlag in den Raum. "FBI! Hände hoch!", rief er. Orry sicherte ihn von hinten.

Dolores Montalbans Wohnung war etwa zweihundert Quadratmeter groß und bestand aus einem einzigen Raum. Das Inventar war fast ausschließlich in den Farben schwarz und weiß gehalten.

Von der Decke hing ein Mobilé. Totenschädel in unterschiedlicher Größe baumelten an hauchdünnen Fäden. Beim geringsten Luftzug tanzten sie wild durcheinander.

In der Mitte des Raumes befand sich eine Regalwand. In den Regalen standen ein paar Bücher, außerdem mehrere Kristallkugeln, Tierschädel und Geistermasken.

Hinter der Regalwand bewegte sich etwas.

Eine Gestalt tauchte hervor. MPi-Feuer knatterte los.

Kristallkugeln und Tierschädel wurden aus dem Regal gefeuert.

Clive warf sich zu Boden. Im Fallen schoss er die SIG ab, rollte sich dann herum, während neben ihm die Kugeln den Teppichboden zerfetzten.

Orry konnte gerade zwei Schüsse in Richtung des MPi-Schützen abfeuern. Der G-man zuckte zurück. Neben der Tür fand er Deckung, presste sich gegen die Wand.

"Durchs Fenster!", rief jemand.

Offenbar war außer dem MPi-Schützen noch jemand hinter den Regalen. Die MPi knatterte erneut los. Diesmal in die andere Richtung. Fensterscheiben zersprangen. Ein schwarz gekleideter Mann sprang nach draußen, krümmte sich dabei wie ein Embryo zusammen. Er rollte sich auf dem etwa andertthalb Meter tiefer gelegenen Dach des Nachbargebäudes ab, rappelte sich auf.

Der MPi-Schütze ballerte noch einmal mit seiner Waffe durch den Raum.

Clive hechtete sich hinter eine niedrige Ledercouch.

Gut ein Dutzend MPi-Kugeln rissen die Polster auf.

Orry tauchte aus seiner Deckung hervor, ging volles Risiko und feuerte seine SIG ab.

Der MPi-Schütze wurde am Oberkörper erwischt, taumelte und fiel zu Boden. Die Regalwand riss er mit sich.

Clive sprang auf.

Mit der SIG in der Rechten lief er auf den am Boden liegenden MPi-Schützen zu. Der Kerl war zweifellos tot.

"Alles klar, Clive?", fragte Orry, der ebenfalls herbeieilte.

"Mit mir schon!", erwiderte der Italoamerikaner.

"Ich kauf mir den zweiten Mann!", versprach Orry.

Er wandte sich der zerschossenen Fensterfront zu.

Von dem Flüchtenden war nichts zu sehen.

Orry schwang sich aus dem Fenster und landete auf dem angrenzenden Dach des Nachbarhauses.

Er rannte in geduckter Haltung vorwärts. Die Schrägung und der rutschige Untergrund sorgten dafür, dass Orry sein Tempo bremsen musste, wollte er nicht hinunter stürzen.

Clive Caravaggio verständigte inzwischen unser Field Office.

Orry erreichte das Ende des Dachs, blickte hinab.

Sofort zuckte er zurück, als auf ihn geschossen wurde.

Dicht zischte das Projektil an seinem Kopf vorbei.

Eine Feuertreppe führte hinunter in einen Hinterhof. Orry hörte die schnellen klappernden Schritte auf den Metallrosten, aus dem die Feuertreppe bestand. Er blickte über den Dachvorsprung. Der G-man sah kurz das Gesicht des Flüchtenden. Es war zu einer Maske der Angst erstarrt. Umrahmt wurde es von gelocktem Haar. Ein dünner Oberlippenbart gab dem unteren Teil des Gesichts Kontur. Orry schätzte den Kerl auf nicht älter als 25 Jahre.

Er stand auf einem Treppenabsatz und ballerte in die Höhe.

Orry feuerte zurück.

Es machte klick. Der Flüchtende hatte das Magazin seiner Waffe offenbar leergeschossen. In Panik lief er weiter.

"Stehenbleiben!", rief Orry.

Der G-man landete mit einem Satz auf dem obersten Absatz der Feuertreppe. Orry nahm immer mehrere Stufen auf einmal und hetzte weiter hinunter.

 

Der Lockenkopf war inzwischen mit einem tollkühnen Sprung auf dem Asphaltbelag gelandet. Er schrie auf, rollte sich einigermaßen geschickt auf dem Boden ab, wie man es in Selbstverteidigungskursen beigebracht bekam.

Der Flüchtende hielt sich kurz den Fuß, rappelte sich auf und hetzte weiter.

Orry feuerte einen Warnschuss ab.

"Bleiben Sie stehen, Mann!"

Der Lockenkopf dachte gar nicht daran. Keuchend rannte er weiter. Er riss das leere Magazin aus dem Griff seiner Pistole heraus, schleuderte es von sich und griff in die Jackentasche, um ein neues hervor zu holen.

Der Hinterhof wurde von drei Seiten durch Gebäude unterschiedlicher Höhe begrenzt. Einige Pkw parkten hier. Außerdem standen auf der linken Seite einige überfüllte Müllcontainer. Auf der vierten Seite befand sich eine zwei Meter hohe Mauer, die von einer Zufahrt zur nahen Melrose Street unterbrochen wurde.

Eine Schranke versperrte den Weg. Nur wer die richtige Chipcard hatte, konnte mit dem Wagen hindurch.

Der Lockenkopf lief in Richtung der Müllcontainer.

Er schob hastig das frische Magazin in die Waffe, wirbelte herum und feuerte in Orrys Richtung.

Der G-man hatte gerade den letzten Absatz der Feuertreppe erreicht.

Für seinen Gegner war er ein Ziel wie auf dem Präsentierteller.

Orry duckte sich, feuerte zurück.

Dicht zischten die Kugeln des Lockenkopfs an ihm vorbei. Manche wurden von den Metallstreben der Feuertreppe als tückische Querschläger weitergeschickt.

Der Lockenkopf rettete sich inzwischen hinter einen Mercedes.

Orry nahm die letzten Stufen mit einem Sprung. Der Lockenkopf tauchte kurz aus seiner Deckung hervor, aber Orry rettete sich hinter einen Chevy. Dessen Seitenscheiben zerbarsten Augenblicke später unter dem Beschuss des flüchtigen Gangsters.

Der Lockenkopf rollte sich unter den parkenden Fahrzeugen hinweg.

Clive Caravaggio hatte inzwischen die Feuertreppe erreicht, hetzte mit weiten Schritten hinunter.

Im Hintergrund waren die Sirenen der Einsatzfahrzeuge des NYPD zu hören. Verstärkung war also im Anmarsch.

Der Lockenkopf tauchte plötzlich zwischen zwei parkenden Fahrzeugen hervor und feuerte auf Clive. Clive duckte sich und feuerte zurück.

Orry schnellte ebenfalls aus seiner Deckung hervor und schoss.

Der Lockenkopf duckte sich und rannte zu den Müllcontainern. Im nächsten Moment war er hinter ihnen verschwunden.

Orry setzte zu einem Spurt an.

Er verständigte sich mit Clive durch ein paar Handzeichen.

Von zwei verschiedenen Seiten pirschten sich die beiden G-men langsam an die Müllcontainer heran. Sie trafen dabei auf kein Gegenfeuer mehr.

Vorsichtig schlich Orry vorwärts, hielt sich dabei dicht an einem der Container. Als er ihn umrundet hatte, schnellte er mit der Waffe im Anschlag hervor.

Eine Gestalt tauchte von der anderen Seite her auf.

"Clive!", entfuhr es Orry. Unser indianischer Kollege senkte die Waffe.

Von dem Lockenkopf war nichts zu sehen.

Clive machte ein ziemlich ratloses Gesicht. "Verdammt, wo ist der Kerl?" Er blickte sich suchend um.

"Jedenfalls kann er sich nicht in Luft aufgelöst haben", brummte Orry. Auch er ließ den Blick schweifen. Schließlich deutete er zu einem Rost, das den Schacht zu einem Kellerfenster schützte.

Orry machte zwei schnelle Schritte darauf zu, bückte sich und hob mit einem Ruck das Rost an. Er schleuderte es zur Seite.

Der Schacht war etwa ein Meter fünfzig tief.

Das kaum gesicherte Kellerfenster war eingetreten worden.

"Bingo", flüsterte Orry. Er nahm die SIG mit beiden Händen. Ein Satz und er war unten im Schacht. Im Inneren des Kellers herrschte Halbdunkel.

Ein Geruch stieg von dort unten empor.

Gas!

Clive sah, wie selbst das bronzefarbene Gesicht unseres indianischen Kollegen ziemlich blass wurde.

"Hey, was ist los, Orry?"

"Hinlegen!"

Orry schwang sich aus dem Schacht, presste sich auf den Boden.

Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Explosionsgeräusch. Der Keller verwandelte sich in einen Glutofen.

Glut und Hitze schossen aus dem Kellerfenster heraus.

Genau wie Orry hatte sich Clive flach auf den Boden gelegt, in der Hoffnung, nicht allzu viel abzubekommen.

Risse bildeten sich im Brownstone-Gemäuer.

Orry und Clive rappelten sich auf, spurteten los und entfernten sich so schnell wie möglich vom Explosionsort.

"Der Kerl muss verrückt geworden sein!", stieß Orry hervor. "Sich selbst in die Luft zu jagen!"

Clive zuckte die Achseln. Sein Griff ging zum Handy. Außer den Verstärkungskräften von NYPD und FBI musste jetzt auch der Fire Service gerufen werden.

"Oben in Dolores Montalbans Wohnung wartet übrigens noch eine Überraschung", sagte Clive, bevor er Verbindung bekam.

Orry hob die Augenbrauen.

"Wovon sprichst du?"

"Im Bad liegt ein Toter. Während ich die Verstärkung rief, warf ich einen kurzen Blick hinein und sah den Kerl in der vollen Wanne liegen."