Die Besprecherin

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Die Besprecherin
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A. A. Kilgon

Die

Besprecherin

Roman

Impressum:

A. A. Kilgon

Die Besprecherin

Kontakt: aakilgon@yahoo.com

© Dr. Barbara Noglik, Dorfstrasse 133, 18356 Fuhlendorf (Deutschland)

Lektorat: Dr. Harry Noglik und Margrit Noglik

Cover-Foto „Der Mond“: © Christine Jabusch

ISBN 978-3-9819404-2-8

1. Auflage November 2017

Redaktionsschluss: 18.11.2017

Dieser Roman ist kein medizinischer Ratgeber. In allen Krankheitsfällen wird empfohlen, ärztlichen Rat oder den Rat eines Heilpraktikers einzuholen.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der elektronischen, mechanischen und fotografischen Vervielfältigung, der Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen, des Nachdruckes in Zeitungen oder Zeitschriften, des öffentlichen Vortrages, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und Video, auch einzelner Textteile sowie Übersetzung in andere Sprachen.

Kapitel 1

Mit einem nachdenklichen Blick nach draußen stellte Anneke fest, dass der Regen an diesem Tage offenbar nicht aufhören wollte. Die unzähligen Tropfen sammelten sich und rannen in Sturzbächen an den riesigen Scheiben des Autohauses herab. Es machte den Eindruck, als wollte draußen alles davon schwimmen. Der Himmel über Berlin weinte. Er war genauso grau und wolkenverhangen wie ihre Stimmung es seit Monaten war. Nicht ein einziger, winziger Sonnenstrahl hatte es an diesem Oktobertag geschafft, das unangenehme Grau zu durchdringen. Aber dieser Tag war nur ein weiterer in einer langen Kette von Tagen, die Anneke am liebsten aus ihrem Gedächtnis und aus ihrem Leben gestrichen hätte. Während sich ein älteres Paar und ein dicklicher Herr mittleren Alters mit einer riesigen Nase und in einem blauen Arbeitsanzug dem Service-Tresen näherten, hinter dem Anneke saß, klingelte zu allem Überfluss auch noch das Telefon. Schnell, bevor die im Anmarsch Befindlichen unmittelbar vor ihr standen, riss sie den Telefonhörer ans Ohr und sagte mit starrem, bleichem Gesicht, aber unnatürlich überfreundlicher Stimme wohl schon zum fünfzigsten Male an diesem Tage: „Autohaus Johannes Schwarzpeter, sie sprechen mit Anneke Siebenbaum vom Service. Was kann ich für sie tun?“ Ein unwilliges Brummen war das erste, was vom anderen Ende der Leitung her zu vernehmen war. Dann grollte eine dumpfe, bedrohlich wirkende Männerstimme: „Hier ist Kratzke. Wat is´n bei euch los? Meine Frau hat erst nächste Woche einen Termin zum Reifenwechsel bekommen. Jeht´s noch? Pennt ihr da alle oder wat? Wat is´n dat für´n Service! Ick bin schon seit Jahren Kunde bei euch. Andere Leute müssen och arbeiten. Ick zum Beispiel!“ Anneke unterbrach ihn so freundlich wie möglich: „Herr Kratzke, ich weiß, dass sie bei uns Kunde sind. Aber momentan wollen alle ihre Reifen wechseln lassen. Das geht leider nicht. Wenn das Wetter so überraschend umschlägt wie jetzt, dann kommen von einem Tag auf den anderen plötzlich alle Kunden mit der gleichen Bitte hierher. Es ist für uns aber leider nicht möglich, alle gleichzeitig zu bedienen, selbst wenn wir wollten. Das verstehen sie doch sicher. Nächste Woche ist doch auch schon bald und es ist doch auch noch gar kein Frost! Wir vergeben inzwischen Termine für übernächste Woche. Von daher ist ihr Termin doch gar nicht so schlecht!“ Die Männerstimme am anderen Ende unterbrach sie barsch und posaunte nun noch aufgebrachter: „Noch keen Frost??? Von daher is mein Termin gar nich so schlecht???“, echote er. „Woll´n se mich verarschen? Für mich is dat Missmanagement! Wenn mir wat passiert mit meinen Sommerlatschen oder meener Frau, dann mach ick sie dafür verantwortlich. Das dat klar is! Ne Unverschämtheit is dat! Jetzt geben se mir ma´n Chef, aber bissken schnell!“ Der Mann gab eine Art missbilligendes Grunzen von sich. Anneke merkte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie war diesem Druck einfach nicht mehr gewachsen und es wurde immer schlimmer. Das Gefühl in ihr war umso beklemmender, da die Tabletten, die ihr ihr Psychologe seit zwei Jahren verordnete, offenbar auch nicht so richtig ihre Wirkung taten. Inzwischen fragte sie sich sogar, ob sie das überhaupt jemals getan hatten. Wenigstens hatte sie sich das bisher immer einbildet, sich innerlich daran festgeklammert. Sie versuchte, sich nichts von ihrem inneren Desaster anmerken zu lassen und sagte so freundlich sie konnte: „Herr Kratzke, ich kann ihren Ärger verstehen. Ich weiß nicht, ob der Herr Ströbe in seinem Büro ist. Ich kann aber mal versuchen, sie zu ihm durchzustellen. Soll ich das tun?“ Anneke vernahm wieder ein aufgebrachtes Schnaufen im Hörer und dann ein ärgerliches: „Ströbe? Mit dem hab ick letztens erst jesprochen. Der hat ooch keene Ahnung, der Windbeutel! Aber meinetwegen jeb´n se mir den. Lebt der olle Schwarzpeter überhaupt noch oder lässt der sich bloß verleugnen? Der is ja wohl schon ewig nich mehr da jewesen!“ Als Anneke nichts sagte, fuhr er fort: „Na jut, dann verbinden se mich eben mit dem Ströbe. Wenigstens mit dem!“ Anneke drückte sofort auf die Tastatur ihrer Telefonanlage und legte den Hörer so schnell auf, als wäre er glühend heiß. Das Senioren-Paar am Tresen vor ihr wartete derweil geduldig und der Dicke im Blaumann stand hinter ihnen und hatte es offenbar eilig. Anneke sah, wie er nervös von einem Bein auf das andere trat. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, aber vielleicht sah sie mittlerweile auch schon überall Gespenster. Vielleicht war sie inzwischen einfach nur zu sensibel für diese Arbeit geworden. Wohl schon zum zwanzigsten Mal an diesem Tage fragte sie sich, warum ihr das erst in letzter Zeit so auffiel. Immerhin arbeitete sie nun schon seit fast sechzehn Jahren an diesem Arbeitsplatz. Nachdem sie mit den älteren Herrschaften etwas langsam, aber ohne Schwierigkeiten die Formalitäten für die Reparatur ihrer in die Jahre gekommenen Limousine erledigt hatte und die beiden sich zum Gehen wandten, war der ungeduldige Blaumann dran. Er war etwa zwei Meter groß und als er direkt vor Annekes Servicetresen stand, empfand sie ihn als bedrohlich. Er hatte eine Halbglatze und war an der rechten Schläfe mit einem kleinen Totenkopf tätowiert. Seine dunklen Augen starrten sie an. Ungeduldig zog er die rechte Augenbraue hoch. Anneke glaubte sich in diesem Moment daran zu erinnern, dass er vor einigen Wochen einen gebrauchten, dunkelblauen Kleintransporter T4 für seine Firma bei ihnen gekauft hatte. Sie hatte seine Rechnung geschrieben, so wie fast alle Rechnungen des Autohauses über ihren Schreibtisch gingen. Jetzt lächelte der Mann merkwürdig kalt, während er sagte: „Mit dem T4 stimmt was nicht. Sie wissen schon. Mit dem, den ich vor acht Wochen bei ihnen gekauft habe. Da ist was mit der Bremsanlage und mit dem Getriebe ist auch was nicht in Ordnung. Viel zu verschlissen. Auch Gas-, Kupplungs- und Bremspedal haben starke Abnutzungsspuren. Schien mir im Nachhinein verdächtig. Hab ich leider erst zu spät gesehen. Und weil der Wagen ständig Schwierigkeiten machte, hab ich ihn in eine Werkstatt bei mir in der Nähe gebracht. Und was soll ich ihnen sagen? Der Meister dort meint, dass der Tacho manipuliert ist. Und nun? Was sagen sie dazu?“ Er stützte beide Unterarme auf den Tresen vor ihr und lehnte sich unangenehm weit herüber. Anneke lief bei seinen Worten ein eiskalter Schauer über den Rücken. Schon wieder! Sollte das in Zukunft etwa öfter vorkommen? Das war nun schon der dritte verdächtige Fall innerhalb dieses Jahres. Manipulationen an Gebrauchtwagen waren in der Vergangenheit, jedenfalls unter Schwarzpeter, nie vorgekommen. Allem Anschein nach galt das aber wohl nicht mehr, seit Ströbe hier das Sagen hatte. Anneke hatte keine Ahnung davon, was hinten in der Werkstatt seitdem vor sich ging. Tatsache war aber, dass sich in den letzten drei Jahren an ihrem Arbeitsplatz so einiges verändert hatte und das leider nicht zum Guten. Seitdem sich der bei allen beliebte Eigentümer und ursprüngliche Gründer der Firma, Johannes Schwarzpeter, kaum noch in seinem Autohaus blicken ließ und sich die meiste Zeit des Jahres über in Namibia bei der Großwildjagd aufhielt, hatte sich durch den von ihm eingestellten Prokuristen Heiner Ströbe leider so einiges verändert. Anneke bemühte sich in Anbetracht der unangenehmen Situation ganz besonders freundlich zu bleiben. „Wenn sie möchten, dann sage ich jemandem aus der Werkstatt Bescheid. Einem Meister zum Beispiel, mit dem sie das besprechen können. Ich kann leider nichts dazu sagen.“ Anneke hob entschuldigend die Hände. Der Blaumann nickte finster und murmelte: „Wenn ich darum bitten darf? Der Chef wäre mir allerdings lieber. Ich habe hier auch das Gutachten der anderen Werkstatt mitgebracht, auf dem sie mir die festgestellten Mängel bescheinigen.“ Er wühlte in einer schmalen Mappe aus schwarzem Leder und förderte einen Bogen Papier zutage, während er missmutig fortfuhr: „Habe den Wagen extra hier bei ihnen gekauft. Wenn ich gewusst hätte was hier los ist, dann hätte ich mir das Ding gleich bei ebay ersteigern können oder mich auf ein Inserat in der Tageszeitung gemeldet. Hätte mir vermutlich einen Haufen Geld gespart. Wenn es hier genauso zugeht wie bei diesen unseriösen Wald- und Wiesenhändlern, dann hätte ich euch mein Geld nicht in den Rachen geschmissen. Ist ja wirklich unglaublich! Wenn ich so arbeiten würde, dann wäre meine Firma schon längst pleite, das könn´ se mir glauben!“ Anneke hatte inzwischen den Werkstattmeister informiert und dieser war auch umgehend erschienen, wobei er sich umständlich die schmutzigen Hände an einem großen, ölverschmierten Lappen abwischte. Er nahm den Blaumann mit zu einem Tisch in der Ecke hinter dem Tresen, der für Kundengespräche reserviert war. Anneke war heilfroh darüber, das Problem erst einmal los zu sein. Erschöpft strich sie sich eine ihrer rotblonden, leicht gewellten Haarsträhnen aus der Stirn, löste die Haarspange aus Metall aus ihrer Frisur und raffte ihr langes Haar erneut unauffällig zusammen, bevor sie die Haarspange schnell wieder zusammendrückte. Sie hatte rasende Kopfschmerzen. Bereits am Morgen war sie, wie so oft in letzter Zeit, mit einem Brummschädel aufgewacht. Noch nicht einmal die Einnahme einer ihrer starken Migränetabletten hatte daran etwas geändert. Sie wollte jedoch nicht noch eine davon nehmen. Nach dem Lesen des Beipackzettels erschien ihr das zu riskant. Ihr war bei dieser Gelegenheit klar geworden, dass ihre hämmernden Kopfschmerzen fast lächerlich waren gegen das, was sie von den Tabletten möglicherweise bekommen konnte. So entschied sie sich dafür, den Schmerz zu ertragen, auch wenn er ihr alles abverlangte. Bis zum Feierabend waren es nur noch zwei Stunden und wenn sie sich bemühte, dann würde sie die Zeit vermutlich auch ohne weitere Tablette überstehen. Sie nahm sich vor, es zumindest zu versuchen. Anneke sehnte so sehr den Feierabend herbei! Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Seit vielen Monaten ging das nun schon so. Wenn sie es genau betrachtete, dann waren es eigentlich schon fast zwei Jahre. Zwei Jahre, in denen für sie alles immer schlimmer geworden war. Ihr Erschöpfungszustand hatte in jedem Falle irgendwann nach dem Erscheinen von Heiner Ströbe in der Firma begonnen. Das war, nachdem Schwarzpeter sich immer seltener an seinem Arbeitsplatz hatte sehen lassen. Es war allen klar gewesen, dass es so nicht bleiben konnte. Die Zahlen der Firma waren damals langsam immer schlechter geworden und auch jetzt, nach den Jahren mit Ströbe, waren sie nie wieder so gut geworden wie unter ihrem alten Chef. Noch dazu schien es Anneke in letzter Zeit tatsächlich so, als ob in der Werkstatt neuerdings nicht mehr alles mit rechten Dingen zuging. Das war vermutlich noch nicht einmal die Schuld der Kollegen. Erstens hatten die außer Schwierigkeiten nichts davon zu erwarten und zweitens würde das ganz bestimmt auch gegen die Berufsehre des alten Werkstattmeisters Horst Kummer gehen. Aber selbst der schien wohl nichts dagegen unternehmen zu können. Er hätte sich nur nach einer neuen Arbeitsstelle umsehen können. Fraglich war aber, ob er sich das so kurz vor seinem Ruhestand noch antun wollte. Während Anneke noch immer darüber nachdachte, dass solche Dinge bei ihrem alten Chef nie passiert wären, fiel ein Schatten auf ihren Arbeitsplatz. Vor ihr stand Ströbe. Der Herr hatte tatsächlich geruht, aus seinem Büro zu ihr herab zu steigen. Das bedeutete gewöhnlich nichts Gutes. Unwillkürlich verkrampfte sich alles in ihr und sie begann zu zittern. Ihre Nerven lagen blank. Sie fragte sich sofort, was wohl der Grund seines Auftauchens war. Sie sah diesen unangenehmen Menschen zweifellos lieber ganz aus der Ferne. Hatte sie es nicht schwer genug damit, dass sie sich tagein, tagaus mit den oft schwierigen und in letzter Zeit immer häufiger unzufriedenen Kunden am Servicetresen herumplagen musste?

 

Hinter Ströbe, der jetzt in seinem eleganten, dunkelgrauen Designeranzug mit Schlips wie aus dem Ei gepellt vor ihr stand, sah sie ihre einzig wirklich verhasste Kollegin Renate Reffler mit einem Aktenordner unter dem Arm und einem hämischen Grinsen im Gesicht vorbeischleichen. Nach den Jahren kannte sie ihre Mimik und ihr bösartiges Wesen zur Genüge. Höchstwahrscheinlich freute sie sich gerade diebisch darüber, dass der Kelch diesmal an ihr vorbei gegangen war, und dass Ströbes Erscheinen nicht ihr, sondern ihrer Kollegin galt. Wie immer steckte sie vermutlich voller Boshaftigkeit. Mit den Jahren hatten sich ihre Charakterzüge sogar in ihr Gesicht eingebrannt. Manchmal fragte sich Anneke, ob die anderen Kollegen das nicht auch sahen. Ströbe stoppte ihre Gedanken, indem er näselte: „Frau Siebenbaum! Würden sie bitte in Zukunft die Freundlichkeit haben, ihre Unstimmigkeiten, oder wie ich das nennen soll, mit den Kunden selbst zu klären? Sie wollen mir doch wohl nicht im Ernst zumuten, dass ich mich jetzt auch noch für Probleme bei der Terminvergabe für die Reifenwechsel interessieren soll? Vielleicht sind sie der Meinung, dass ich nichts Besseres zu tun habe. Aber ich bin überzeugt davon, dass sie keine Vorstellung vom Umfang und von der Wertigkeit meiner Arbeit haben! Ich bitte Sie! Wo kommen wir denn da hin, wenn sie als Angestellte dieses Hauses noch nicht einmal in der Lage sind, die banalsten Probleme allein zu lösen?“ Anneke sah ihn nur ganz kurz an und erwiderte eingeschüchtert: „Aber der Kunde wollte doch mit ihnen selbst sprechen! Was sollte ich denn da machen?“ Ströbe verdrehte arrogant seinen Kopf wie ein Kakadu und sah auf sie herab, während er erwiderte: „Dann sagen sie eben in Zukunft, dass ich nicht da bin und fertig. Herrgott! Bin ich denn hier der Einzige, der noch denken kann? Das wird ja immer verrückter in dieser Firma!“ Er wandte sich brüsk ab und ging mit seinem gegelten, schwarzen Haar und seinen hochglanzpolierten Schuhen in derselben Farbe, die aussahen als wären sie gelackt, zurück in sein Büro. Seine Sohlen quietschten bei jedem Schritt auf dem anthrazitfarbenen, glänzenden Marmor-Fußboden des Verkaufsraumes, auf dem ein halbes Dutzend hochglanzpolierter Neuwagen stand. Es roch nach Gummi und irgendwie „technisch“. Anneke hatte diesen Geruch früher immer gemocht. Früher, als sie ihre Arbeit an diesem Ort noch gern gemacht hatte. Nachdem Ströbe gegangen war, brach sie zitternd zusammen und ließ sich auf ihren Bürostuhl sinken. Ein neugieriges Kundenpaar, das sich gerade mit ihrem Kollegen Henry, einem der Autoverkäufer, einen neuen SUV ansah, beäugte sie interessiert. Henry gab sich sichtlich Mühe, die beiden von ihr abzulenken. Es wollte ihm trotzdem nicht recht gelingen. Die fremde Frau schaute immer wieder zu ihr herüber.

Susanne, die Mitarbeiterin aus dem Lager, die in diesem Moment eigentlich nach Hause gehen wollte, blieb neugierig bei Anneke am Tresen stehen und schaute sie fragend an. „Ist alles in Ordnung bei dir? Du machst irgendwie nicht gerade so den Eindruck! Soll ich dir einen Kaffee holen?“ Anneke nickte stumm und Susanne verschwand unverzüglich im Pausenraum, in dem die Kaffeemaschine für die Mitarbeiter stand. Mit einer dampfenden Tasse kehrte sie kurze Zeit später zurück und stellte sie direkt vor Anneke auf den Tresen. Nachdenklich musterte sie dann ihr Gesicht und sagte mit einem tröstenden Unterton in der Stimme: „Mach dir nichts draus! Das ist heute wieder so ein schrecklicher Tag! Bei uns war er auch schon, der Ströbe. Dieser Wichtigtuer! Ich wünschte, der alte Schwarzpeter wäre wieder da und dieser Lackaffe würde verschwinden. Aber darauf können wir wohl lange warten. Der Schwarzpeter hat bestimmt was Besseres zu tun, als hier im ungemütlichen Deutschland zu hocken und sich den Hintern abzufrieren. Der lässt sich in Namibia die Sonne auf den Bauch scheinen und lacht wahrscheinlich den ganzen Tag lang.“ Sie hob resignierend ihre Schultern und fuhr gleich darauf fort: „Ich frage mich sowieso, was der Ströbe da hinten in seinem Büro immer so Wichtiges zu tun hat. Wenn er so kreativ und so arbeitseifrig wäre wie er tut, dann müssten unsere Zahlen ja durch die Decke gehen. Tun sie aber nicht. Mein Lagerbestand wird auch immer kleiner. Der Kerl will mir jede Schraube und jeden Filter vorschreiben, die ich bevorraten darf. Das musst du dir mal vorstellen! Als ob er davon eine Ahnung hätte! Und ich muss mich dann mit den Leuten in der Werkstatt rumärgern, die sich beschweren, dass das Banalste nicht auf Lager ist. Und sie haben Recht! Ich weiß beim besten Willen nicht, wieso der Schwarzpeter gerade diesen Idioten eingestellt hat. Der hat doch überhaupt keine Ahnung! Der wird uns noch zu Tode wirtschaften. Und mit den Tachos gibt es neuerdings auch so eine Regelung, die niemand wissen darf. Der alte Meister hat´s mir gesteckt. Du weißt, was ich meine? Anneke nickte unsicher und Susanne flüsterte: „Bei einem gut erhaltenen Wagen aus erster Hand kann man schon mal 100.000 Kilometer oder noch ein bisschen mehr verschwinden lassen, wenn alles andere soweit in Ordnung ist. Nur bei den Autos, die schon mehrere Vorbesitzer hatten, sollen sie vorsichtiger sein. Könnte ja sein, dass da schon mal jemand anders dran manipuliert hat. Das hat Ströbe ihnen angewiesen. Ist natürlich intern und höchst vertraulich. Natürlich wird das nicht immer gemacht. Bietet sich ja auch nicht immer an. Aber wenn es möglich ist, dann sollen sie´s machen.“ Sie schaute Anneke empört an und setzte dann immer noch flüsternd hinzu: „Das hätte Schwarzpeter nie zugelassen! Der hatte wenigstens seine Prinzipien! Und selbst wenn es nur 10.000 Kilometer sind, die weggeschummelt werden. Mal ehrlich! So etwas geht doch nicht! Ich meine, wir sind doch ein seriöses Autohaus! Das dachte ich zumindest immer. Ich meine, die Leute vertrauen uns. Wir verlieren unsere Kunden, wenn das jetzt so gehandhabt werden soll. Das ist doch echt ´ne Schweinerei! Und irgendwie fällt das auf uns alle zurück. Auf dich und auf mich – und auf alle, die wir hier arbeiten!“ Susanne schüttelte ihre dunkelbraune Pagen-Frisur, so dass ihre Haare nach allen Seiten flogen. Dann schaute sie Anneke wütend durch die Gläser ihrer randlosen Brille an. Ihre Augen funkelten. „Die Kunden zahlen hier ziemlich viel Geld, wie wir alle wissen, und am Ende sind sie nicht besser dran, als bei jedem x-beliebigen Autohändler auf der grünen Wiese. Zumindest dann, wenn sie nicht gerade einen Neuwagen kaufen. Darüber darf ich überhaupt nicht nachdenken! Ich weiß gar nicht, wie das rechtlich ist. Selbst wenn man da nur notgedrungen mitmacht, so wie ich oder auch nur davon weiß….. Das macht mich alles krank! Manchmal denke ich, ich suche mir woanders ´ne Stelle und kündige. Aber woanders ist es vielleicht auch nicht besser. Man kann sich schließlich auch verschlechtern. Weißt du was ich meine?“ Anneke nickte müde, während sie tonlos sagte: „Weiß ich! Klar kann man sich immer noch verschlechtern. Auch wenn man denkt, das geht gar nicht mehr. Ich habe auch schon darüber nachgedacht.“ Susanne legte freundschaftlich ihre Hand auf Annekes Arm, während sie ihr erleichtert zuraunte: „Mensch, da bin ich aber froh! Keiner spricht hier mehr Klartext und die Reffler ist eine ganz besonders linke Bazille! Die hab ich sowieso gefressen! Die hat´s drauf und verpfeift einen am Ende noch beim Chef. Diese Frau ist so bösartig! Die zuckt mit keiner Wimper und liefert dich ans Messer. Das schwör ich dir! Der Schwarzpeter konnte auch nie besonders gut mit ihr. Aber als der noch da war hat sie sich wenigstens noch benommen.“ Sie schaute Anneke empört an und fuhr gleich darauf fort: „Guck dir doch bloß mal ihre Augen an! Das sind so böse Augen! Und immer so rabenschwarz geschminkt wie bei einem Gruftie. Und dann dieser falsche Blick! Selbst wenn ich sie manchmal bloß am Telefon habe, weil ich sie was fragen muss, dann läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Die klingt immer so bedrohlich! So, als würde sie ständig versuchen, mich einzuschüchtern. Ich weiß gar nicht, wie unsere Kunden diese Frau aushalten. Die ist doch grottenschlecht fürs Geschäft! Ich an deiner Stelle könnte hier nicht mit ihr arbeiten.“ Susanne schüttelte sich und machte ein angewidertes Gesicht. Anneke klang resigniert: „Was soll ich denn tun? So lange wie die schon hier ist? Die werden wir nicht mehr los! Außerdem nimmt die doch niemand, diese schreckliche Frau. Du musst hier immer verdammt aufpassen, was du sagst. Sie hört alles und vor allem das, was sie nicht hören soll. Ganz schlimm ist das! Außerdem versucht sie ständig, uns alle gegeneinander auszuspielen. Dummerweise ist sie aber die einzige, die sich mit unserem vorsintflutlichen Computersystem so richtig gut auskennt, wenn´s mal wieder klemmt. Das haben wir ja nun schon mehrmals erlebt. Und genau das ist es, womit sie den Ströbe immer wieder erpressen kann. Der kennt sich doch selbst nicht aus!“ Susanne stieß die Luft missbilligend durch die Nase aus und antwortete: „Puhhhh! Ich bin so froh, dass ich sie im Lager nicht so dicht neben mir habe!“ Dann schüttelte sie ihren Kopf, nicht ohne sich unauffällig nach ihr umzusehen. Anneke beneidete Susanne von Herzen um ihren Arbeitsplatz auf der anderen Seite des Gebäudes. Sie hatte definitiv die besseren Karten, wenn es darum ging, sich von der meistgehassten Kollegin in der Firma abzugrenzen.

Aufmerksam glitt Susannes Blick über Annekes Gesicht. Mitleidig sagte sie leise: „Meine Güte! Du bist ja immer noch so fix und fertig! Man braucht nicht hellsichtig zu sein, um das zu sehen.“ Dann wühlte sie in ihrer Handtasche und zog schließlich ihr Smartphone heraus, während sie weitersprach: „Ich habe ja wenigstens meinen Sohn und die Enkelkinder. Auch wenn das mit der Schwiegertochter nicht so richtig geklappt hat. Die Kinder sind Gott sei Dank bei meinem Sohn geblieben, also bei uns. Das macht mich glücklich und meinen Mann auch.“ Einen Augenblick lang sah sie sehr zufrieden aus, während sie Anneke das Foto ihres lachenden Sohnes mit seinen beiden kleinen Kindern aus dem Sommerurlaub in Griechenland vor die Nase hielt. „Und das ist auch ein Grund dafür, warum ich es hier immer noch aushalte. Weil zu Hause mein Leben ist und nicht hier. Ich mach hier nur noch Dienst nach Vorschrift seit Schwarzpeter weg ist. Das hab ich mir damals geschworen! Das hat Ströbe sich selbst zuzuschreiben. Der mit seiner ekelhaften, besserwisserischen Art! Soll er mich halt kündigen, wenn´s ihm nicht passt. Aber so eine Blöde wie mich findet er nicht nochmal und das weiß er auch. Ich glaube, der merkt noch nicht mal, wie unbeliebt er bei uns allen hier ist. Mir wird übel, wenn ich nur an ihn denke!“ Mitfühlend glitt ihr Blick noch einmal über Annekes bleiches Gesicht. Die beiden Frauen kannten sich seit vielen Jahren, auch wenn sie in der Firma für gewöhnlich nicht unmittelbar zusammen arbeiteten. Mit gedämpfter, fast flüsternder Stimme sagte Susanne, indem sie sich über den Tresen leicht nach vorn beugte: „Ich hab den Eindruck, als ob du dich gar nicht mehr erholen kannst. Seitdem du das letzte Mal mit deinem Burnout krankgeschrieben warst, bist du nie wieder richtig gesund geworden, scheint mir. Ich habe gelesen, diese Erschöpfungszustände können sich über Jahre hinziehen. Ich beneide dich wirklich nicht. Leider kann man nicht viel dagegen tun. Du brauchst einfach Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe und nicht diesen Stress hier! Lass dich einfach nochmal krankschreiben, wenn´s dir nicht gut geht. Es hilft doch nichts anderes! Jedenfalls ist es das, was ich an deiner Stelle tun würde.“ Anneke nickte zögernd. Sie starrte vor sich hin, während sie leise hervor presste: „Weißt du, wenn da nicht immer diese mörderischen Kopfschmerzen wären! Es fängt am Hinterkopf an und zieht dann hoch bis zur Stirn und weiter zu den Augen. Aber ich hab das alles schon abklären lassen. Die Klinik hat nichts gefunden. Sie fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. „Und außerdem bin ich ständig fix und fertig. Ich könnte immer nur schlafen, wenn´s nach mir ginge. Ich kann zwölf Stunden ohne Unterbrechung im Tiefschlaf liegen und wache danach trotzdem wie gerädert auf. Ich komme gar nicht mehr so richtig zu mir. Es wird und wird einfach nicht besser. Ich fühl´ mich hundsmiserabel. Und ich hab überhaupt keine Kraft mehr. Vor allem in meinen Armen nicht. So kenn´ ich mich so gar nicht! Und dieses Herzstolpern, das ich neuerdings habe, macht mir noch mehr Angst.“ Susanne nickte und erwiderte überzeugt: „Ich sag´ dir was, Anneke. Er ist bestimmt immer noch da, dein Burnout! Jedenfalls hört es sich für mich so an. Bei meiner Nachbarin war das genauso.“ „Bei deiner Nachbarin?“, fragte Anneke mehr aus Höflichkeit, denn aus wahrem Interesse. Susanne nickte traurig, während sie erklärte „Die hatte das auch. Alles in allem, glaube ich, hat sie sich insgesamt acht Jahre lang damit herumgequält.“ Entsetzt riss Anneke die Augen auf und starrte Susanne entgeistert an. „Acht Jahre? Du liebe Güte! Dann hab ich ja noch was vor mir! Und was ist mit ihr geworden? Ich meine, mit deiner Nachbarin?“ Susanne schaute resigniert auf den glänzenden Fußboden. „Tot. Hat sich im Sommer aufgehängt. Auf dem Dachboden ihres Hauses. Sie konnte wohl nicht mehr. Kann man ja auch verstehen. Sie hat sich aber immer extrem zusammengerissen und total unter Kontrolle gehabt. Hat auch immer brav ihre Medikamente eingenommen. Die Pillen von ihrem Psycho-Doc, du weißt schon. Auf den hat sie sowieso nie was kommen lassen. Wenn man es nicht gewusst hätte, dann hätte man es ihr gar nicht angemerkt. Nur eben, dass sie nicht mehr arbeiten gehen konnte. Sie hätte sich wohl besser selbst eingestehen sollen, dass sie schwer krank ist. Ich meine, das ist es doch alles nicht wert! Oder? Wenn ich bedenke, dass sie jetzt tot ist? “ Anneke starrte ihre Kollegin entsetzt an. Nachdem Renate Reffler die beiden Frauen zu diesem Zeitpunkt bereits eine ganze Weile von ihrem Arbeitsplatz in ihrem gläsernen Büro aus missgünstig beobachtet hatte und sogar ihre Bürotür geöffnet hatte, entschied sich Susanne dann doch besser zum Gehen. Sie lächelt mitleidig: „Dann bis morgen! Ruh dich aus und leg dich hin, wenn du nach Hause kommst. Alles andere hilft sowieso nicht. Ich bin ganz sicher, dass es bei dir auch ein Burnout ist. Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte. Du solltest nochmal zum Arzt gehen. Vielleicht bist du auch noch blutarm dazu oder so. Damit kann man sich auch so schlapp fühlen! Hab ich gerade gestern erst gelesen.“ Sie wirkte unschlüssig, während sie das sagte. Anneke schüttelte sofort den Kopf. „Mit meinem Blut ist alles ok. Das wurde gerade erst untersucht. Aber mach dir bloß keine Sorgen um mich. Ich komm´ schon durch. Werd´ mich bestimmt wieder erholen. Jetzt, wo Max in seine Studenten-WG gezogen ist hab ich auch wieder ein bisschen mehr Ruhe zu Hause. Er hat letzten Monat angefangen BWL zu studieren.“ Sie zuckte die Schultern. „Hätte ja auch weiter zu Hause wohnen können. Aber er wollte nicht. Das kann ich auch irgendwie verstehen. Mit 19 denkt man noch, man kann die Welt aus den Angeln heben.“ Sie lächelte matt, während sie fortfuhr: „Aber was soll´s! Ich hab kein Problem damit. Hauptsache, er tut dort auch was für sein Studium und lässt sich nicht hängen. Alles andere muss mir egal sein. Er ist halt jetzt erwachsen – mehr oder weniger jedenfalls. Das sagt er mir auch ständig. Er hat ja auch irgendwie Recht damit.“ Susanne, die sich bereits einige Schritte in Richtung Tür entfernt hatte, kam noch einmal zurück. „Das kenn ich! Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn der Sohn auszieht. Ich erinnere mich noch genau daran. Das war anfangs komisch, aber dann fand ich´s gut. Es ist ja auch die Chance, seinem eigenen Leben endlich wieder mehr Beachtung beizumessen.“ Sie lächelte. „Ich drück´ dir jedenfalls die Daumen, dass dein Max sein Studium gut hinbekommt. Ein Hochschulstudium ist ja nicht so leicht. Wenn es einfach wäre, dann wären wir schließlich alle Akademiker.“ Sie lachte. „Naja…. Du bist ja sogar einer. Schade eigentlich, dass das hier in diesem Laden keine Rolle spielt. Was hast du gleich studiert?“ Anneke lächelte und ein kleiner Anflug von Stolz schwang in ihrer Stimme, als sie sagte: „Ich hab Biotechnologie studiert. Hab sogar gut abgeschlossen. Aber nach Max hat es mit dem Einstieg in den Beruf leider nicht so schnell geklappt wie ich gehofft hatte und mein Geschiedener hat darauf bestanden, dass ich schnell Geld verdiene. Hab ich dir, glaub ich, irgendwann schon mal erzählt. Wir brauchten das Geld ja damals tatsächlich mit dem Kind und der neuen Wohnung und all dem. Ich hätte besser abwägen müssen. Nur mein Ex-Mann war halt sehr materialistisch eingestellt. Wer weiß, vielleicht hätte es doch gar nicht so lange gedauert, bis ich eine Stelle für meinen Abschluss gefunden hätte. Aber das ist jetzt leider Geschichte. Den Rest kennst du. Jetzt bin ich schon seit sechzehn Jahren hier. Immer dasselbe Autohaus. Manchmal glaube ich, das reicht jetzt. Und wie lange bist du inzwischen schon hier? Vierzehn Jahre?“ Susanne schüttelte den Kopf. „Es sind erst elf. Aber das reicht auch. Ich denke, diese Sache haben wir gemeinsam.“ Sie kniff ein Auge zu und lachte. „Bis morgen dann! Erhol dich gut! Es wäre keine gute Idee, am Ende auch noch so zu enden wie meine Nachbarin.“ Anneke schüttelte den Kopf. „Auf gar keinen Fall wäre es das! Aber es ist wirklich schwer, sich dagegen zu stemmen. Ich fühl´ mich manchmal wie gelähmt. Aber man darf sich eben nicht hängen lassen. Dann hat man verloren. Ich weiß schon.“ Sie winkte der Kollegin flüchtig zu: „Mach´s gut, Susanne! Schönen Feierabend!“