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Die Heirath im Omnibus

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Die Heirath im Omnibus
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Erster Band

Erstes Kapitel

Was will ich schreiben?

Die Geschichte der Ereignisse von wenig mehr als einem Jahre der vierundzwanzig, aus welchen mein Leben bis jetzt zusammengesetzt ist.

Warum habe ich diese Aufgabe unternommen?

Weil ich glaube, daß meine Erzählung Gutes stiften kann; weil ich hoffe, daß sie früher oder später mit Nutzen zu Rathe gezogen werden wird.

Es hat Menschen gegeben, welche, ehe sie den Geist aufgaben, ihren Körper den Aerzten vermachten und der Wissenschaft gleichsam zum Opfer brachten.

Auf dieselbe Weise bringe ich mit diesen Blättern, die ich geschrieben, während alle Freude und alle Hoffnung in mir mit dem Tode ringt, mein Herz, welches von dem Seziermesser schon zerfleischt worden, der menschlichen Natur zum Opfer.

Ich wünsche meine Geständnisse zu schreiben. Vielleicht ist dies meine Entschuldigung, die ich vorzubringen wünsche.

Ich schicke mich an, die Geschichte eines Fehltrittes zu erzählen, der in seinem Beginne wenig tadelnswerth erschien, in seinem Fortgange strafbar und in seinem Ergebnisse verhängnißschwer und unheilvoll ward.

Ich würde mich sehr glücklich fühlen, wenn die offene und aufrichtige Darlegung, die ich machen will, die Gründe hervorhebt, welche mir zur Entschuldigung gereichen.

Wenn diese Blätter nach meinem Tode gefunden werden, so wird man sie nach ruhigem, wohlwollendem Durchlesen vielleicht so beurtheilen wie es Reliquien zukommt, welchen die eisige Kälte des Grabes etwas Feierliches und Ehrfurcht erweckendes verleiht.

Dann wird der über mich gefällte strenge Urtheilsspruch ohne Zweifel Reue erwecken. Die neue Generation, welche in unserem Hause heranwächst, wird gelehrt werden, von meinem Andenken mitleidig und menschenfreundlich zu sprechen, und wer weiß, ob man nicht beim stillen Nachdenken in den einsamen Stunden der Nacht einige Sympathie für mich empfindet.

Bewogen durch diese Gründe und andere, die ich fühle, aber nicht analysieren kann, mache ich mich schon jetzt an die Aufgabe, die ich mir gestellt habe.

Versteckt unter den fernen Hügeln des abgelegensten Westens Englands, unter den schlichten Bewohnern eines kleinen Fischerdorfes an der Küste von Cornwalls lebend, kann ich kaum erwarten, daß meine Aufmerksamkeit von meiner Arbeit abgelenkt werde oder daß meine Trägheit der raschen Lösung meiner Aufgabe hinderlich sei.

Ich lebe unter der fortwährende Drohung eines Schlages, der mich in jedem Augenblicke treffen und mein Schicksal enden kann, ohne daß ich weiß, in wie kurzer Frist und auf welche Weise er mich ereilen wird.

Ein tödlicher entschlossener Feind, der geduldig genug ist, um Tage, ja Jahre lang auf die günstige Gelegenheit zu warten, verfolgt fortwährend im Dunkeln meine Spur, und indem ich meine Bekenntnisse anfange, kann ich weder sagen, daß die nächste Stunde mir noch gehören, oder daß mein Leben bis zum Abende dauern werde.

Das Bedürfniß nach Thätigkeit verzehrt mich, ohne mir Ruhe oder Rast zu gönnen, und der Gedanke an den Tod stachelt mich an.

Nicht um mir die Zeit zu vertreiben, beginne ich daher meine Erzählung, und dieser Tag, wo ich sie beginne, ist mein Geburtstag. Heute vollende ich mein vierundzwanzigstes Lebensjahr, und zum ersten Male trete ich in ein neues Jahr, ohne mich durch eine einzige freudige Stimme begrüßen zu hören, ohne einen liebenden Wunsch zu beantworten zu haben.

Aber dennoch folgt mir noch ein Blick des Willkommens und liebkost mich in der Einsamkeit. Es ist der Blick der Natur an einem reizenden Morgen, so wie ich ihn von dem Fenster meines Zimmers aus sehe.

Die Sonne umsäumt die purpurnen Wolken mit immer heller funkelnden goldenen Fransen und durchbohrt sie mit ihren Strahlen.

Die Fischer spannen ihre Netze aus, um sie am Fuße der Felsen trocknen zu lassen. Die Kinder spielen um die auf den Strand gezogenen Boote herum und der frische, reine Hauch der Seeluft weht landwärts. Alles glänzt und schimmert und erfreut das Auge; alle Töne und Klänge ergötzen das Ohr in dem Augenblicke, wo meine Feder die ersten Zeilen schreibt, welche die Geschichte meines Lebens eröffnen.

Zweites Kapitel

Ich bin der zweite Sohn eine englischen Parlamentsmitgliedes und Besitzers eines großen Vermögens. Unsere Familie ist, glaube ich, eine der ältesten dieses Landes. Von väterlicher Seite war sie schon vor der Eroberung Englands durch die Normannen bekannt und angesehen, und von mütterlicher Seite ist der Stammbaum ohne so weit zurückzureichen, doch ein noch vornehmerer.

Außer einem Bruder, der älter ist als ich, habe ich eine Schwester, die jünger ist. Meine Mutter starb kurz darauf, nachdem sie dieses letzte Kind zur Welt geboren.

Umstände, die man bald kennen lernen wird, zwangen mich, dem Namen meines Vaters zu entsagen. Die Ehre legte mir die Verpflichtung auf, darauf zu verzichten. Sie gestattet mir nicht einmal, ihn hier zu erwähnen.

deshalb habe ich an die Spitze dieser Blätter bloß meinen Taufnamen gesetzt und nicht glaubt, daß Etwas darauf ankäme, den anderen erfundenen Namen, den ich mir gegeben, beizufügen, besonders da ich ihn vielleicht sehr bald mit einem andern vertausche.

Es wird deshalb auch weiter nicht sonderbar erscheinen, wenn ich im Laufe dieser Erzählung meinen Bruder und meine Schwester ebenfalls nur mit ihren Vornamen anführe und alle Mal da, wo der Name meines Vaters zum Vorscheine kommen sollte, den Platz leer lasse, damit mein Familienname in dieser Niederschrift eben so verborgen bleibe, wie ich ihn der Welt verborgen halte.

Als meine Mutter starb, war ich noch so klein, daß ich nur eine unklare Erinnerung an sie bewahren konnte. Ich entsinne mich allerdings noch genau einer Dame mit einem schmalen, bleichen, sehr sanften und sehr guten Gesichte, durch dessen Güte aber die Schwermut hindurch schimmerte.

Dieser Charakter ihrer Züge war mir trotz meiner noch so großen Jugend aufgefallen und meine Liebe zu ihr war natürlich mit Ehrerbietung gemischt.

Stundenlang saß ich auf ihren Knieen und schaute neugierig in ihre durchsichtigen, reinen Augen, in welchen sich so große Schwermuth aussprach oder spielte mit ihren mit kostbaren Ringen geschmückten Fingern, während sie mich liebkoste und mir die Zeit zu vertreiben suchte.

Oft fragte ich»mich in diesen wonnevollen Stunden, ob sie wohl jemals eben. so Kind gewesen sei wie ich, oder ob sie nicht vielmehr eine jener liebenswürdigen Damen aus einem Feenmährchen sei, die nur den passenden Augenblick erwartete, um mich mit sich in irgend ein Zausberland hinwegzunehmen, wo ein ewiger Sommer herrschte und die Blumen niemals welkten.

Ich hatte von alten Dienern und Freunden unserer Familie sagen hören, sie sei nicht immer so ruhig und so Herrin ihrer selbst, wie ich sie mir meinen Erinnerungen gemäß vorstelle. Ein schwerer Kummer habe ihre Jugend getrübt und zuweilen verrathe ihr Benehmen die Leiden ihres Herzens. Mein Vater sprach niemals ein Wort über diesen Gegenstand. Und mag das, was ich gehört hatte, wahr oder nicht wahr sein, so ist sie jetzt nicht mehr, und jener schwere Kummer, wenn sie ihn zu ertragen gehabt, ist mit ihr in das Reich des ewigen Trostes eingegangen.

An den Thoren dieser göttlichen Stätte beginnt der ewige Schatten, in welchen jeder Schmerz sich versenkt und vernichtet, während alle Freuden dem Schooße des in ihm strahlenden Lichtes entkeimen.

Die Geschichte meiner Kindheit und meines Knabenalters bietet nichts sehr Interessante oder sehr Neues.

Meine Erziehung« war dieselbe wie die hundert anderer Kinder, welche derselben Stufe der Gesellschaft angehörten wie ich.

Ich ging zuerst in eine öffentliche Schule und dann auf eine Universität, um meine Ausbildung in bester Form zu vollenden.

Mein Universitätsleben hat nicht eine einzige angenehme Erinnerung in mir zurückgelassen Die Schmeichelei schien mir hier im Principe festzustehen. Sie folgte den Söhnen der Lords auf die Straße und errichtete ihnen in dem Speisesaale eine besondere Estrade«.

Man zeigte mir den unterrichtetsten und kenntnißreichsten Studenten meiner Universität. Es ein junger Mann von exemplarischem Lebenswandel und mit wunderbaren Fähigkeiten begabt, als Plebejer aber mußte er am untersten Ende sitzen.

Einige Minuten später zeigte man mir den Sohn des Marquis von ***, der beim letzten Examen durchgefallen war. Er speiste isoliert in seiner Vornehmheit an einem hohen Tische, von welchem aus er die ehrwürdigen Professoren dominirte, die ihn um seiner Nichtigkeit willen erhöhet hatten.

Als ich diese Bemerkungen machte, war ich eben erst in die Universität eingetreten und in dieser »ehrwürdigen Pflanzschule des Wissens und der Religion« willkommen geheißen worden.

Ich erwähne diese Umstände, so geringfügig und alltäglich sie auch sind, weil. sie der hohen Meinung, die ich von dieser Corporatiom zu der ich nun ebenfalls gehörte, hatte, den ersten Schlag versetzen.

Es dauerte nicht lange, so betrachtete ich diese klassischen Studien wie eine nothwendige Wunde, die man zu ertragen wissen müsse. Ich suchte nicht, mich vor meinen Studiengenossen auszuzeichnen, und schloß mich keiner Coterie an. Ich legte mich auf das Studium der Literaturen Frankreichs, Italiens und Deutschlands. Ich suchte nur gerade so viel Kenntnisse zu erwerben als erfordert wurden, um das Examen bestehen und graduirt werden zu können, und als ich die Universität verließ, stand ich hier im Rufe eines phlegmatischem zurückhaltenden Menschen.

In mein väterliches Haus zurückgekehrt, ward ich, da ich der jüngere Sohn war und keins der Familiengüter erben konnte, dafern nicht etwa mein älterer Bruder starb, ohne Kinder zu hinterlassen, aufgefordert, mich einem bestimmten Berufe zu widmen.

Die Fürsprache meines Vaters konnte mir in mancher sehr ehrenwerthen Carriere förderlich sein, denn er stand zu mehreren Mitgliedern der Regierung in guten Beziehungen.

 

Die Kirche, die Marine, die Armee und als letzte Zuflucht der Juristenstand, standen meiner Wahl offen. Ich entschied mich für letzteren.

Mein Vater schien durch diesen Entschluß ein wenig überrascht zu werden, aber er machte darüber keine Bemerkung, sondern sagte weiter Nichts als daß die Jurisprudenz eine sehr gute Bahn sei, welche in das Parlament führe.

Wie dem aber auch sein mochte, so war mein Ehrgeiz nicht daraus gerichtet, mir einen Namen im Parlamente zu machen, sondern vielmehr darauf, mir einen Ruf in der Literatur zu gründen. Ich hatte diese mühsame, aber ruhmvolle Laufbahn bereits betreten und war entschlossen, darin auszuharren. Der Beruf, der die Ausführung meines Planes am meisten erleichterte, war der, den ich im Voraus entschlossen war, zu ergreifen, und deshalb wählte ich den Juristenstand.

Ich begann das selbstständige Leben unter sehr günstigen Auspizien. Obschon jüngerer Sohn, wußte ich doch, daß mein Vater, abgesehen von seinem Grundbesitz« reich genug war, um mir einen Jahresgehalt auszusetzen, mit dem ich bequem leben konnte.

Ich hatte keine kostspieligen Gewohnheiten, keine Geschmacksrichtungen, die ich nicht sofort hätte befriedigen können, und weder Lasten noch Verantwortlichkeiten irgend welcher Art zu tragen. Es stand mir frei, die Pflichten meines Berufes auszuüben oder nicht, wie es mir eben belieben würde.

Ich widmete mich daher gänzlich und ohne Rückhalt der Literatur, denn ich wußte, daß der Kampf, den ich aushalten mußte, um mir einen Namen zu machen, niemals ein Kampf sein würde, um mein Brot zu verdienen.

Der Morgen meines Lebens kündigte sich daher an gleich einem lachenden Sonnenaufgang.

Hier könnte ich versuchen, meinen eigenen Charakter zu skizzieren, so wie er zu jener Zeit war; aber wo ist der Mann, welcher sagen kann: »Ich will die Tiefe meiner Laster ergründen und den Umfang meiner guten Eigenschaften ermessen«, und der im Stande wäre, sein Versprechen zu halten? Wir können uns weder selbst kennen noch beurtheilen. Andere dagegen urtheilen über uns, kennen und aber nicht. Gott allein kennt und urtheilt richtig.

Mein Charakter möge sich daher ganz allein zeichnen, so weit ein menschlicher Charakter in den Augen der Welt sich vollständig zeichnen kann – durch meine Thaten, wenn ich die verhängnißvolle Krisis auseinandersetzen werde, welche der Hauptgegenstand dieser Erzählung ist.

Vorher muß ich jedoch noch ein wenig mehr über die Mitglieder meiner Familie sprechen. Zwei von ihnen wenigstens spielen eine wichtige Rolle in der Reihe der Thatsachen, welche ich hier dem Papiere überliefere.

Ich maße mir nicht an, ihre Charaktere beurtheilen zu wollen – ich beschreibe sie bloß. – Ob ich sie richtig schildere oder ob ich dabei Fehlgriffe begehe – das weiß ich nicht. Ich male sie so, wie sie meinem Dafürhalten nach sind.

Drittes Kapitel

Meinen Vater betrachtete ich stets – ich spreche in der vergangenen Zeit von ihm, weil wir jetzt auf immer getrennt sind und weil er fortan für mich eben so todt ist, als ob das Grab sich über ihm geschlossen hätte – meinen Vater, sage ich, betrachtete ich stets als den stolzesten Mann, den ich jemals gekannt. –

In der; Regel und gewöhnlichen Begriffen nach erkennt, man den Stolz an einer steifen Haltung, an einem schroffen Ausdrucke der Gesichtszüge an einem trocknen, strengen Tone der Stimme, an verächtlichen, gegen die Armuth geschleuderten Sarkasmen und endlich an weitschweifigen Auslassungen über die Vorzüge hohen Ranges und vornehmer Geburt.

Der Stolz meines Vaters aber gab sich auf diese Weise durchaus nicht zu erkennen.

Es war vielmehr ein kalter, negativer, höflicher, gleichsam mit seinem Blute gemischter Stolz, welcher dem durch dringendsten Scharfblicke Trotz bieten konnte.

Die meisten der Leute, welche mit ihm in Berührung kamen, erkannten hiervon nur zwei scharf ausgesprochene Züge: die vollkommene Artigkeit, die ausgesuchte und beinahe weibische Zartheit seiner Manieren und die außerordentliche Wohlanständigkeit und Distinction seines Redens.

Jeder, der ihn in seinen Beziehungen zu seinen Pächtern auf einem seiner Landgüter beobachtet, Jeder, der die Art und Weise gesehen, auf welche er den Hut abnahm, wenn er zufällig der Frau eines dieser Pächter begegnete, Jeder, der Zeuge des herzlichen Empfanges gewesen wäre, welchen er einem Manne aus dem Volke bereitete, wenn derselbe zugleich ein Mann von Genie war, würde nimmermehr geglaubt haben, daß mein Vater stolz sei.

Bei solchen Gelegenheiten blickte wenigstens sein Stolz, wenn er dessen besaß, nirgends hindurch.

Beobachtete man ihn aber zum Beispiel, wenn ein Autor und ein ahnenloser, neubackener Pair sich bei ihm begegneten, so konnte man ganz gewiß bemerken, auf wie verschiedene Weise er einem und dem andern die Hand drückte.

Die cordiale Höflichkeit – dies sah man sofort war ganz für den Schriftsteller, der aus Gleichheit des Standes keinen Anspruch machte, die gemessene Höflichkeit dagegen für den Betitelten, denn in dieser Beziehung trat sein Stolz in dem, was er Besonderes hatte, sofort zu Tage.

Hier war der kitzlige Punkt. Aristokratie des Ranges ohne ahnenreiche Abkunft war für ihn gar keine Aristokratie. Auf diese war er eifersüchtig; sie war ihm verhaßt.

Obschon im Grunde genommen nur bürgerlich, glaubte er doch in socialer Beziehung über jedem andern Menschen, mochte er Baronet oder Herzog sein, zu stehen, sobald dessen Familie weniger alt war als die seine.

In unserer Häuslichkeit erfüllte er seine Pflichten gegen seine Familie mit edler, zarter Sorgfalt. Ich glaube, er liebte uns nach seiner Weise Alle; wir, seine Kinder, aber besaßen nur die Hälfte seines Herzens. Seinen Ahnen gehörte die andere und wir bildeten bloß einen Theil der Güter, die er zu verwalten hatte.

Wir besaßen die ganze Freiheit, die uns gefallen konnte; er war nachsichtig, zeigte niemals Mißtrauen gegen uns und machte nie von ungerechter Strenge Gebrauch.

Seiner klar und bestimmt ausgesprochenen Ansicht nach wußten wir, daß wir uns vor allen Thaten und Worten hüten sollten, welche geeignet waren, den Ruhm und das Ansehen unserer Familie zu trüben, denn dies allein war das verhängnißvolle Verbrechen, für welches wir niemals Verzeihung erwarten konnten.

Er selbst übernahm die Aufgabe, uns die Grundsüße der Religion, der Ehre und der Weltkenntniß einzuprägen. Im Uebrigen schien er sich auf unser moralisches Gefühl, auf unsere Dankbarkeit, auf unser eigenes Verständniß der Pflichten und der Vorrechte unseres Ranges zu verlassen.

Mit Einem Worte, er zeigte sich so gegen uns, daß wir nicht einen einzigen rechtmäßigen Grund hatten, uns zu beklagen, und dennoch weiß ich nicht, welche Lücke sich in diesen häuslichen Beziehungen fühlbar machte.

So unbegreiflich und sogar lächerlich dies auch mehreren Personen scheinen mag, so ist es doch nicht weniger wahr, daß keines von uns auf vertrautem Fuße mit ihm stand.

Ich will damit sagen, daß er unser Vater war, aber nicht unser Kamerad oder Genosse. In seinem unveränderlichen, ruhigen Wesen lag Etwas, was uns gebieterisch in der Entfernung hielt.

Niemals fühlte ich mich verlegener – und diese Verlegenheit empfand ich damals, ohne mir Rechenschaft davon zu geben – als wenn es sich zufällig traf, daß ich mit ihm allein speisen mußte. Niemals theilte ich ihm jene kleinen Pläne zu Vergnügungen mit, mit denen alle kleinen Knaben sich beschäftigten, und als Jüngling sprach ich mit ihm nie anders als ganz oberflächlich von meinen Zukunftsträumen.

Der Grund hiervon lag nicht etwa darin, daß ich erwartet hätte, jenes Vertrauen sich entwickeln zu sehen, welches von ihm streng niedergehalten ward, denn er war dessen vollkommen unfähig. Er schien mir bloß von zu hohem Wesen zu sein als daß er sich bis zu uns hätte erniedrigen können, und es war mir, als ob seine Gedanken und die unseren gar nichts Gemeinsames haben könnten.

deshalb besprach ich alle meine Entwürfe für Schulferien oder andere Feiertage mit alten Dienern. Meine ersten stylistischen Versuche las ich meiner Schwester vor, aber niemals drangen sie in das Cabinet meines Vaters.

Bei der Art und Weise, aus welche er meinem Bruder und mir kundgab, daß wir uns sein Mißfallen zugezogen, erschreckte er uns eben durch seine Ruhe. Er machte einen seltsamen, unaussprechlichen Eindruck aus uns, und uns diesem ruhigen Zorne auszusetzen, war das größte Unglück, welches wir fürchteten.

Als wir noch klein waren, gab sich, wenn wir irgend einen kleinen Fehltritt begangen hatten, seine Gereiztheit durch kein anderes äußeres Zeichen kund, als durch den kleinen rothen Flecken, den wir in gewissen Augenblicken sicher waren, auf seiner Wange erscheinen zu sehen. Dabei aber ward sein Benehmen gegen uns ein ganz anderes.

Er hielt uns keine Strafpredigten; er drohte uns nicht; er belegte uns nicht mit irgend einer körperlichen Züchtigung aber wenn wir vor ihm erschienen, begegnete er uns – besonders wenn unser Fehler den Charakter der Niedrigkeit oder Gemeinheit gehabt hatte – mit einer kalten, verächtlichen Höflichkeit, die uns das Herz zuschnürte.

In solchen Fällen nannte er uns, wenn er das Wort an uns richtete, nicht bei unseren Vornamen. Wenn wir ihm zufällig außerhalb der Zimmer begegneten, verfehlte er nicht umzukehren und unsere Annäherung zu meiden. Wenn wir eine Frage an ihn richteten, antwortete er uns so lakonisch als möglich, gerade als ob er es mit völlig fremden Personen zu thun hätte.

Er benahm sich mit Einem Worte so, daß er uns deutlich zu sagen schien: »Ihr habt Euch der Freundschaft Eures Vaters unwürdig gemacht. Er läßt Euch diese Unwürdigkeit auf die nieder drückendste Weise fühlen.«

Dieses häusliche Fegefeuer mußten wir oft Tage, zuweilen sogar ganze Wochen lang aushalten.

Für unsere kindische Empfindlichkeit – ganz besonders für die meine – gab es keine Schmach, die mit dieser – so lange sie dauerte – zu vergleichen gewesen wäre.

Auf welchem Fuße mein Vater mit meiner Mutter lebte, weiß ich nicht. Hinsichtlich meiner Schwester war sein Verfahren stets das alte und er bewies ihr jene liebreiche Galanterie, die sonst nur der Jugend eigen zu sein pflegt. Er war gegen sie stets aufmerksam und begegnete ihr wie einer vornehmen Dame, deren Wirth er gewesen wäre. Selbst wenn wir allein waren, führte er sie stets bei der Hand in das Speisezimmer gerade als ob er eine Herzogin zu einem Banket führte, bei welchem die strengste Etikette herrschte.

Uns kleinen Knaben erlaubte er, den Frühstückstisch zu verlassen, ehe er selbst davon aufstand, aber nie eher als meine Schwester sich erhob.

Wenn ein Diener seiner Pflicht gegen ihn untreu ward, so hatte er Aussicht, Verzeihung zu erlangen; hatte er dagegen ein Versehen gegen meine Schwester begangen, so konnte er sicher darauf rechnen, auf der Stelle fortgeschickt zu werden.

In seinen Augen vertrat seine Tochter die Stelle ihrer Mutter und repräsentirte dieselbe. Er betrachtete sie nicht bloß als sein Kind, sondern auch als die Herrin des Hauses, und es war ein gewissermaßen wohlthuender Anblick, das Gemisch von aristokratischer Courtoisie und väterlicher Anhänglichkeit zu sehen, welches sich in seinen Manieren malte, wenn er sie jeden Morgen, als er sie zum ersten Male sah, auf die Stirn küßte.

Was körperliche Erscheinung betraf, so war mein Vater von Mittelstatur. Sein Körperbau war zart und schwächlich, der Kopf klein, aber anmuthig und gerade aus den Schultern ruhend, die Stirn mehr keck als majestätisch, die Gesichtsfarbe eigenthümlich bleich, ausgenommen in Augenblicken der Aufregung, denn dann war er, wie ich schon bernerkt habe, zu lebhaftem Erröthen geneigt.

Seine großen grauen Augen hatten in ihrem Blicke etwas Gebieterisches und verliehen seiner Physiognomie einen Ausdruck von gemessener Festigkeit und Würde, wie man ihn selten antrifft. Das Spiel dieses Auges verrieth augenscheinlich seine Abstammung von reinem Geschlechte, seine alten genealogischen Vorurtheile und den ritterlichen Biedersinn und das Ehrgefühl welches ihn beherrschte.

Diese männliche Energie, welche sich in dem obern Theile seines Gesichts kundgab, war indessen nicht stark genug, um den reinen normännischen Typus übersehen zu lassen, der sich in den weibischen und zarten Umrissen des untern Theils aussprach.

Sein Lächeln zeichnete sich durch seine Sanftheit aus und war beinahe das eines Weibes. Wenn er sprach, so zitterten seine Lippen auch wie die der Frauen. Wenn er einmal, als er noch jung war, laut lachte, so mußte sein Gelächter ein helles und harmonisches gewesen sein; aber so weit ich zurückdenken kann, entsinne ich mich nicht, es jemals gehört zu haben. In seinen glücklichsten Augenblicken und unter der heitersten Gesellschaft habe ich ihn bloß lächeln sehen.

 

Ich könnte hier noch viele andere charakteristische Züge von der Gemüthsart und den Geschmacksrichtungen meines Vaters anführen, vielleicht aber treten dieselben besser in der Folge hervor, wenn ich die Umstände erzähle, in welchen sie sich offenbarten.