Read the book: «Traumafolge(störung) DISsoziation», page 3

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2 Differentialdiagnosen

Eine Frau erzählte mir, sie habe etwas an ihrem Fahrrad kaputt gemacht. Beim Putzen. Seit dem klickere es. Im Tretlager. Da stimme etwas ganz und gar nicht. So könne sie damit nicht fahren. Es fühle sich unsicher an. Da sei irgendwie was lose. Ich sagte ihr, dass ich leider keine passende Nuss als Kurbelabzieher hätte und auch kein Tretlagerschlüssel.

Hoffnungslos.

Sie musste es wohl in eine Werkstatt bringen, die das richten würden.

Aber sie hatte Glück, denn ich erklärte mich bereit, es mir vorher nochmals anzuschauen. Vielleicht gab es ja eine andere Erklärung für das Problem. Ein solches Geräusch kann auch andere Ursachen haben. Vielleicht. Vielleicht wären dann nämlich andere Lösungswege möglich. Vielleicht.

Es war nicht das Tretlager. Und es war genau genommen auch kein Klickern, sondern ein Streifen. Es streifte unregelmäßig und darum schien es wie ein Klickern. Da war nichts lose. Da war was fest. Da war was fest, was nicht fest sein sollte. Es war Dreck zwischen ihrer Scheibenbremse und den Bremsbelägen, zudem lief die Scheibe nicht parallel durch. Ich baute das Vorderrad aus, nahm die Bremsbeläge raus, machte weg, was nicht da sein sollte, baute es wieder ein und stellte den Bremssattel richtig ein. Kein Klickern mehr.

War doch nicht hoffnungslos.

Uns ist etwas Ähnliches passiert. Uns wurde gesagt, dass etwas ziemlich kaputt sei. Da stimme was nicht. So könnten wir auf jeden Fall nicht rumlaufen. „’ne Schraube locker.“ Zu uns sagten sie: schizophren. Es sei sehr unsicher und kritisch. Sie sähen keine Möglichkeit, uns zu helfen.

Hoffnungslos.

Wir müssten wohl in eine andere Klinik, die das dann richten würden.

Aber wir hatten dort kein Glück. Niemand war bereit, sich das noch mal anzuschauen. Schade, denn die Symptome konnten auch für etwas anderes sprechen. Wir bekamen Medikamente zum Stilllegen einer akuten Psychose. Wir lagen auf einem Bett mit Fixiergurten. Natürlich nur zu unserer Sicherheit. Erniedrigung und Ausgeliefertsein, das kannten einige ja schon. Wir wurden für unzurechnungsfähig erklärt. Die wenigen Worte, die noch gesprochen werden konnten, lächelnd abgenickt. Zudem wirkte ich meist auch noch antriebslos und depressiv. Seltsam eigentlich bei solch hemmenden Medikamenten, wenn ich davon irgendwie „hier gehalten“ wurde. Vielleicht hätte es eine andere Erklärung gegeben. Vielleicht war das Problem gar nicht das Problem. Vielleicht war das Problem ein Zeichen von Prozess. Vielleicht wären andere Lösungswege möglich gewesen.

Vielleicht.

Es war keine Schizophrenie. Und genau genommen war es sogar auch keine Psychose. Es war Dissoziation und Trauma. Und das ist manchmal komplex und scheint wie eine Psychose. Aber da ist nichts Psychotisches. Da ist was Traumatisches. Es sind amnestische Barrieren zwischen einigen von uns. Und da läuft nicht alles ganz parallel in der Spur.

Und auch wenn es mir oft so erscheint, es ist nicht hoffnungslos.

3 Ein Einstieg zu uns

Wenn ich Dinge lese, um ein Grundwissen zu erlangen, um mich und unser Nervensystem besser kennenzulernen zu können, denke ich manchmal, ich habe es verstanden. Ich lese und denke darüber nach und schreibe die Ergebnisse sogar auf und bilde mir also wirklich ein, es verstanden zu haben. Aber zur Wissensaufnahme fähig, also kognitiv nicht völlig hängengeblieben zu sein, hat überhaupt nichts mit (geistiger und oder kognitiver) Flexibilität, also Anpassungsfähigkeit, im Bezug auf das eigene Leben zu tun. Wissen aneignen bedeutet nicht, Dinge begreifen zu können. Und um mich nachhaltig anders zu ver-halten, muss ich be-geifen, was ich da halte.

Es ist wie mit unserer Biografie. Irgendwie sind wir so durch die Jahre gekommen und dann blicken wir irgendwann zurück und fragen uns, wie es möglich war, so viel abzuspalten, ohne es zu bemerken. Wie es möglich war, so viel nicht zu verstehen, Dinge nicht zu sehen, zwischen den Welten verloren zu gehen, um sich ja nicht im Tempo der Erde zu drehen, damit wir unserer Realität nicht gegenüberstehen.

Ich versuche hier, einen Teil dieser Theorien zu beschreiben, weil Wissen doch Halt geben kann, was ich so vielen von uns wünsche. Trotzdem ist es nun mal so, dass sich Menschen nicht völlig in einer Theorie beschreiben lassen und Diagnosen, die die Persönlichkeitsstruktur betiteln, nur begrenzt etwas über ein Individuum aussagen. Grundlegend sind die Theorien gut, um manches nachvollziehen zu können, aber in weniger fachlich theoretischen Text(abschnitt)en wird deutlich, dass sich an der Theorie nur festhalten kann, wer nichts mit der Praxis zu tun hat.

3.1 Wofür Anteile?

Was manche Menschen zu der Annahme verleitet, dass alle Menschen ein bisschen multipel seinen, ist der Fakt, dass jegliche Persönlichkeit eine Zusammensetzung von verschiedenen psychobiologischen Sub-Systemen ist. Ohne dissoziative Störungsbilder ergeben diese eine ganze, kongruente (Ambivalenzen und Vielschichtigkeit impliziert!) Persönlichkeit und funktionieren fließend zusammen. Verschiedene Anteile machen es auch erst möglich, in verschiedenen Kontexten effektiv und angepasst zu handeln. Diese Anteile haben dann aber keinen eigenen Sinn von „Ich“ und sind integriert, es liegen keine neuronalen, strukturellen und funktionellen Separationen vor, sodass es ein Gefühl von Zusammengehörigkeit als eine ganze Person gibt. So oder so ähnlich, ich kann das nicht genau sagen, vermute aber, dass Menschen selten umherlaufen und denken: „Ja, ich bin eine normativ integrierte Persönlichkeit und fühle mich sehr wohlig ganz“, eben weil es so ein als selbstverständlich angenommenes Einheitsgrundgefühl gibt und dadurch vermutlich gar nicht darüber nachgedacht werden muss. Hier denken/handeln/fühlen alle Anteile in einem Namen, obwohl jeder Mensch natürlich Ambivalenzen in sich trägt, also Aktionssysteme mit verschiedenen Motiven und Motivationen. Meist wird umgangssprachlich von „Seiten“ gesprochen. So kann eine mehr integrierte Persönlichkeit abwägen und Prioritäten setzen, was wir (lange Zeit zumindest) nicht können, weil wir von den Zielen der anderen im Innen gar nichts wissen. Als integrations-typischer Mensch sind Anteile im Groben bekannt, auch wenn nicht alle gleich annehmbar sind oder sich eben nicht ständig mit ihnen befasst wird, sie also auch nicht immer unbedingt präsent oder klar zu benennen sind. Aber es ist anscheinend so, dass wenn in sich gespürt wird, sich verschiedene Perspektiven/Motivationen etc. bewusst erkunden lassen, um diese dann als Anteile zu beschreiben. Und, was wir eben nicht können, ist, dass du entscheiden kannst, welcher Anteil gerade Vorfahrt hat – und trotzdem kannst du gleichzeitig auf das Wissen und die Fähigkeiten anderer zurückgreifen. Dein Ich kennt alle deine Erinnerungen, das ist bei uns nicht so.

Zunächst haben alle Menschen, auch als Kinder schon, verschiedene Rollen. Es gibt Rollen und Aufgabenfelder, die alle Personen haben. Einzelne Anteile können für eine Rolle zuständig sein, es können aber auch mehrere Anteile für eine Rolle benötigt werden sowie auch ein Anteil mehrere Rollen erfüllen kann. Das heißt, dass ein Anteil nicht das Gleiche wie eine Rolle ist. Die Rollen entsprechen den Aufgaben, Verhaltensregel, -mustern und Erwartungen, die an einen Mensch, der diese einnimmt, gestellt sind. Eine Rolle besteht also im Außen, auch ohne den jeweiligen Menschen. Anteile hingegen sind Subsysteme in uns, über die viele vielleicht nicht als Anteil wissen, weil sie eben Teil eines Ganzen sind und auch nur als solches wahrgenommen werden. Bei Kindern spielen diese noch nicht ganz so als integrierte, gefestigte Persönlichkeit zusammen. Dies macht es wahrscheinlicher, dass sich einzelne Elemente aus Anteilen separieren und traumatisch bedingt abspalten. Zudem sind wir als Kinder von Vornherein viel hilfloser und können allein nicht auf Bewältigungsstrategien zurückgreifen, die Integration möglich machen würden. Eine Amnesie bedeutet einen Erinnerungsverlust. Wenn diese Barrieren in der Kindheit entstanden und es so möglich war, das Leben weiterzuführen, bleibt das Unwissen übereinander meist viele Jahre bestehen. Wir verwickeln uns also mit voneinander getrennten physiopsychologischen Einheiten, neuronalen Teams oder eben dissoziierten Anteilen. Und weil unser Gehirn schlau ist und energieeffizient arbeitet, wird eine Taktik, die funktionierte, natürlich weiterverwendet und ggf. ausgebaut. So reagiert unser Gehirn auf weitere Traumata oder Erlebnisse, die unser Gehirn mit unseren Traumatisierungen verknüpft, mit derselben Strategie – der Dissoziation. Die Dissoziation ist ein biologisch garantiertes Phänomen, da unsere ganze Physiologie mit einbezogen ist. Bei späteren Traumata können schon bestehende Netzwerke neu belastet werden oder sich neue bilden. Pierre Janet schrieb, dass Dissoziation eine Teilung zwischen „Systemen mit Ideen und Funktionen, die die Persönlichkeit bilden“ (Janet 1907), einschließt.

Ich will ein Bild vorwegnehmen, damit all das Folgende vielleicht richtiger verstanden werden kann: Bisher noch mit Multipler Persönlichkeits(störung) benannt, aber eigentlich nur strukturell dissoziiert, sind wir keine „viele Menschen in einem Körper“. Wir sind nicht das Vielfache einer Persönlichkeit und wir haben auch keine schön, klar erkennbar abgepackten Traumapäckchen in anderen verstaut, was dann alles passend zusammen gerechnet uns als ganzen Menschen ergäbe. Beim Zerbröseln sind Lücken entstanden, es sind Dinge so fragmentiert, dass sie für den Verstand verloren gegangen sind, da haben sich Brüche in ihrer Beschaffenheit verändert und es lässt sich nicht einfach alles sauber zusammenkleben. Viele zu sein bedeutet nicht, multiple, in sich funktionierende, alle Lebensbereiche erfüllende, dynamische Persönlichkeiten in einem Körper zu haben. Es bedeutet multiple, voneinander dissoziierte Teilidentitäten zu sein. Natürliche (er)leben wir uns oft als separierte, eigenständige Leute, aber wir haben dieses eine-Persönlichkeits-Ding, so ein wohliges Zusammengehörigkeits-Lebens-Gefühl nicht mehrfach, sondern gar nicht. Ich schreibe nicht, dass wir völlig kaputte Opfer sind. Ich schreibe, dass wir Menschen sind, die eine dissoziative Identitätsstruktur haben. Wir sind durchaus funktionell und lebensfähig zerbröselt. Aber halt zerbröselt, nicht vervielfacht. Sowohl das Modell der Strukturellen Dissoziation, als auch die Neurowissenschaften bestätigen ja, dass es um Abspaltungen, Trennungen, Separationen, Entfremdungen, undurchsichtige Membranen, nicht um Vervielfachung, geht.

Der Grund, aus dem Persönlichkeitsanteile abgespalten werden, ist der Überlebenswille des Organismus, da wir evolutionsbedingt so angelegt sind, dass Reflexe/automatisierte Reaktionen das Überleben sichern, auch in Situationen, in denen der Verstand das nicht (mehr) kann.2 Sogenannte dissoziative

Störungen sind eigentlich eine Überlebensstrategie, um überwältigende Erfahrungen zu überstehen. Ab einer gewissen Komplexität lässt sich sagen, dass es eine Überlebensstrategie von Kindern ist, die wiederholter Traumatisierung ausgesetzt sind, da chronische und komplexe Dissoziation mit frühen und anhaltenden traumatischen Erlebnissen verbunden wird. Mit Anteilen beziehen wir uns auf etwas, das in der klinischen Literatur unterschiedliche Namen trägt und wir meinen hier damit dissoziierte Persönlichkeitsanteile oder Teilpersönlichkeiten oder neurophysiologische Sub-Systeme, allerdings schreibe ich meist, auch der Einfachheit wegen, von Anteilen. Der Begriff „Anteil“ ist wenigstens mathematisch nicht falsch. Definitiv für uns stimmiger als Ego-State (Ich-Zustand), was in mancher Literatur nicht differenziert wird, wobei wir darunter integrierte, die Grenzen willentlich beschriebene, wechselnde Zustände eines jeden Selbst verstehen, auch wenn wir tatsächlich ja auch nur ein Mensch sind (zur Erklärung dieser Unterscheidung s. unten und Kap. 13). Einige Viele werden vermutlich mit diesem Begriff für sich nicht klarkommen oder andere Bezeichnungen brauchen, was absolut in Ordnung ist. Wir haben für diese Texte meist Anteile gewählt, da es eine Bezeichnung aus dem Vokabular der Fachliteratur ist und somit wiedererkannt werden kann. Für uns im Alltag bzw. untereinander ist der Begriff zwar nicht nutzbar, da ich glaube, dass es dafür eine Wahrnehmung des Ganzen bräuchte. Denn damit etwas ein Anteil von etwas sein kann, braucht es das große Ganze, welches alle solche Anteile umfasst, und da uns diese Wahrnehmung fehlt, kann der Begriff gar nicht stimmig sein. Mathematisch ist es aber anzunehmen.

3.2 Anteile durch Traumatisierung

Wenn sich Anteile abspalten, hat es immer einen wichtigen Grund, aus dem sie da sind. Wir teilen uns (lange) kein Bewusstsein. Wenn sich Anteile „melden“ oder wir die Widersprüchlichkeit mancher Entscheidungen oder die Amnesien bemerken, ist es das, was von einigen Betroffenen als breakdown beschrieben wird. Von außen sind es die – oft als psychotisch fehlgedeuteten – Symptome, wie das Stimmen hören (was für mich nichts Neues war, nur wusste ich vorher nicht, dass das „nicht normal“ ist; auch haben die Stimmen für mich keine konkret akustische Qualität wie eine tatsächlich von außen kommende Stimme, jedoch klingen sie anders als meine und drücken sich auch anders aus, als ich es tue), das Wahrnehmen von Dingen, die „nicht da“ sind (für unseren Körper und Gehirn schon), die Flashbacks, und (erkennbaren) Switches.

Es gibt verschiedene Grade der Abspaltung und somit auch Unterschiede, wie komplex wir, also Persönlichkeitsanteile und -Subsysteme, ausgebildet sind. Ob wir weitestgehend eigenständig handeln können, klar zu trennen sind, ob wir amnestisch zueinander stehen. Wir werden auch wegen unserer „Aufgabenbereiche“ und der Fähigkeit, komplex oder sinnvoll geplant zu handeln, nach dem Modell der strukturellen Dissoziation in zwei Hauptkategorien unterschieden: Anscheinend Normale Persönlichkeitsanteile (ANP) und Emotionale Persönlichkeitsanteile (EP) (Van der Hart et al.). Unter anderem ist die Komplexität und Schwere der Abspaltung abhängig von der individuellen Fähigkeit zu dissoziieren, den Voraussetzungen und Fähigkeiten, um vehemente und schwer ertragbare Emotionen zu regulieren und auszuhalten. Ferner spielen das Alter, in dem die Traumatisierungen erfahren werden, die Bedeutung, die wir dem Ereignis zuschreiben, die Heftigkeit, Unberechenbarkeit und andauernde Wiederholung eines Traumas eine Rolle. So haben wir, wenn die Dissoziationen nicht nur akute Abwehr sind – wie etwa durch Abspaltung das Schmerzempfinden ausschalten oder ein einzelnes Trauma tragen, in dem sie gefroren sind –, sondern als chronisch verwendeter Überlebensmechanismus grundlegend unsere Persönlichkeitsstruktur formen, eigene Aufgaben, Wahrnehmung und Sensibilität, Werte, Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten, unterschiedliches Körper- und Schmerzempfinden, Alter, Geschlecht, Symptomatiken und Stimmungen (können uns in diesen manifestieren – manche von uns haben eine Essstörung oder Anfälligkeit für Migräne ect., andere nicht). Kein Anteil kann umgebracht oder vernichtet werden, und es geht nicht darum, andere zu kontrollieren, sondern uns durch (Kennen)Lernen und Zusammenarbeit zu ent-wickeln. Es geht um mehr Integration, damit wir wissen wie und vor was wir uns schützen müssen, sogenannte internen Kommunikation, damit der aktuelle Kontext klar ist, wichtige Informationen verteilt werden und wir Menschen wiedererkennen und ihre Rolle, in der sie zu uns stehen. Wir haben uns so verwickelt, um Extremsituationen zu meistern. An sich ist genau das passiert, was hätte passieren sollen – unser Gehirn hat für Überleben gesorgt. Unsere Anpassungen waren also im Moment des Traumas lebensnotwendig, sind aber langfristig gesehen meist dysfunktional oder schädigend.

Dadurch, dass wir alle eigene Erfahrungen, unterschiedliche Erinnerungen an bzw. durch die polaren Sichtweisen, verschiedene Auffassungen von der Autobiografie haben und auch unsere Stärken wie Schwächen verschieden verteilt sind, haben wir alle auch unterschiedliche Trigger, Auslöser. Sie können entweder Wechsel oder Flashbacks, Intrusionen, Panikattacken auslösen, was genaugenommen auch eine Form von interner Kommunikation ist. So gibt es manche Themenbereiche für die einzelne/einige Anteile zuständig sind, die dann auch nur diese Erinnerungen daran tragen. Das heißt, dass manche Anteile in bestimmten traumatischen Erfahrungen entstanden und festgehalten sind, wodurch sie, wenn sie getriggert werden, immer noch so fühlen und handeln wie damals, wohingegen sich der Rest des Systems nicht, oder einzelne vielleicht aus anderer Perspektive, daran erinnern kann, bzw. gar nichts von ihrer Existenz weiß.

Manche sind auch nur für bestimmte Verteidigungsstrategien zuständig, welche sie, wenn sie getriggert werden, ausführen, egal ob sie heute noch angemessen sind oder nicht. Teilweise sind diese Strategien relativ primitiv und entsprechen eben nicht den aktuellen Zuständen. Das können entweder die traumatisch bedingten, „tierischen“ Strategien zum Überleben sein (Kämpfen-Flüchten-Erfrieren-Unterwerfen). Oder es sind Möglichkeiten, das Trauma und alles, was dazugehört, außerhalb des Bewusstseins zu halten, jegliche potenziellen Trigger zu vermeiden, was dann uns „ANPs“ (im Folgenden „Alltagsionäre“) zugeschrieben wird. In den Zeiten der Gewalt war es überlebensnotwendig, dass wir Wahrnehmungen der Welt geschaffen haben, durch die manche Anteile in der Illusion leben konnten, dass alles in Ordnung sei. Teilweise wurden diese Illusionen auch einzelnen Anteilen absichtlich auferlegt, damit wir nach außen verlässlich diese „heile Ordnung“ wiedergaben. Es kann Kinderanteile geben, die als sehr unauffällige, zufrieden scheinende Kinder auftreten, weil sie, wortwörtlich, in ihrer eigenen Watte-Welt leben, oder welche, die sich stets ins Spielen vertiefen, um den Rest der Welt auszuschalten. Sie scheinen eher zurückhaltend, ängstlich oder auch „zu sensibel“ (weil unbewusst ja Angst-Terror herrschte), aber sonst leise, glücklich und zufrieden. Das ist, wenn wir die Zeit betrachten, in der wir uns täglich in Gefahr befanden, keine verwerfliche Art, es irgendwie zu überstehen, und macht deutlich, warum es funktionierte, ohne aufzufallen.

So sind oft einzelne Anteile für einen gewissen Bereich im Alltag zuständig, den sonst niemand übernehmen oder zumindest nicht so gut erfüllen kann.

Erfahrungen prägen uns, wir lernen aus ihnen. Das ist bei allen Lebewesen so. Und wenn wir, aufgrund unserer jeweiligen Trigger, immer in bestimmten Situationen an die Front gerufen werden, formen wir uns natürlich dementsprechend, und im Falle chronischer Traumatisierung verändert sich auch das ganze System. So werden wir bereits vor ersten bewussten Kontakten mit anderen dissoziierten Anteilen, obwohl wir nichts Konkretes von ihnen wissen, beeinflusst oder entwickeln uns auf bestimmte Art in bestimmten Bereichen. Weil nämlich manche Bereiche von bestimmten Anteilen besetzt und diese für andere dadurch verhindert werden. So kann es sein, dass wir z. B. keine enge Beziehung eingehen, weil bestimmte Anteile uns davon abhalten oder Versuche, Bindung herzustellen bzw. zu halten, zum Scheitern gebracht werden, da Beziehung und das sich Öffnen für sie immer Missbrauch oder Verlust bedeutet hat. Das passiert jahrelang, ohne dass wir wissen, wer wie und warum mitmischt, wodurch sich das Gefühl falsch zu sein und die Überzeugung, diese echten sozialen Interaktionen „nicht zu können“, sehr stark halten. Doch es ist auch so, dass manche von uns tatsächlich eine andere Sprache sprechen (wörtlich und metaphorisch) und sich in neuen Kontexten, die nicht von Machtgefällen geprägt sind, nicht zurechtfinden. Prinzipiell gibt es keine Regeln oder Richtigkeit für dissoziative Persönlichkeitssysteme, ebenso, wie es keine Regeln oder Richtigkeit für integrations-typische Menschen und ihre Fähigkeiten/Erfahrungen/Anteile gibt. Es gibt so viele verschiedene Konstellationen wie es eben verschiedene Menschen gibt. Und doch sind natürlich Parallelen zu finden. Ähnlichkeiten zwischen uns innerhalb und auch zwischen Systemen. Es kann schließlich maximal zwei Pole geben, sobald ein drittes Element in einem System ist, gibt es Gleichheiten.

Es ist immer so, dass Überlebensstrategien nur dann und nur so vor sich gehen, wie sie sinnvoll für das Überleben sind, alles andere würde im Sinne der Evolution nicht als Automatismus in uns verankert sein. Wenn ein schützender Anteil entsteht, ist manchmal die Hauptsache, dass dieser weitmöglichst anders ist, als wir uns in diesem Moment empfinden. Oder dass wir uns mit Eigenschaften wahrnehmen, mit welchen wir nicht in diese Situation kommen würden oder zumindest nicht ausgeliefert wären. Auch ist es sehr sinnvoll, dass wir bei wiederholter physischer Gewalt manche ein relativ stumpfes oder kein Schmerzempfinden haben bzw. – exakter formuliert – dass diese Anteile verlässlich ihr Schmerzempfinden abspalten können, denn einfach weg sind die Schmerzen ja nicht. Sonst würden sie in Flashbacks nicht wiederkommen können. Es können auch Anteile entstehen, die fiktiv, was hier nicht menschlich bedeutet, sind. Wenn wir so unmenschlich behandelt werden oder auch absichtlich, gezielt als Unwesen betitelt, kann es passieren, dass wir diese Prägung in uns aufnehmen, weil alles andere unerträglich wäre. Alle im System haben einen Sinn, wenn auch nur verständlich für die bedrohte Seele, die so versucht, in ihrer Not das Trauma zu überleben. Wenn wir als Kinder z. B. regelmäßig gefesselt werden, wäre es logischer, eine Schlange zu sein, die sowieso keine Beine und Arme hat. Logischer und auch angenehmer, als die unerträgliche Idee in Betracht zu ziehen, von einer Person, der wir womöglich sonst auch noch vertrauen, misshandelt zu werden auf eine Weise, in der sie uns unsere Fähigkeit zu laufen nimmt. Wenn wir nach außen nicht fliehen können und als Kinder sowieso kaum eine andere Möglichkeit haben, müssen wir nach innen fliehen, wir können nicht anders, als in uns und zwischen den Welten zu verschwinden.

Später, in eigentlich sicheren Lebensumständen können sich manche dieser Strategien sehr dysfunktional zeigen, was in folgenden Kapiteln deutlich wird. Wir verlieren ohne, zu (zumindest partieller) Integration führender therapeutischer Arbeit, und damit auch ohne unsere Zuwendung und (An)erkennung unserer Traumata, die daraus entstandenen Überzeugungen nicht, was zu unserer hohen Anfälligkeit für erneuten Missbrauch, auch von anderen Täter_innen führt. Auch ist es äußerst einschränkend, wenn uns, durch ein Trigger ausgelöst, plötzlich die Fähigkeit verlässt, Arme und Beine zu bewegen, weil unser übertrainiertes Alarmsystem im Gehirn Fessel-Gefahr meldet. Denn diese besteht im Hier-und-Jetzt gar nicht – was aber eine zu zeitintensive Überlegung wäre –, und der Schlangen-Anteil zum Schutz aktiviert wird. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dies von anderen Menschen als solches wahrgenommen wird. Eine Person, die uns nicht kennt, wird kaum erkennen, ob ihr ein Wesen gegenübersitzt, welches überzeugt ist, eine Schlange zu sein, oder ob deren Anteile rein physiologischen temporären Lähmungen verfolgender Freeze-Response unterliegen oder einer anderen Form der Dissoziation, bei welcher diese Anteile einfach ganz „aus dem Körper raus sind“ und ihn nicht willentlich bewegen können, oder die Person einen fokalen epileptischen Anfall erleidet, welcher sich in tonischer Immobilität zeigt, oder einfach in einem allen Menschen bekannten „Weg-dösen“ und dem damit verbundenen „unbewegt sein“. Oft fällt ein Wechsel gar nicht auf, weil wir beispielsweise gerade an einem Tisch sitzen und niemand erwartet, dass wir uns bewegen. Ohnehin fällt Menschen, die uns nicht näher kennen und uns nicht so genau beobachten, wie es Therapeut_innen (leider/zum Glück) tun, nicht unbedingt auf, dass unsere Körpersprache oder verbale Ausdrucksform sich verändert. Denn nicht alle Anteile können völlige Extreme sein, da wie bereits erwähnt, gibt es maximal zwei Pole. Unsere Schmerzen bleiben sowieso meist versteckt, und solange nicht danach gefragt wird oder es anders auffällt, werden auch Erinnerungslücken nicht zwangsläufig bemerkt.

Primitive Abwehrmechanismen – so nennt sich das. Unüberlegte, keine mit höherem Verstand weiterentwickelten Handlungen, die von reflektierten Gedankengängen oder Vorausdenken zeugen. Sondern eher hirnlose, weil Todesangst die Rationalität hemmt. So sind also manche Anteile im Abwehrmodus, Kampf oder Flucht, und wenn das nicht ging, Erfrieren und Unterwerfen, steckengeblieben. Daraus entstehende, einfache Handlungsabläufe nennen sich primitiv. Schmerzhaft und beschämend fühlt es sich an, wenn mir davon erzählt wird oder ich die Folgen körperlich spüre. Wenn Anteile sich zum Schutz versuchen, die Hände abzusägen. Wenn welche zum Schutz den Kopf gegen die Wand oder den Boden schlagen. Oder zum Schutz die letzte Person, bei der Vertrauen möglich ist, versuchen loszuwerden. Es ergibt dann Sinn, wenn wir ihre Lösungsstrategie entsprechend ihrer Situation verstehen. So ist es in sich logisch, dass Vertrauen immer Gefahr birgt, oder wir, falls es doch ohne böse Hintergedanken geschieht, es nicht verdient hätten oder uns unter keinen Umständen zumuten dürften. Somit müssen Menschen, die dieses Vertrauen geben und empfangen wollen, abgeschreckt oder auch verletzt werden, damit sie auf Distanz bleiben.

Niemand im Innen hat sich die Aufgabe, die er oder sie zu erfüllen versucht, aus Spaß an der Freude herausgesucht. Es sind neurobiologische Vorgänge, um Extremsituationen zu überstehen. Und die physiologische Kettenreaktion, die bei Todesangst (auch wenn sie später getriggert wird) ausgelöst wird, ist schon seit Evolutionsbeginn erprobt und erfolgt viel zu schnell, um vom Verstand gesteuert zu werden. Nichts davon wird willentlich gesteuert. Es ist kein Theaterspiel. Die Abspaltungen sind ein echter Überlebensmechanismus und Flashbacks und Intrusionen wirkliche Reproduktionen, um die Verarbeitung möglich zu machen.

Wenn Menschen aus Erfahrungen lernen wollen, müssen sie seelisch und neuronal bereit sein, sie verarbeiten und integrieren zu können. Und weil diese Bereitschaft dem akuten Erleben manchmal hinterherhumpelt, passiert dies oft durch symbolische Wiederholung: im Gespräch, durch (Tag-)Träume, Spiel oder Kunst. Das ist bei einzelnen von uns auch so, aber aufgrund der Komplexität bzw. Vehemenz und Manifestierung dieser Erlebnisse, kommt es auch zu realen „Wiederholungen“ ähnlichen Erlebens, einzelne Elemente betreffend. Das führt aber zu keiner Verarbeitung, sondern zu neuen Verletzungen. Diese Reinszenierungen müssen jedoch für die, die sie herstellen, weniger schrecklich als das ursprünglich Erlebte sein, weil sie sie ja selbst wählen. Für uns als Gesamt-System ist es aber schrecklich, mitunter auch folgenschwer, denn sie wählen lediglich das, was und wie bzw. die daraus folgende konkrete Konsequenz ist dann meist nicht mehr wählbar. Es geht viel darum, sich die eigene Schrecklichkeit zu bestätigen. Diese Reinszenierungen sind also auch eine Art Vermeidung, weil neue Verletzungen die Integration des ursprünglichen Traumas und ein Kontextualisieren, also das Einordnen, verhindern. Manchmal ist es wohl auch ein Versuch zu verstehen, der unbedacht aber zu keinem Verständnis, sondern zu wiederkehrender Hilflosigkeit führt. „Ähnliches mit Ähnlichem heilen“ erweist sich bei Traumatisierungen als nicht wirksam. Wirklich gar nicht. Es bewirkt das totale Gegenteil. Auch in homöopathischer Dosis ist es nicht förderlich für eine Entwicklung hin zu mehr Stabilität, Akzeptanz und Integration. Wir alle können und sollten irgendwann andere Wege finden, um uns zu schützen, wir können das, wenn wir zumindest einen Teil der Erlebnisse integriert haben und wir uns im neuen Lebenskontext zurechtfinden bzw. zumindest wissen, dass es eine andere Basis gibt und sich welche um diese kümmern.

Tätersprache, -impulse, -werte, -perspektiven und all das Innen. All das in uns. Und ich bin etwas von diesem wir. Das bin auch ich? Scheiße. Bedürfnisse, Wünsche, Trauer, kleine Hilflosigkeit und all das Innen. All das in uns. Und ich bin etwas von diesem wir. Das bin auch ich? Mindestens genauso brutal scheiße. Darum auch die Angst, dass unsere Therapeutin mit dieser Bösartigkeit, Brutalität und Ekelhaftigkeit in Berührung kommt. Was, wenn ihr das etwas antut? Allein nur die Vorstellung, dass sie dem begegnet, ist furchtbar schrecklich beängstigend.

Ich sitze so da und versuche, geradeaus zu denken, was enorm schwer ist, wenn eine Therapeutin gegenübersitzt und der Großteil ihrer Aufmerksamkeit auf uns liegt. Das ist so aaahhh; Können Sie sich nicht kurz mal ablenken, damit ich den Satz fertig formulieren und dann auch aussprechen kann? Bitte. Sage ich natürlich nicht. Denke ich nur, während innen unglaubliches Chaos ist und ich nicht mehr weiß, ob ich meine eigenen Gedanken je wiederfinde unter all dem, was da gerade so draufgeschmissen wurde. Und wir werden immer noch beobachtet. Jedenfalls versuche ich dann, meine Sorgen zu kommunizieren. Nämlich dass ihre ungeplante Auszeit zu sehr viel mehr Turbulenzen geführt hat, als ich das zugeben möchte, mehr als ich mir das eingestehen kann, und sehr sicher noch mehr, als ich wirklich begreifen kann. Dass da neben einsam gefrusteter Enttäuschung auch viel Zerstörungswucht ist. Und zudem ganz ha(e)ssliche Wut. Ich komme mir etwas doof dabei vor, aber meine Sorge ist sehr real. Sie ist berechtigt. Denn es gibt widerliche Sprache in uns, grausame Bilder und brutale Wünsche, Impulse – wann sind es Handlungen? Am Körper sehe ich manche Zeugnisse solcher Handlungen und ich weiß aber, dass auch im Hier-und-Jetzt innen welche sind, die genau das gelernt haben. Ich weiß, dass ihre Drohungen keine leeren Worte sind, und wenn ich auf der Intensivstation aufwache, kann ich nur erahnen, dass irgendwer ihren Aufforderungen gefolgt sein muss. Also ist meine Sorge real. Ob kleine bedürftige Zuwendungswünsche den Kontakt beschmutzen oder aus ihrer Enttäuschung heraus zu zerstören versuchen, oder eklige Gewaltverherrlichende unserer Therapeutin wirklich etwas antun – ich finde alles furchtbar und weiß nicht, was davon tatsächlich passieren könnte. Wir wurden schon als unzurechnungsfähig betitelt, und ich weiß manchmal nicht, was ich diesem Adjektiv entgegensetzen kann, ohne das Gefühl zu haben, mich selbst zu belügen. Denn ich fürchte mich ja auch vor der Ungewissheit. Und dann stammele ich so daher oder um diesen Konflikt außen herum, glaube, es relativ gut angedeutet zu haben, und unsere Therapeutin meint nur so, dass alle willkommen seien. Ah. Okay. Was? Nein! – Auch die, die so vehement sein müssen, seien doch verzweifelt und voller Angst – sie dürfen also gerne kommen. Ah. Okay. Was? Nein! Innen wird es laut, dass das doch jetzt der Beweis wäre, dass sie mich kein bisschen ernst nimmt, dass sie mir nicht glaubt und alles kleinredet, dass sie gar nicht versucht, meine Angst zu verstehen. Wenn sie nur wüsste, wie viel Schrecklichkeit da ist. – Ich sei eine erbärmliche Heulsuse und solle endlich einsehen, dass sie mich hier verarscht. – Es erscheint leicht, dem zu glauben. Zu gehen und nicht wiederzukommen. Doch irgendwo, irgendwie, in einer mir noch nicht ganz klaren Form, glaube ich auch, dass sie das nicht sagt, um mich als lächerlich darzustellen, sondern dass sie diese Haltung tatsächlich hat und diese ganzen blöden Theorien damit bestätigt. Nämlich, dass die Angst, Verzweiflung und Ohnmacht, die zu solcher Vehemenz führen, aus überwältigenden Erfahrungen kommen, und die, die sie jetzt zeigen, sich einfach nicht anders zu helfen wissen, weil sie es wirklich (noch) nicht anders können oder es meinen, nicht anders zu dürfen, leider teilweise auch überzeugt sind, es nicht anders zu wollen. Und weil sie all das viel leichter annehmen kann, viel eher schon anerkennen kann als wir Alltagsionäre, welch gewaltvolle Erfahrungen solche Prägungen verursachten, weil sie ja nicht so direkt mit drin steckt, will ich versuchen, den Brücken, die sie baut, das zuzutrauen. Will versuchen, mich darin zu üben, das immer mehr/immer mal wieder auch als Vorbild zu sehen, um anzunehmen, dass auch die, die meine Toleranzgrenzen sprengen, eine Geschichte, einen Namen und eine Daseinsberechtigung haben. Denn auch wenn wir das im Alltag noch nicht immer richtig greifen können, ist es wohl so, dass wenn sich um die Introjekte gekümmert und ihr Schmerz ernst genommen wird, sie nicht mehr mit einer solchen Vehemenz wüten müssen, dass sie diese gar nicht mehr brauchen. Wenn wir ihnen zuhören, ihre Entstehung und Überlebensleistung begreifen, die sie im Moment der Gefahr erbrachten, kann uns vielleicht/hoffentlich deutlich werden, wie verletzt sie eigentlich sind.