Read the book: «Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке», page 4

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Der Großvater setzte sich, trank ruhig aus und die Großmutter versuchte nie mehr, ihm nicht richtig einzuschenken; es erinnerte oder erwähnte auch niemand mehr diesen Vorfall.

Sascha schaute auf den Großvater, dieser war wohl eingeschlafen. Sascha stand vorsichtig auf.

Auf der Straße stand Dunst, nebelgraue Feuchtigkeit, die im Sommer besonders unangenehm war.

Das Dorf gab kein einziges Lebenszeichen von sich.

Neben derselben Pfütze von gestern stand derselbe Junge mit der Gerte in der Hand. Zischend schlug er auf die schmutzige Spiegelung seiner selbst und sprang dabei von der Pfütze weg.

Der Anblick des Kindes hätte vielleicht das Herz zusammengezogen, wäre im Herzen nicht stille Leere gewesen.

»Du stehst schon auf, Sankya, warum bist du denn schon auf«, sagte die Großmutter, die vom Hof kam. »Gehen wir frühstücken.«

Das Rührei mit Speck, Tomaten und Zucchini – unnatürlich hell, wie die Zeichnung eines Kindes – verströmte ein starkes Aroma, bebte und spritzte als wäre es lebendig und voller Freude.

»Interessant, und wenn man die Alten zu zeichnen zwingt – werden ihre Zeichnungen genauso hell sein wie die der Kinder?«, überlegte Sascha.

Der Selbstgebrannte trübte sich ein, das grobe Brot wurde voller Gelassenheit dunkler. Auf einem Tisch ist Brot ist immer das Strengste, es kennt seinen Preis.

Sascha aß alles schnell und sagte, er gehe spazieren. Er bewegte sich vom Haus weg, den Berg hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich, wie er als Kind auf demselben Weg ging und die Gänse der Nachbarin traf und lange nicht an ihnen vorbeigehen konnte, da der Gänserich, der widerwärtige Vogel, den Hals streckend und mit den Flügeln schlagend, den Weg blockierte. Sascha sprang weg und drehte sich vor Schreck um und lief, mit hochgezogenen Knien. Dann blieb er in einiger Entfernung lange stehen, von einem dunklen Bein auf das andere tretend, wie ein kleines Pferd. Als jemand die Straße entlangging, setzte sich Sascha und tat, als würde er mit den Steinen spielen. Er schämte sich, dass er sich vor einer Gans fürchtete. Der Mensch ging vorbei, erschreckte die Gänse und sie liefen wild mit den Flügel schlagend und wie blöde schnatternd davon.

Wenn Sascha sich erinnerte, sich an sein Leben erinnerte, dann mochte er auch nur diesen Jungen, den dunkelbeinigen, mit den Schrammen. Dann, als er die blonde Mähne losgeworden war, wurde aus diesem Jungen ein weißhäutiger, buckliger Blödkopf, der dumm lachte und alle anderen Merkmale eines Halbwüchsigen hatte. Sascha erinnerte sich nicht an seine Zeit als Halbwüchsiger, er vermied es, sich daran zu erinnern. Fahrig, raufsüchtig, unangenehm – wer möchte sich schon daran erinnern.

Jetzt gab es keine Gänseriche mehr.

Die Stege über das Flüsschen verbogen sich, brachen ein.

»Geht denn etwa niemand mehr ans andere Ufer hinüber?«, dachte Sascha und ertappte sich dabei, dass Großmutters »denn etwa«74 in seine Sprache eingegangen war. Aber vermutlich verwendete er diesen Ausdruck nur, weil er mit seinem eingebildeten Dörflertum spielte, das sich, wenn es je existiert haben sollte, schon lange in Nichts aufgelöst hatte. Selbst »denn etwa« konnte er nicht gelassen aussprechen, ohne sich bei einem Selbstbetrug zu ertappen.

Sascha ging das Ufer entlang zum weiter entfernten Strand. Manchmal fand er am Ufer alte Boote, die mit Ketten an Bäumen festgemacht waren, oder herrenlose, löchrige, die schon lange niemand mehr brauche. Sascha schaute in jedes Boot, in das feuchte oder vertrocknete Innere.

Das Dorf blieb rechter Hand zurück.

Der Weg zog sich in Furchen, als hätte man ihn durchgekaut und ausgespuckt und während die Spucke vertrocknet war, blieben die verbogenen, groben Spuren von Zähnen oder hartem Zahnfleisch zurück.

Der Fluss wurde allmählich breiter. Manchmal war in der Strömung schwaches Plätschern zu hören.

Über dem Gras taumelten unsinnig Mücken.

Sascha ging zu dem Platz, der Timochas Winkel75 hieß. Der Vater sagte, hier habe einst der Einsiedler Timocha gelebt, neben dem Fluss, der hier tatsächlich unvermittelt abbog und einen Knick bildete. Timocha war an irgendetwas erstickt. Die Fabel schenkte dem schönen stillen Strand mit dem weißen, fast schneefarbenen Sand seinen Namen.

Als kleiner Junge, der sich am Strand das Bäuchlein wärmt, hatte Sascha oft an Timochas Schicksal gedacht, aber in Anbetracht der Abwesenheit selbst eines kleinen Gebäudes, hatten die Überlegungen, wer dieser Timocha überhaupt gewesen war und wieso er ohne Menschen gelebt hatte, zu nichts geführt. Und dann war Saschka baden gegangen.

Manchmal – der Zeit nach zu urteilen, während der Mittagspausen – kamen junge Männer und hübsche Mädchen zum Strand. Irgendwo nicht weit entfernt wurde Torf abgebaut und in der freien Zeit planschte das arbeitende Volk glucksend herum.

Damals hatte der kleine Sascha zum ersten Mal gesehen, wie ein kräftiger Kerl in Badehose, in die sie so etwas wie eine Kartoffelknolle gelegt hatten, eine gut gebaute Schönheit abknutschte, sie an den Hüften streichelte und ihre weißen Brüste rieb, ohne sich vor dem Jungen zu schämen. Das auf dem Rücken liegende Mädchen ließ sich nicht lange auf die Lippen küssen und schlug bald dem Kerl gegen die Brust. Der nahm schließlich seine gierigen heißen Pfoten weg, stand unvermittelt auf und sprang vom hohen Ufer ins Wasser, verschwand fast für eine Minute unter Wasser, sodass die zerzauste Göre, die aufgestanden war und den Büstenhalter gerichtet hatte, sich Sorgen zu machen begann und unter vorgehaltener Hand Ausschau hielt, bis ihr Kavalier schließlich wie ein Wasserteufel am anderen Ufer auftauchte.

Sascha wusste nicht, was größeren Neid in ihm hervorrief – die Kunst, unter Wasser weit zu schwimmen oder dieser freie Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das übrigens erschreckte Saschka, es rief eine merkwürdige Mischung aus Verwunderung und Ekel hervor.

Der Vater führte Sascha weiter am Fluss entlang, weg vom Lärm und den ständigen Flüchen, dort hatten sie noch ein anderes Geheimplätzchen – eine von Sträuchern eingewachsene Betonplatte, von der man nicht wusste, wie sie ans Ufer gekommen war. Der untere Teil der Platte ragte in den Fluss. Im Sommer erwärmte sich die Platte und Sascha und der Vater lagen lange auf ihr und schmorten76. Wenn die Sonne unerträglich wurde, gingen Saschka und der Vater bis zu den Knien ins Wasser und übergossen die Platte mit Wasser – davon wurde sie feucht und kalt, sie war wieder gut geeignet, um sich entspannt darauf zu bräunen und auszuruhen.

Er legte eine große Strecke zurück und da er vor so langer Zeit hier gewesen war, verwechselte er die Treppe – Sascha kam nicht bei Timochas Winkel heraus, sondern weiter flussabwärts. Er musste umkehren.

Der Pfad entlang des Flusses, einst von den Fischern und den Arbeitern ausgetreten, war ganz verwachsen, und Sascha ging mit vorsichtigen Storchenschritten77, weil er Angst hatte, auf eine Natter zu treten. Seit der Kindheit hatte er Angst vor Schlangen.

Als er älter war, erfuhr Sascha, dass er bei der Geburt fast gestorben wäre – von der Nabelschnur erwürgt; man sagt, Menschen, die in den ersten Augenblicken ihres Lebens auf dieser Welt einen derartigen Schock erleben, würden sich ihr ganzes Leben vor Schlangen fürchten. Damit begründete Sascha wenigstens seine unglaubliche Angst vor harmlosen Nattern.

Natürlich traf er auf eine Natter, nicht nur auf eine, sondern auf eine ganze Familie, die herausgekrochen war, um sich in der Sonne zu wärmen. Sascha schrie auf, sprang hoch und kam mit gespreizten Beine wieder zu stehen. Die Nattern waren schon weg. Er hätte geschworen78, dass die widerlichen Kreaturen weggekrochen waren, während er in der Luft hing.

Fluchend und ein wenig zitternd sprang Sascha durch die Sträucher und lief weiter bis zu jener Platte, auf der er mit dem Vater immer gelegen hatte.

Die Platte war vom Gebüsch ganz zugewachsen, ihr größter Teil ins Wasser gerutscht und mit grünen, schleimigen Unterwasserpflanzen überwuchert. Auf der Platte zu liegen war jetzt ganz offensichtlich nicht mehr möglich.

Sascha spürte bei diesem Anblick ein gramerfülltes Zucken im Herzen – als würde nicht die Platte im Wasser liegen, sondern ein umgestürztes Denkmal.

Sascha blickte sich nach allen Seiten um, überlegte, wo er sich hinsetzen konnte, um sich seiner Trauer zu überlassen. Er setzte sich ins niedrige Gras am Ufer und zündete eine Zigarette an.

Im Dorf, in der frischen Luft, rauchte es sich immer schlechter – in der schwülen Pestilenz der Stadt ist die Zigarette das Allerliebste, auf dem Dorf aber, wo die Lungen eine Schwindel erregende Frische atmen, ist es fast sträflich, sich eine Zigarette anzuzünden.

Sascha wollte sich noch einmal der Schwermut hingeben, die höchst wohlig und mit Zigarettenrauch vermischt war, allerdings drehte sich ihm der Kopf und die Trauer sammelte sich nicht in einem süßen Klumpen unter dem Herzen, sondern kroch als Trägheit durch den ganzen Körper. Er musste die Zigarette mit dem Absatz im Gras zertreten. Zum unverbrannten Tabak, vermischt mit trockener, schmutziger Erde, krabbelten sofort einige Ameisen.

Timochas Winkel, zu dem Sascha nach einigen Minuten kam, war von hässlichen Kletten überwuchert. Es gab keinen Strand mehr, an seiner Stelle hatte sich eine Sandwüste ausgebreitet.

Sascha schlüpfte aus den Schuhen und ging ins Wasser. Das Wasser war kalt und schleimig wie Sauerteig. Den Lehm zu berühren, war unangenehm – mit seiner vernarbten Kälte erinnerte er an das nackte Zahnfleisch eines alten Menschen.

Sascha stieg aus dem Wasser und setzte sich entkräftet auf den schmutzigen Sand. Er blickte sich um, spuckte aus, stand wieder auf. Er begann die Kletten an den Wurzeln herauszureißen, ein widerliches Gewächs mit langen Wurzeln, unbekannte niederwüchsige Gräser, und säuberte den Strand. Das ausgerissene rötliche, trockene, hässliche Zeug warf er ins Wasser. Die Strömung trug es fort.

Nach etwa eineinhalb Stunden war auf dem Strand kein einziges Gewächs mehr geblieben. Nur abgerissene Wurzeln ragten manchmal hervor. Der Strand war nicht hell und sauber geworden, wie er in Saschas Kindheit gewesen war, nein. Es war, als hätte der Strand an einer Infektion gelitten, den Pocken – und er lag mürrisch da, überzogen von Kerben und Scharten.

Sascha kehrte nach Hause zurück, er aß kein Abendbrot79. Er stand neben dem schlafenden Großvater, ging hinaus zur Großmutter und sagte, dass er abfahre. Jetzt sofort, er müsse.

Die Großmutter schwieg.

»Du warst doch beim Vater am Grab?«, fragte sie.

»War ich«, log Sascha.

»Wie geht es ihm, ist er aufgestanden?«

Sascha nahm eine Zigarette und begann sie mit den Fingern zu kneten, er wusste nicht, was er antworten sollte.

»Ich werde dir Zwiebeln mitgeben. Und Eier …«, sagte die Großmutter leise.

Kapitel 3

Zu Hause auf dem Tisch lag noch immer sein Zettel.

Mama, die nicht wusste, wohin und für wie lange er weggefahren war, hatte ihm eine Antwort darauf geschrieben: »Irgendwelche in Zivil80 mit roten Ausweisen und der Revierinspekto81r sind gekommen was tust du denn Sohn.«

Das Geschriebene war ohne Satzzeichen, weshalb Sascha die bittere Intonation der Mutter noch deutlicher auffiel. Er schob den Zettel aus seinem Blickfeld.

Sascha hielt ein angezündetes Streichholz an den Herd, hob den Wasserkessel automatisch zum Feuer, weil er schon an dessen Gewicht erkannt hatte, dass genügend Wasser drin war, versuchte zu entscheiden, was jetzt zu tun wäre; mit dem Wasserkessel in der Hand erstarrte er, als es an der Tür klingelte.

Er hatte einen Schwächeanfall, ihm wurde übel, saurer alter Speichel floss in seinem Mund zusammen, die fast abgeheilte Lippe begann wieder zu brennen.

Die Wohnung lag im vierten Stock, weshalb er nicht durchs Fenster fliehen konnte.

»Und wenn ich sie einfach nicht reinlasse?«, schoss es ihm durch den Kopf. »Nein, sie wissen, dass ich hier bin. Wahrscheinlich haben sie mich nach Hause kommen sehen … Na und, die Tür werden sie ja wohl nicht aufbrechen? Dafür brauchen sie irgendeine Erlaubnis … Oder hat der Revierinspektor das Recht dazu? Wenn die Staatssicherheit mit dem Revierinspektor kommt, brechen sie die Tür gleich auf … Warum haben sie mich eigentlich nicht auf der Straße geschnappt?«

Schließlich stellte Sascha den Wasserkessel vorsichtig auf das Feuer und ging auf Zehenspitzen zur Tür.

Er stand da, lauschte. Es war still.

Nach einem kurzen Knacken ertönte noch einmal die Klingel, so laut, dass das Geschirr im Schrank klirrte.

Sascha machte einen entschlossenen Schritt nach vorne und schaute durch das Guckloch.

Auf der anderen Seite stand Negativ, ein junger, siebzehnjähriger Bursche aus der lokalen Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich«.

»Hallo«, sagte er, als er Sascha am Guckloch sah.

»Bist du allein?«, fragte Sascha mit gedämpfter Stimme.

»Allein.«

Sascha öffnete die Tür. Negativ trat ein und drückte ihm die Hand, wie immer dabei seitlich nach oben schauend, als würde er etwas suchen; diesmal war es wohl die Deckenlampe, an der sein angewiderter Blick hängenblieb.

»Du musst das Licht im Vorzimmer abdrehen«, sagte er mürrisch. »Sonst sieht man, wenn du durchs Guckloch schaust.«

Negativ war fünf Jahre jünger als Sascha, ein Unterschied, der aber kaum zu merken war, vermutlich deshalb, weil der im Internat aufgewachsene Negativ ein rationaler und harter Typ war, für sein Alter ziemlich kräftig, wenn auch nicht sehr groß.

Ein Schneidezahn war ausgebrochen, was Negativs ohnehin nicht gerade freundlichem Gesicht mit der niedrigen Stirn und den weit auseinander stehenden Augen noch mehr Härte verlieh.

Er wurde Negativ genannt, weil er ständig mit allem und jedem unzufrieden war. Er war kein Nörgler, eher ein Dickkopf, mit eigenen und eindeutigen Vorstellungen vom Leben. Seine schweigsame Unzufriedenheit war wenig jugendlich düster, oft wirkte sie wie Gleichgültigkeit, was sie aber nicht war.

Er lächelte nicht, und schon gar nicht lachte er. Fast nie. Äußerst selten.

»Woher weißt du, dass ich zu Hause bin?«, fragte Sascha.

»Ich wusste es nicht, bin einfach so gekommen«.

»Wie geht’s euch?«, fragte Sascha laut, der sofort in die Küche ging.

»Na, ihr habt da ja was geliefert in Moskau.« Negativ beantwortete die Frage nicht. »Ich hätte auch hinfahren sollen. Sehr schön. Hast du dich in der Glotze82 gesehen?«

»Mich?« Sascha schaltete den nervig wackelnden Teekessel aus und drehte sich zu Negativ um, der die Schuhe ausgezogen hatte und in die Küche gekommen war.

»Du hast das nicht gesehen? Am Anfang hat man dich in der ersten Kolonne sehen können, und einer von euch hat einen Bullen mit einem Knüppel bearbeitet, dann rennen alle weg, Schaufenster klirren, ein Bulle liegt auf dem Boden, und du springst auf seine Kappe. Tolle Aufnahme. Warum nur auf die Kappe, denk ich mir? Wenn du ihm gleich auf den Kopf gesprungen wärst? Ha?«

Sascha erschrak. Es ist nicht sehr angenehm, wenn einige tausend, vielleicht sogar hunderttausend Menschen deine … Späße … gesehen haben.

»Und bin ich dort gut zu erkennen?«, fragte Sascha leise mit heiserer Stimme.

»Na ja, nicht sehr … Ich hab dich aber erkannt … Darf ich rauchen?«

Sascha schaute Negativ eine Zeitlang an.

»Rauch nur. Und gib mir auch eine …«

»Hör mal, deine Freunde sind gekommen«, fuhr Negativ fort und nahm einen tiefen Zug83.

»Welche Freunde denn?« Sascha zündete sich auch eine Zigarette an und starrte Negativ wieder an.

»Der Moskauer Wenja und Rogow aus Sibirien.«

Wieder erschrak Sascha, diesmal etwas weniger.

»Was für ein Teufel hat die denn geritten?«

»Sie sagen, dass sich jetzt alle in Moskau verkriechen84, sie durchsuchen unsere Löcher. Wenja ist sowieso obdachlos und weiß nicht, wo er leben soll, und Rogow sagte, dass er ein bisschen Angst hat, mit dem Zug nach Sibirien zu fahren; man muss den Pass zeigen, wenn man die Fahrkarte kauft; stattdessen mit der Elektrischka zu fahren … das verstehst du ja wohl: Man wird verrückt, bis man ankommt. Deshalb sind sie …« – Negativ nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch aus und verfolgte ihn mit den Augen – »deshalb sind sie zu uns gekommen. Warum bist du so aufgeregt?«

»Die Bullen waren schon zwei Mal bei mir.«

»Du hast sie nicht reingelassen?«

»Nein, ich war nicht da. Sie sind zur Mutter gekommen.«

»Und zu mir«, sagte Negativ.

»Und – was war?«

»Ich hab ihnen nicht aufgemacht. Sie haben zwei Stunden lang geklopft und sind dann gegangen.«

»Und du hast in dieser Zeit mäuschenstill dagesessen.«

»Nein, wir haben uns durch die Tür herzlich unterhalten. Sie haben versprochen, dass sie mir den Arsch aufreißen und mich vermodern lassen.«

Sascha schaute Negativ an und wusste – wie schon so oft zuvor – dessen großen, glasklaren und ungeheuchelten Mut zu schätzen. Negativ fürchtete sich tatsächlich nicht davor, geschlagen zu werden, auch nicht brutal geschlagen zu werden; Drohungen waren ihm absolut egal. Er war schon mehrere Male mit Schlagstöcken verprügelt worden, weil er mit schwarzer Farbe Sprüche wie »Gouverneur, krepiere!« auf die Mauern der Gebietsverwaltung geschmiert oder eben diesem Gouverneur eine Torte ins Gesicht geschmissen hatte. Etwa vor einem halben Jahr hatten sie ihn gefesselt und zwei Tage lang versucht, aus ihm Aussagen über seine Kumpel heraus zu dreschen; eine Woche davor hatte die lokale Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich« das Büro der Scientologen mit Molotow-Cocktails angezündet.

Die Feuerwehr war rechtzeitig zur Brandstelle gekommen, aber es wurde zum großen Skandal. Nach zweitägiger Folter ließen sie Negativ laufen. Beim Essen, Anziehen und Schnürsenkelbinden musste ihm sein jüngerer Bruder Posik eineinhalb Monate lang helfen. Seinen Namen hatte er, weil er das vollkommene Gegenteil von Negativ war, ein gerissener elfjähriger Junge mit ständigem Grinsen auf dem frechen Maul, der jüngste der lokalen »Sojusniki«*

Ja, sie nannten sich »Sojusniki«. Dieses anfangs sinnlose Wort bekam mit der Zeit Gewicht, Klang und Bedeutung.

Übrigens wurden sie von den Journalisten mit flinker Feder85 oft als »SSler« bezeichnet – nach den beiden Anfangsbuchstaben der Partei, und bisweilen titulierte man die Mitglieder des »Sojus«, wenn man sie erniedrigen oder auf ihr jugendliches Alter hinweisen wollte, als »Milch- und Schwanzlutscher«86.

Negativ verriet keinen der »Sojusniki«, auch sich selbst nicht. Immerhin hatte ja er den Molotow-Cocktail geworfen. Und natürlich nicht allein.

»Die Tür wollten sie aber nicht auf brechen?«, fragte Sascha und schaute auf Negativs Zahnlücke, die er bei einem blöden Streit davongetragen hatte.

»Nein, das wollten sie nicht.«

»Und warum hast du nicht aufgemacht?«

Negativ blickte Sascha entnervt an.

»Haben sie dir ihn Moskau auf den Schädel geschlagen? Ich sagte doch schon, Wenja und Rogow sind bei mir. Zuerst lagen sie unter dem Diwan. Dann haben wir Wenja in einen Teppich gewickelt und in eine Ecke gestellt, und Rogow ist in einen Schrank gekrochen … wir haben uns ganze zwei Stunden lang amüsiert.«

Sascha trank den Tee rasch aus. Eigentlich hatte er essen wollen. Jetzt nicht mehr.

»Wo sind sie?«, fragte er.

»Sie sitzen im Café gegenüber. Trinken zu zweit eine Tasse Kaffee. Gehen wir?«

Sascha holte Geld aus dem Versteck, ein Stück Käse, Zwiebeln vom Dorf, Brot und eine Konservendose, wollte zurück, um der Mutter einige Worte zu schreiben, und ließ es dann doch bleiben. Noch mal schreiben, dass »alles in Ordnung« sei. Mehr als »in Ordnung« gibt es nicht.

»Aha, da sind sie!« Sascha merkte plötzlich, dass er sich sehr freute, Wenja, der mit seiner nicht abgeheilten Nase noch immer schniefte, und den langen Ljoschka zu sehen. Er umarmte sie beide.

Man muss jetzt etwas unternehmen, die Jungs irgendwo unterbringen.

Sascha traute sich nicht, Bekannte von zu Hause aus anzurufen – das Telefon wurde abgehört, so hatte er schon einmal eine Aktion der Partei vergeigt.

Und er hatte auch keine Bekannten, bei denen sie zu dritt hätten übernachten können.

»Und nicht einmal ich allein«, dachte Sascha plötzlich verwundert, ohne dass es ihn traurig machte.

Es hatte sich in den letzten Jahren so ergeben, dass sich Saschas Gesprächspartner auf die Parteigenossen beschränkten. Nicht, dass er für andere Freundschaften keine Zeit hatte, obwohl, nein, er hatte keine Zeit, aber das Wichtigste war, dass er sie schon nicht mehr brauchte, warum auch, es war nicht interessant.

Es würde sich auch nicht lohnen, in die Wohnungen lokaler »Sojusniki« zu gehen – und zwar aus ganz offensichtlichen Gründen: Jederzeit könnten welche in Zivil hereinplatzen.

Auf der Straße begann es zu nieseln – dennoch verließen sie das verrauchte Café mit der lästigen Musik und den unverschämten Preisen und marschierten fröhlich hinaus – schwelgten in Erinnerungen und übertrumpften einander damit, was in Moskau nicht alles geschehen war …

Negativ hörte interessiert zu, manchmal blickte er dem, der gerade sprach, aufmerksam ins Gesicht.

Sie blieben an einem Kiosk stehen, Sascha kaufte eine Flasche Wodka und drei Plastikbecher – Negativ trank nicht, weil ihn der Alkohol immer zum Tier werden ließ.

Rogow erhob keinen Protest gegen den Kauf, Wenja zeigte sich erfreut.

Sie gingen auf einen Kinderspielplatz, auf dem Sascha in seiner frühen Jugend viele Stunden verbracht und unterschiedlich starken Alkohol ausprobiert hatte, um seine mehr oder auch weniger gefügigen Altersgenossinnen genauer zu untersuchen.

Sie setzten sich auf ein Spielzeughäuschen, Sascha holte Käse und Brot aus der Tasche.

»Nur ein Messer haben wir keins«, sagte er und drehte eine Konservenbüchse in der Hand.

Rogow zog schweigend ein Federmesser aus dem Rucksack. Geschickt öffnete er die Büchse.

Sie schenkten ein, stießen an …

Bald fühlten sie sich wohl, nur die Arschbacken wurden auf der feuchten Bank kalt. Sascha stand immer wieder auf und ging herum, Rogow legte sich den Rucksack unter, Wenja war es offenbar egal.

Negativ setzte sich nicht, er hörte zu. Er nahm ein Stück Käserinde, nagte immer wieder ein kleines Stück davon ab und kaute langsam.

»Da, nimm.« Sascha gab ihm ein Stück Käse.

Negativ nahm es. Er wartete, bis alle das Gespräch fortsetzten und legte es dann unbemerkt zurück.

»Wie viele haben sie genau geschnappt, weiß das jemand?«, fragte Sascha.

»Dreiundneunzig Personen, hieß es in den Nachrichten«, antwortete Negativ, allerdings erst, nachdem Wenja und Rogow mit den Schultern gezuckt hatten. Negativ beeilte sich nie, als Erster zu antworten.

»Was wird ihnen vorgeworfen?«

»Fast alle haben administrative Strafen bekommen. Je fünfzehn Tage.«

»Was sind sie denn so … gnädig …«, wunderte sich Wenja, der das Wort »gnädig« von irgendwo hergeholt hatte, ein Wort, das ganz und gar nicht zu seinem Wortschatz passte.

»Kannst du dir vorstellen, was für ein Prozess das gegen dreiundneunzig Personen sein soll? Die ganze Welt wird das erfahren. Das brauchen die doch nicht einmal im Arsch …«, meinte Sascha.

»Trotzdem werden sie zur Abschreckung fünf einsperren«, sagte Rogow.

Im »Sojus« wunderte man sich schon lange nicht mehr über neue Knastgänger87 – mehr als vierzig Personen waren schon erwischt worden und saßen hinter Gittern. Diese Liste wurde nie kürzer, kamen die einen raus, saßen andere ein. Bezeichnenderweise waren fast alle Häftlinge »Terroristen mit Samtpfoten«88 – sie hatten Eier geworfen, oder bekannte und unangenehme Personen mit Mayonnaise überschüttet. Trotzdem bekam man für ein beschädigtes Sakko einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr Gefängnis.

Die einzig echte Strafe hatte ein Kerl aus der Ukraine erhalten, der sich mit Expropriation beschäftigt hatte und zehn Jahre verschärftes Lager bekam.

Sie schwiegen einen Augenblick, bedauerten die Jungs, zumindest Sascha wusste genau, dass sie ihm leid taten, auch bei Ljoschka und Rogow war eine Portion Bruderliebe und Mitleid zu spüren. Was Negativ und Wenja betrifft, so war bei ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nicht alles ganz so eindeutig.

Negativ empfand eher etwas wie Ärger, der in soliden, unaufgeregten Groll überging, und dieser Ärger war gegen alle gerichtet, die in seinem Land die Macht repräsentierten – vom Milizionär an der Straßenecke bis zum Herrn Präsidenten.

Wenja war all das scheißegal, dachte Sascha. Und scheißegal war es ihm vermutlich nicht deshalb, weil sich Wenja nie selbst leid tat. Der Grund war vielmehr – Wenja nahm das Gefängnis absolut gelassen, er war immer darauf gefasst, reinzukommen, wenn er sich auch nicht gerade darum riss. Das ergab, wenn man zusammenrechnet, wie oft Wenja schon fünfzehn Tage bekommen hatte, insgesamt eine ganz schöne Zeit.

Doch sie schwiegen alle …

Sie schenkten ein, stießen ein letztes Mal an.

»Wir haben’s einmal gemacht und werden es wieder machen!«, sagte Sascha, in dessen Worten nicht das geringste Pathos lag. Rogow nickte, Wenja lachte auf, Negativs Gesicht konnte Sascha nicht sehen.

Sie tranken rasch aus, schnupperten an den Ärmeln* und gingen weiter. Rogow sammelte den Müll in einer Plastiktüte und trug ihn zum Abfalleimer.

Sascha überlegte, wo man noch drei weitere Stunden verbringen konnte.

Ruhig und gut gelaunt gingen sie zum Gebäude der Universität. Sascha befahl allen, das Außenseiter-Gegrinse abzulegen und die offenen Gesichter von tagtäglichen Besuchern einer höheren Lehranstalt aufzusetzen – entweder von Studenten höherer Semester oder von Doktoranden. So kamen sie auch beim Wärter vorbei, der mit ernster Miene die Lippen zusammengepresst hielt. Rogow, natürlich ruhig, weil er kein Gesicht aufsetzen musste, sondern seines behielt, Negativ, der sich zur Seite gedreht und das Kinn im Jackenkragen verborgen hatte, und Wenja, der durch die Anspannung der Gesichtsmuskeln plötzlich dumm aussah.

Den Philosophiedozent Aleksej Konstantinowitsch Besletow kannte Sascha schon lange. Die Bekanntschaft zwischen Sascha, der nirgendwo studiert hatte, und dem Dozenten der Geisteswissenschaft war leicht zu erklären: Besletow war ein Schüler seines Vaters.

Sascha war ungefähr vierzehn, als er den jungen, schmalen Besletow, der damals knapp über zwanzig gewesen war, zum ersten Mal gesehen hatte.

Besletow hatte sie einige Male besucht, spielte lange mit seinem flauschigen Schal, den er mehrfach um seinen Hals gewunden hatte. Dann wurde Tee getrunken. Der Vater und er besprachen etwas, der Vater ruhig, Besletow zuckte manchmal mit den Schultern, als würden sie unter seinem Hemd abbröckeln. Der Vater achtete nicht darauf.

Der Vater war überhaupt sehr ruhig, er sprach niemals über Politik, obwohl die wirre oder vielmehr dumme und daher noch widerwärtigere Zeit das durchaus begünstigt hätte.

Dass Besletow äußerst liberale Ansichten vertrat, erfuhr Sascha erst viel später. Und er war sich bis heute nicht im Klaren darüber89, was er davon halten sollte, dass der Vater niemals über »Umbrüche« und »Schicksale« gestritten hatte. Wie ließ sich das erklären? Doch nicht mit Gleichmut …

Besletow war der einzige von Vaters Freunden und Bekannten, der mit ins Dorf zum Begräbnis gefahren war.

Während des Begräbnisses gingen Sascha und Besletow zum »Du« über90, sahen sich dann aber einige Jahre nicht, und in dieser Zeit verlor sich die kurzfristige Nähe wieder. Ihre Bekanntschaft wurde erneuert, als sich ganz unverhofft herausstellte, dass Saschas Freundin bei Aleksej Konstantinowitsch Philosophie studierte. Sie fragte Sascha, als sie sich einmal nach dem Unterricht vor dem Hörsaal trafen:

»Kennst Du eigentlich Aleksej Konstantinowitsch, der bei uns Philosophie unterrichtet?«

Im selben Moment gab Sascha Besletow die Hand und beschloss, wegen dessen zupackendem Händedruck sowie der lehrerhaften Körperhaltung zu vergessen, dass sie per Du waren.

»Ja, Aleksej Konstantinowitsch und ich … wir sind miteinander bekannt.«

Einige Male begegneten Sascha und Besletow einander auf dem Gang der Universität und tauschten im Vorbeigehen einen Händedruck aus, bis Sascha sich mit seiner Freundin aus einem banalen und längst vergessenen Grund zerstritt und Besletow abermals für eine Weile aus den Augen verlor.

Vor kaum mehr als einem Monat gab es eine lokale Veranstaltung des »Sojus« und Sascha traf unmittelbar nach dem Ende der wie immer lautstarken und mit Provokationen gespickten Aktion mit Besletow zusammen.

»Ich habe beobachtet, wie ihr dort … herumschreit«, sagte Besletow sanftmütig und mit professoralem Lächeln.

Sascha empfand wegen seiner sozusagen politischen Einstellungen schon lange keine Hemmungen mehr. (In Wirklichkeit ging es ihm niemals nur um Politik, sondern um das, was vielleicht den einzigen Sinn seines Lebens ausmachte.) Dieses Mal verspürte er jedoch ein leises Gefühl von Peinlichkeit. Vielleicht wegen seiner rauen Kehle, die gerade erst gebrüllt hatte: »Präsident, hau ab!« Vielleicht auch wegen seiner tiefsitzenden Verbitterung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Er war nur zu vertraut mit der groben Miliz, die sie unverständlicherweise dieses Mal nicht hochgenommen hatte: Normalerweise schleppten sie die »Sojusniki« am Ende einer Demonstration auf die Wache, wo diese zum hundertsten Mal fotografiert und ihnen »die Finger abgenommen«91 wurden.

Kurz gesagt, Sascha gelang es nicht, sich umzustellen, und er sah Besletow mit einem mühsam erzwungenen sonderbaren Lächeln an.

Dieser brach plötzlich in ein gutes, weil jugendliches und ehrliches Lachen aus und sagte: »Ihr werdet’s schwer haben.«

Besletow hatte Sascha eingeladen, zur Uni zu kommen, um miteinander zu sprechen (»Kannst auch Freunde mitbringen …«), und er hatte das so getan, dass Sascha tatsächlich kommen wollte.

Es gab neben der gütigen Aufrichtigkeit von Besletow noch andere Gründe für einen Besuch.

Saschas Vater war ein gebildeter Mensch – fast ein Professor, aber Sascha fühlte sich immer wie ein Straßenköter. Vielleicht, weil er nicht studiert hatte und die richtigen Bücher erst nach der Armee zu lesen begonnen hatte, vor der ihn auch die Mutter, eine im Grunde einfache Frau, nicht hatte bewahren konnte.

Vielleicht fehlte es Sascha an Sicherheit, weil der Vater sich nie mit ihm beschäftigt hatte, er sprach sogar selten mit seinem Sohn. Es war so: Der Vater brauchte den Umgang nicht, und Sascha drängte sich nicht auf, vielleicht war’s auch umgekehrt: Der Vater drängte sich nicht auf, und Sascha brauchte den Kontakt damals nicht.

74
  »denn etwa« – «нешто»


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75
  Timochas Winkel – Тимохин угол


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76
  schmoren – жарились (на солнце)


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77
  ging mit vorsichtigen Storchenschritten – шел, осторожно и высоко ступая


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78
  Er hätte geschworen – он был готов поклясться


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79
  er aß kein Abendbrot – он не ужинал


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80
  in Zivil – в штатском


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81
  der Revierinspektor – участковый


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82
  die Glotze – «ящик», телевизор


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83
  nahm einen tiefen Zug – глубоко затянулся


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84
  verkriechen – прятаться


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85
  mit flinker Feder – с легкой руки


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86
  »Milch- und Schwanzlutscher« – (жарг.) «отсосы»


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87
  Knastgänger – «сидельцы»


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88
  »Terroristen mit Samtpfoten« – «бархатные террористы»


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89
  sich über etwas im Klaren sein – знать что-то


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90
  zum »Du« übergehen – перейти на «ты»


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91
  »die Finger abnehmen« – «снимать пальчики» (снимать отпечатки пальцев)


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Age restriction:
16+
Release date on Litres:
25 November 2019
Translation date:
2018
Writing date:
2006
Volume:
450 p. 1 illustration
ISBN:
978-5-9925-1411-7
Copyright holder:
КАРО
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