Mein Name ist DRAKE. Francis Drake

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„Hast Du die Memoiren dieses Piraten gelesen, Vivian?“

Neugierig blickt mich der alte Mann mit dem imposanten Kopf eines bärtigen Schotten aus den Highlands an. Dann sagt er schmunzelnd:

„Immer noch ein hübsches Ding, diese Miss Collins. Klug und hübsch. Das schafft Neid, mein Kind. Nicht nur Neid bei den Suffragetten, sondern auch bei den männlichen Kollegen. Erlebst Du viele Nachstellungen und Anmachen an der Uni – ich kann mir das sehr gut vorstellen . . . Also, hast Du die Texte gelesen?“

„Ja, sicher, sogar zweimal sehr intensiv und mit großer Freude – und ich habe mir sehr viele Notizen gemacht und Zitate daraus gesammelt.“

„Das ist sehr gut. Nun soll ich sie studieren, wie Du mir am Telefon erklärtest. Warum?“

„Ich will sie als Buch herausgeben, doch ich möchte sicher sein, dass sie echt sind. Es wird ja so viel kopiert, auch schon vor über 400 Jahren war das nicht anders. Besonders reizvoll finde ich die Dialoge und Begegnung mit unserem Freund Shakespeare. Und natürlich Drakes Gespräche mit der Königin. Es geht hier um Macht, Gold, Intrigen und Fortschritt. Aus der Feder des Drake klingt das sehr authentisch und demaskierend. Es zeigt aber auch, wie das Gold die damalige Welt beherrschte und veränderte, Tyrannen wachsen ließ und Adel und Klerus in die zweite Reihe verdrängten. Der Kaufmann hatte plötzlich das Sagen im Königreich. Ich finde, das ist eine höchst interessante Parallele zu heute. Noch immer regiert das Geld die Welt der Eliten - heute das Öl, das Gas, die seltene Erden - rücksichtslos und ohne Mitleid gegenüber denen, die wenig oder nichts besitzen. Wir nennen es heute globales Management, damals hieß es Freibeuterei.“

Dann zitiere ich eine Stelle aus einer Rede Königin Elisabeths, die die Zukunft Englands beschreibt - ich entdeckte sie im Archiv der Universität: „Die historische Rolle Englands in Europa gehört der Vergangenheit an. Wir werden nun weltweit agieren, als ein großes Empire, als eine große Nation, die Kolonien in der ganzen Welt besitzt. Die Vereinigten Königreiche werden die Zukunft sein, allein geboren aus eigener Stärke. In Amerika, Afrika, Australien und in Asien. Wer sollte uns jetzt noch aufhalten? Wir können uns mit den kleinstaatlichen Problemen Europas und dem ständigen Gezänk nicht mehr aufhalten. Wir denken ab sofort in anderen Dimensionen.“ Soweit die Königin. Und exakt diese Gedankenwelt schildert Drake in seinen Aufzeichnungen. Das klingt doch vor dem Hickhack des Brexit sehr aktuell, finden Sie nicht?“

„Glaubst Du denn, dass sie keine Fälschung sind? Es gibt so viele Plagiate in der Neuzeit, denke nur an den Unsinn mit den gefälschten Tagebüchern des Adolf Hitler! War das eine Pleite für den Journalismus.“

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber doch schon sehr nahe daran zu glauben, dass sie aus der Feder unseres Nationalhelden stammen.“

„Wie findest Du sie? Sind sie den Druck wert?“

„Nun, der Stil ist sicher aus der Zeit geboren, etwas belehrend vielleicht, aber die Aufzeichnungen sind ein erfrischendes Sittengemälde aus der Zeit der großen Elisabeth. Drake hat, wie er selbst bestätigt, am Rad der Geschichte kräftig mit gedreht. Er rettet Königin Elisabeth vor dem Bankrott, schwächt gewaltig die spanische Seemacht und macht dadurch den Weg frei für die Gründung der englischen Kolonien. Drake ist der typische Vertreter der Neuzeit, wenn nicht der beginnenden Moderne. Er gibt sich als rationaler Geistesmensch, der die überkommenen Machtstrukturen des 16. Jahrhunderts in seiner sympathischen, flotten Art einfach für überholt erklärt und die Neue Welt nach seinen Vorstellungen neu ordnet. Er war ein echter Kerl und Freibeuter am Anfang einer neuen Zeitenwende. Wenn man so will war er einer der Wegbereiter des Kapitalismus. Es ist spannend, dem Zeitzeugen Drake dabei auf die Spur zu kommen.“

„Warum soll ich sie denn ebenfalls lesen, ich traue Dir ein kompetentes Urteil zu, das wohl, aber als Buchveröffentlichung sind sie sicher ungeeignet.“

„Oh, das sicher nicht. Mich interessiert Ihre Meinung, Sir, die meines alten, verehrten Professors, dessen Nachfolgerin ich gerne geworden wäre. Doch der Rektor war anderer Meinung, da ich nach mehreren intensiven Bemühungen nicht mit ihm ins Bett gegangen bin, was ihn dann sehr plötzlich zu einer anderen Meinung über meine wissenschaftlichen Qualifikationen brachte. Aus der Traum oder Bettlaken first. Ich erlebe das tatsächlich oft, dass die männliche Elite glaubt, mit ihrem Penis die Lehrstühle erobern zu können. Was meinen Sie, Herr Professor.“

„Nun, wir waren keine Kinder von Traurigkeit und spuckten in manche Kanne, scheuten uns vor keinem Duell, aber wir waren Gentlemen, die genießen und schweigen konnten. Ein Prahlhans findet schnell keine Beute mehr. Er gilt als Schwätzer und Wichtigtuer. Der erfolgreiche Verführer muss verschwiegen sein, sein Amt beherrschen, einen guten Job machen und über exzellente Verbindungen verfügen. Das können nur wenige. Also, starten wir das Unternehmen Drake als Paar, als Herausgeber-Duo, wie ich schon vorschlug. Spittfield ist ein räudiger Wolf, eine Niete und Wichtigtuer, aber ein guter Wendehals. Wenn ich das Epos des Drake tatsächlich lese, Vivian, dann wird es die Meinung eines alten Mannes sein, der sich zurzeit mit dem Parlament wegen des Brexit anlegt. England verlässt Europa, das ist vor dem historischen Hintergrund Europas nicht mehr zu begreifen. Aber es beweist deutlich: Das Volk ist dumm. Dummheit regiert immer die Welt: früher, heute, morgen, immer und ewig. Es ist eine Tyrannei unter dem Mäntelchen einer Volksentscheidung. Vielleicht gelingt es ja wirklich, dass Schottland sich von England löst und in der EU verbleibt. Ich wäre dafür! Bei Sankt Andrew! Aber, schönes Kind, auf uns hört ja niemand.“

„Und genau das beschreibt auch Francis Drake, Sir. Er sah manche Entwicklung in Europa klug voraus und warnte davor, das Empire scheitern zu lassen. Wir dürften uns nicht benehmen – so schreibt er in seinen Aufzeichnungen - wie die typischen Kolonialherren. Sonst würden wir dafür die Quittung erhalten. Er sah es voraus: Der Ausbeutung und der Versklavung in den Kolonien folgten die Aufstände gegen die Krone. Indien wurde erst 1948 in die Freiheit entlassen. Erst 1948! Drake warnte damals seine Königin vor den Folgen, im Grunde warnte er vor einer großen Flüchtlingswelle, die die Mutterländer überfluten würde, vor einer neuen Völkerwanderung. Wie sich die Bilder - betrachtet man die heutige Flüchtlingswelle - gleichen! Aber Elisabeth I. setzt das weltumspannende britische Empire ja nicht in den Sand, sondern erst viele Jahre später ihre Nachfolger . . .“

„Wir sollten jetzt ein Glas des Portweins trinken, liebe Vivian. Ich gestehe, Du hast mich neugierig gemacht. Dieser Drake, ein Vagabund und Pirat, ein Sklavenhändler und Admiral, ein Entdecker und Weltumsegler und der Bezwinger der spanischen Armada – nun soll er noch einmal berühmt werden, durch die plötzlich aufgetauchten Memoiren? Kaum zu glauben, eher unwahrscheinlich.“

Nach einer kurzen Pause meint Sir Bruce weiter: „Er war ein Hallodri, das ist sicher. Aber: Er ist ein englischer Nationalheld und steht in einer Reihe mit Admiral Lord Nelson, John Churchill, dem ersten Duke of Marlborough oder dem Herzog von Wellington, dem Helden von Waterloo. Er war ein erfolgreicher, daher wohl brutaler Pirat und sicher ein guter Seefahrer, der erste Engländer, der die Welt umsegelte und die Alleinherrschaft der Spanier auf den Weltmeeren brach. Durch ihn hat sich die britische Seefahrt völlig verändert, sie wurde nicht belächelt. England begann seinen Aufstieg, der im 19. Jahrhundert mit dem British Empire seinen Höhepunkt erreichte. Dass weltweit der Ruf „Britannia rules“ erschallen konnte, geht eindeutig auf diesen Seebären zurück. Ja, so ist es wohl . . .“

„Ja, Drake war ja kein hochgebildeter Mann und besaß nur eine geringe Schulbildung, aber er war ein kluger Berater der Königin. Ein Naturtalent, wenn man so will, der sich sein Wissen selbst aneignete. Er sagte voraus, dass die Menschen aus den Kolonien Afrikas eines Tages vor den Toren Europas stehen werden, weil wir die Kolonien ausgeraubt und die Völker sich ihrem Schicksal überlassen haben. Er sagt: Sie kommen zu uns, weil sie ein Stück von der Beute zurückhaben wollen.“

„So, sagt er das?“

„Ja, sehr oft und viel anderes Kluges ebenfalls. Gerade auch in den Gesprächen mit der Königin, die den Grundstein für das Empire ja legte. Ich zitiere Drake: „Ich habe nicht allein das Wissen über das Aussehen der Erde verbessert, ich wurde auch als entscheidender Akteur an einer Wende in der Weltpolitik beteiligt. Meine erfolgreichen Kaperfahrten zeigten, dass sogar die führende Seemacht Spanien keineswegs unbesiegbar gewesen ist, sondern verletzlich und angreifbar war. Unser erfolgreicher Kampf gegen die spanische Armada im Jahre 1588 leitete den allmählichen Niedergang der iberischen Vorherrschaft auf dem Meer ein. Ich bin sehr stolz, meinen Teil geleistet zu haben: England hat sich dadurch als wichtige Seefahrernation etabliert. Ich sage stolz: Ohne Drake kein Empire!“

„Dieser arrogante Pirat! War er der Liebhaber der Queen?“

„Ja, er beschreibt sein Verhältnis sehr dezent“, antworte ich lächelnd.

„Nun, ist das ein Beweis? Gemunkelt wird das ja immer schon.“

„Er beschreibt die Liaison sehr ritterlich, fast zärtlich.“

„Der ungebildete Pirat als Romantiker. Ich kann es nicht glauben. Und Du meinst, der Kontakt zu Shakespeare wird mich interessieren?“

„Ganz sicher, Sir.“

„Nun zur Hauptsache: Woher hast Du die Texte, die angeblich von Drake stammen?“

Ich habe die Frage natürlich erwartet. Es ist eine merkwürdige, eine schier unglaubliche Geschichte, das gebe ich zu: Ich erhielt vor ein paar Wochen einen Anruf eines Mannes aus Inverness in Schottland. Ein Doktor Jack McFinn rief mich an und erklärte mir, er habe von mir gehört und gelesen und sei der Meinung, ich sei die richtige Person für eine Sensation, die er mir zwar exklusiv, jedoch nur unter vier Augen und mit der Zahlung von 50 000 Pfund anvertrauen würde. Ich überlegte lange, denn ich erhielt nur folgende Information: Die Drake-Memoiren befänden sich in seinem Besitz . . .

 

„Und, bist Du nach Inverness gereist?“ Ich sehe am Gesicht meines Professors, wie er seine Zweifel zu unterdrücken versucht.

„Natürlich, Sir, nach einer Woche Bedenkzeit fuhr ich nach Inverness und traf mich mit einem sehr sympathischen, etwa 40jährigen Mann, einem Arzt für Kinderkrankheiten, einem Doktor Jack McFinn in dessen Privathaus, einem gemütlichen Manor House. Er berichtete von einem seiner Vorfahren, der ein Pirat gewesen sein soll. Es war ein klarer Deal, Sir Bruce. Ich prüfte das Papier, was ich ja gelernt hatte, las ein paar Seiten quer, fragte nach der Herkunft der Lebenserinnerungen.“

„Und, was hast Du erfahren?“

„Stellen Sie sich vor, Sir: Es klingt unwahrscheinlich, aber einer der Vorfahren des Arztes McFinn war 1. Offizier und enger Gefährte des Admirals Drake. Drake erwähnt ihn sehr oft in seinen Erinnerungen. Das lässt mich vermuten, dass das Manuskript tatsächlich von Drake stammt. Diesem gewissen John McFinn gelang es - nach dem Tod des Admirals im Jahre 1596 - auf Umwegen die Aufzeichnungen mit nach England zu bringen, wo er sie der Witwe Lady Drake übergab. Wie sie tatsächlich wieder in den Besitz der Familie McFinn zurückkehrten, weiß ich nicht exakt. Das wird wohl ein Geheimnis bleiben.“

„Hast Du . . . die Summe bezahlt?“

„Ja. Ich habe von meinen Eltern nach ihrem gemeinem Unfalltod – wie Sie ja wissen - ein mittleres Vermögen geerbt, das mir ein sorgenfreies Leben ermöglicht, so dass ich die Kaufsumme ohne weiteres entrichten konnte.“

Der Professor nickt und trink sein Portweinglas in einem Zug leer: „Ich werde das Manuskript lesen, schnell und genau und mit all meinem Wissen über die Zeit der ersten Elisabeth. Ob ich es als Buch verlegen werde, entscheide ich danach, das wird sich zeigen. Du kannst ja schon mal ein Exposé vorbereiten, zu dem auch die Informationen aus der schottischen Quelle gehören . . . von diesem Doktor McFinn!“

„Ja, das mache ich gerne. Ein Vorfahre aus der Familie des Arztes, so erklärte er mir, habe die Aufzeichnungen wahrscheinlich von den Nachfahren der Vivian Drake, einer angeblichen Tochter des Admirals, erhalten. Ob das tatsächlich der Wahrheit entspricht, weiß ich natürlich nicht. Ich gebe zu, das klingt alles sehr mysteriös. Aber so war das Leben des Drake, Sie werden es ja beim Lesen erfahren . . . ich erwarte bald Ihr Urteil, Sir Bruce.“

„Ich gebe mir Mühe, mein Kind. Du hast mich tatsächlich neugierig gemacht. Du weißt ja, ich lese immer zuerst den Schluss eines Buches, dann erst beginne ich am Anfang. Eine Marotte. Schade ist nur, dass dieser Cretino Brian Spittfield von der Existenz erfahren hat. Ich traue dem Kerl nicht. Ich las neulich einen Vortrag von ihm, in dem er die Herrschaft der Wissenschaft fordert: Nur Wissenschaftler sollten die Macht über die Unwissenden besitzen, da das Volk dumm und dreist sei. Das ist eine gefährliche These, Vivian, die er vertritt, da er alle Menschen zu Idioten erklärt, die keine Wissenschaftler sind. Ich bezeichne ihn als einen gefährlichen, neidischen Psychopathen. Neider können großes Unheil anrichten, besonders wenn sie verklemmte Wissenschaftler sind. In erinnere mich an einen Mordfall vor vielen Jahren, als ein Kommilitone aus meinem Seminar ein Original-Brief der Königin Elisabeth I. aus dem Archiv der Universität stahl. Der Idiot bot das Stück in den USA an, wohin es tatsächlich verkauft wurde und für immer verschwand. Der Kaufpreis betrug angeblich 90 000 Pfund. Wir wurden zu spät aktiv und konnten dem Burschen letztendlich den Diebstahl nicht beweisen. Doch der Dieb wurde später beraubt und so schwer verletzt, dass er an den Folgen verstarb. Du siehst, es gibt zu allen Zeiten solche Gangster. Und dieser Depp Spittfield könnte Dir ebenfalls schaden. Sei auf der Hut, mein Kind. Auch in unseren Kreisen wimmelt es von undurchsichtigen Charakteren, deren Profilneurosen sie zu obskuren Reaktionen, Prognosen und Szenarien veranlassen. Den guten Drake trifft sicher keine Schuld.“

„Ich lasse Ihnen die Kopie hier. Wenn Sie das Okay geben, möchte ich die Lebenserinnerungen schnell veröffentlichen, bevor die Gerüchtewelle das Projekt eventuell gefährdet.“

„Ich werde mich beeilen, das verspreche ich. Bin ich überzeugt, sollten wir beide als Herausgeber firmieren, das macht Eindruck bei den Skeptikern in der internationalen Szene. Und die wird es geben, denn es kann nicht sein, was nicht sein darf.“

Zum Abschied, bevor die finster dreinblickende Hausdame mich zur Tür begleitet, sagt Sir Bruce eindringlich: „Achte auf Dich, Vivian. Das Gerücht hat schnelle Beine. Ich schlage vor, dass wir unseren Dialog über das Werk in den Text mit einfließen lassen. Das macht man heute gerne, angeblich erhöht das die Spannung bei der persönlichen Lebensbeichte des Sir Francis. Lassen wir sie erscheinen, werden Alt und Jung begeistert sein. Den Erfolg, auch finanziell, überlasse ich aber Dir allein.“

Etwas benommen, aber glücklich verlasse ich das Anwesen meines Mentors. Sollte uns beiden tatsächlich dieser Coup gelingen?

X

„Nun“, frage ich vorschnell. Vor Aufregung beginne ich zu schwitzen. Sir Bruce lacht zunächst, als ich ihn Tage später anrufe. Dann sagt er in seiner etwas umständlichen Art: „Ja, Vivian, es soll wohl so sein: Ich habe bereits einen Drucktermin mit meinem Verlagschef vereinbart. Noch habe ich ja die Memoiren nicht ganz zu Ende gelesen, aber ich muss sagen: Es wird ein Kuchen daraus. Mir gefällt die zum Teil naive Art, wie er schreibt und was er schreibt. Besonders seine Beobachtungen und Rückschlüsse: Vieles ist ein gedankliches Durcheinander und ein Austoben in Wiederholungen, aber das ist ja gerade das Authentische an seiner Lebensbeichte. Rufe mich in drei Tagen zurück, dann bin ich mit dem Lesen und dem Denken über diesen Drake durch.“

Ich komme zwei Tage später von einem wunderbaren Abend aus der Königlichen Oper in Glasgow, in der ich eine grandiose „La Traviata“ unter der Leitung unseres Generalmusikdirektors David Parry erlebte, fröhlich in meine Wohnung zurück, um mich bei einem Glas Rotwein zu entspannen, denn am nächsten Vormittag habe ich eine Vorlesung über das Thema: „Welchen Einfluss hatten die Zwangsheiraten an den Königshäusern in Europa auf die Entwicklung des Kontinents?“ anberaumt. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Thema viele Studierende interessiert, denn es soll beweisen, wie verwandt gerade auch England mit den Königsgeschlechtern des Kontinent gewesen ist – gerade vor den unerträglichen Diskussion um den Brexit ein sicher aktueller Bezug.

Als ich aus meiner Garage komme, rieche ich bereits den Brandgeruch und sehe mehrere Feuerwehrleute vor meinem Haus stehen, die sich angeregt mit anderen Bewohnern und Nachbarn unterhalten. Wenig später klärt mich ein Officer auf: „Sind Sie Miss Vivian Collins. Doktor Collins?“

Als ich das bejahe, führt mich der Feuerwehrmann durch einen Ring von gaffenden Menschen zum Fahrstuhl und in die erste Etage, wo sich meine Wohnung befindet. Zwei Beamte sichern den Eingang. Der Brandgeruch sticht mir in der Nase. „Ma‘am, es ist nicht viel zerstört, nur . . . Ihr Tresor wurde aufgebrochen und Papier wurde verbrannt, viel Papier . . . im Kamin.“

Ich stürme in die große Bibliothek, in der das Ungetüm von Geldschrank steht. Die Tür ist geöffnet, im Kamin qualmt noch ein großer Haufen Papier, besser, was an Asche davon übrig geblieben ist. Mit einem Blick sehe ich, was dort gebrannt hat: Drakes Lebenserinnerungen! Mit einem Schrei stürze ich auf die verkohlten und vom Löschvorgang aufgeweichten Reste.

„Da hat jemand mit Benzin gearbeitet, deshalb auch die fast komplette Zerstörung der vielen Seiten. Das Feuer entwickelte starken Rauch, so dass uns Mitbewohner alarmierten. Wir konnten die Flammen ohne Problem bekämpfen, das war kein wirklich großer Einsatz. Uns wunderte nur, dass die Tür nicht verschlossen war, sondern aufstand. Jemand muss einen Schlüssel gehabt haben. Auch für den Tresor. Können Sie sich das erklären, Doktor Collins?“

Ich staune einen Moment lang, dann meint der Feuerwehrmann aufgeregt: „Und dort haben wir noch etwas gefunden: Eine männliche Leiche, wenn Sie mir bitte folgen.“

In der großen Küche meiner Wohnung, in einer dafür extra gefliesten Ecke, die mit einem Vorhang verdeckt werden kann, liegt in einer silbrig glänzenden Hülle ein regungsloser Mensch. Als die Beamten den Reißverschluss öffnen, sehe ich sofort, wer der Tote ist: Dr. Brian Spittfield.

„Er hing dort an einem der Deckenbalken, an einem Messinghaken“, meinte der Leiter des Brandeinsatzes, Peter Bullister. Ich erkläre dem Mann, dass dort mein Vater immer seine Beute aufhängte, um sie auszuweiden, wenn er mit einem Stück Wild nach Hause kam. Die Küche ist ungewöhnlich groß, da meine Eltern hier sehr gerne aufwendig gekocht haben, wenn sie Gäste hatten.

„Ja, es ist Doktor Brian Spittfield, der Historiker“, sage ich leise.

„Kannten Sie ihn gut, Miss Collins, ist er Ihr Ehemann, Ihr Lebenspartner? Denn der . . . Tote hatte die Schlüssel zur Wohnung bei sich . . . und auch zum Tresor. Ist das nicht merkwürdig?“

Ich sage zunächst nichts. Der Vorfall lässt mich verstummen. Ich kann mir nicht vorstellen, was der Grund für die Handlung des Toten sein könnte.

„Doktor Collins . . . Wir transportieren die Leiche nun fort. Es ist ein klarer Selbstmord: Der Tote hinterließ ein Schreiben an Sie. Wir können den Inhalt so nicht verstehen, können Sie uns helfen?“

„Natürlich“, erkläre ich leicht stotternd. „Wir sind nicht . . . verheiratet . . . oder ein Paar.“

Ich kann es nicht fassen, was hier in meiner Wohnung geschah. Ich setze mich im Wohnzimmer in einen Sessel und studiere den Abschiedsbrief meines Kollegen, den mir einer der Feuerwehrleute übergibt, nachdem er eine Kopie gemacht hat :

„Liebe Vivian, verzeih, aber ich duze Dich jetzt einfach mal,

Du kannst es mir nicht mehr verbieten, denn ich bin bereits tot, wenn Du diese Zeilen liest, die ich ohne Traurigkeit schrieb. Es war für mich leicht, in Deine Wohnung zu kommen, denn ich habe vor Wochen Kopien Deiner Schlüssel machen lassen. Du hast es nicht bemerkt, da Dich dieser Schurke Drake so begeisterte. Ja, ich war eifersüchtig auf Deine Erfolge, die ich Dir neidete. Du und Dein schrulliger Professor! Wahrscheinlich hat er Dich verführt und Dir aus Dankbarkeit diese hervorragenden Prädikate testiert. Ich hätte Dich auch gerne erobert, aber Du begegnetest mir nur mit Deiner Verachtung für mich. Das schürte meinen hehren Hass und ließ mich meinen Plan entwickeln. Als Du in Deiner Euphorie mir das Geheimnis der angeblichen Memoiren des Drake erzähltest, reifte mein Plan, Dein Werk zu zerstören, denn Du solltest nicht den Ruhm ernten, den ich nie erlebte. Ich verbrannte das Manuskript, um ganz sicher zu gehen. Da Du mir auf die Schliche gekommen wärest, habe ich meinem lieblosen Leben ein Ende gesetzt. Das hatte ich sowieso vor, denn mein Lungentumor hat sich in den letzten Monaten rapide vergrößert. So ist die Vernichtung des Manuskriptes meine letzte bedeutende Tat.

Gestorben wäre ich sowieso in ein paar Monaten, also dann bitte in meiner eigenen Regie! Hier hänge ich also und kann nicht anders! Lebe wohl, doch ohne den Drake-Erfolg, den gönne ich Dir auch nach meinem Tod nicht. Niemals.

Dr. Brian Spittfield,

Dozent der Universität von Glasgow“

X

„Er war ein Idiot und als Idiot ist er gestorben! Sein Tod ist kein Verlust.“

Sir Bruce nimmt den Selbstmord des Brian Spittfield, als ich ihm am darauffolgenden Tag davon berichte, mit diesen beiden Sätzen zur Kenntnis. Mit keinem weiteren Wort kommentiert er den spektakulären Tod. Ich wundere mich auch über mich selbst: Brians Tod berührt mich merkwürdiger Weise kaum, auch dass er sich in meiner Wohnung umbrachte, schockiert mich nicht. Meine Aussagen wurden am Tag danach auf der Wache protokolliert, dann war für die Polizei und auch für mich der Fall abgeschlossen. Klarer Suizid. Aus. Vorbei.

Sir Bruce unterbricht meine Gedanken und meint am Telefon nach einer kleinen Pause weiter: „Wir gehen bald gezielt ans Werk, Vivian, ich muss noch weniger als 100 Seiten lesen . . . bin aber schon jetzt begeistert. Ich werde meine ganze Autorität und meine internationalen Kontakte in das Projekt stecken. Das wird ein Knaller . . . ganz sicher.“

 

Fünf Monate später erscheinen die Memoiren des Sir Francis Drake als Buch – mit einer Startauflage von 35 000 gedruckten Exemplaren und als E-Book für den Englisch sprechenden Markt. In einer Pressekonferenz stellen Sir Bruce und ich die Lebenserinnerungen des berühmten Piraten vor . . . Die Öffentlichkeit ist sehr überrascht, dass plötzlich Memoiren des Seeräubers aufgetaucht sind. Ein großes Rätselraten setzt ein. Zweifel werden laut, spöttische Kommentare von Kollegen werden zitiert. Doch der Erfolg lässt sich dadurch nicht verhindern. Als Sir Bruce mich nach Monaten – ich bin gerade auf einer Lese-Tour durch Cornwall und Wales - anruft und mir mitteilt, dass ein Produzent aus Hollywood an einer Verfilmung der Lebenserinnerungen des Drake interessiert sei, wird mir klar, dass wir alles richtig gemacht haben . . .

Einer der ersten Gratulanten ist übrigens Dr. Jack McFinn, der Kinderarzt aus Inverness. Ich schicke ihm – wie gewünscht - zehn signierte Exemplare . . .