Ein Arzt als Patient

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Ein Arzt als Patient
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Dr. Wolfgang Wild

EIN ARZT ALS PATIENT

Engelsdorfer Verlag

2011

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar

Alles in diesem Buch Beschriebene ist die Meinung des Verfassers.

Sie ist kein Ersatz für kompetenten medizinischen Rat.

Jeder soll weiterhin für sein eigenes Handeln selbst verantwortlich sein.

Ähnlichkeiten mit tatsächlich existierenden Personen

und Schauplätzen wären rein zufällig und sind unbeabsichtigt.

Daher ist eine Haftung des Verlages oder des Autors für etwaige

Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ausgeschlossen.

Copyright (2011) Engelsdorfer Verlag

Illustrationen © Monika Schiffel-Moosdorf

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Danksagung

Über den Autor

Vorwort

I. Wenn der Behandelnde zum Behandelten wird

II. Tagebuch eines Arztpatienten

Teil I

Fehler und Mängel beim Erhaltungsversuch meines linken Beines

1. Kapitel

Dezember 1997: Die Anfänge eines jahrzehntelangen Leidens

2. Kapitel

August 1998: Der erste Bypassverschluss

3. Kapitel

Dezember 1998: Das falsche Bett und die erste Komplikation

4. Kapitel

März 1999: Vorteil und Risiko neuer Medikamente

5. Kapitel

Dezember 2003: Die Sorge um mein Bein nimmt zu, und mein Hund ist eine Katze

6. Kapitel

Januar 2004: Hospitalinfektion und Wahlleistungsvertrag

7. Kapitel

September 2004: Die Lebensdauer eines Bypasses ist nicht unbegrenzt

8. Kapitel

Januar 2005: Eine Zahnbehandlung als „Bypasskiller“

9. Kapitel

März 2005: Am Wochenende hat jeder Mitarbeiter eine statt seine Aufgabe

10. Kapitel

14. bis 16. März 2006: Fallpauschale gegen Konsiliartätigkeit

11. Kapitel

17. bis 24. März 2006: Keiner ahnte die Gefahr

12. Kapitel

24. bis 31. März 2006: Zum Schluss steht jede Blutung

13. Kapitel

April 2006: Zum fehlenden Glück kam auch noch Pech hinzu

14. Kapitel

April 2008: Das Verfallsdatum meiner Gefäßprothese war längst überschritten

15. Kapitel

11. Juni bis 03. September 2008: Die längste stationäre Behandlung mit den ersten zwei entscheidenden ärztlichen Fehlern beim Erhaltungsversuch meines linken Beines

16. Kapitel

15. September bis 06. November 2008: Die letzte stationäre Behandlung meines Beines mit zwei weiteren entscheidenden ärztlichen Fehlern beim Erhaltungsversuch desselben

17. Kapitel

7. November 2008 bis 15. April 2009: Die häusliche Nachsorge und ambulante Rehabilitation

Teil II

Prostatakrebs, auch das noch

18. Kapitel

16. April 2009 bis 31. Mai 2009: Die Diagnose

19. Kapitel

1. Juni 2009 bis 1. Juli 2009: Die Behandlung

20. Kapitel

2. Juli 2009 bis 10. Januar 2010: Trotz gutem Operationsergebnis Enttäuschung und Sorge

21. Kapitel

11. Januar bis 31. März 2010: Die Strahlentherapie

22. Kapitel

1. April bis – (wer weiß das schon) Die Hoffnung stirbt zuletzt

Nachwort

Quellenverzeichnis

Für meine Enkel Damina und Gorjan

Ich danke meiner Frau und meinen Kindern

für ihre Unterstützung und Beratung.


Dr. Wolfgang Wild wurde 1943 in Leipzig geboren und studierte nach dem Abitur an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald Humanmedizin.

Seine weitere ärztliche Ausbildung (Facharzt, Promotion und Subspezialisierung) erfolgte an der Klinik für Chirurgie der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Hier arbeitete er siebzehn Jahre lang als wissenschaftlicher Assistent und eröffnete nach der Wende eine eigene Praxis für Chirurgie und Unfallchirurgie. Aus gesundheitlichen Gründen musste er diese im Jahr 2008 an seinen Sohn übergeben.

Vorwort

In diesem Buch berichte ich über zwei verschiedene Krankheitsbilder. Eigentlich sind es keine Krankheiten, weil diese Anfang und Ende haben; – die hier geschilderten Erkrankungen sind Leiden! Sie haben einen Anfang, aber entweder kein oder ein schreckliches Ende, wie etwa ein Beinverlust oder eine Krebserkrankung.

 

Der Sinn meiner niedergeschriebenen Gedanken besteht im ersten Teil darin, den Umstand, auf der anderen Seite zu stehen, zu nutzen, um Behandlungsfehler zu erkennen, zu beschreiben und sich somit zum „Anwalt der Patienten“ zu machen∗13. Deutsche Gerichte haben jährlich rund zehntausend Fälle in Sachen Arzthaftung zu verhandeln17.

Es kommt mir nicht darauf an, die Behandlungsfehler zu personifizieren, denn eine Vielzahl derer liegt auch im System begründet23. Fehler, Irrtümer und Mängel kommen immer und überall vor. Von einem Nichtmediziner werden die meisten aber gar nicht wahrgenommen, weil sie nicht in jedem Fall einen spürbaren Schaden hinterlassen.

Im zweiten Teil versuche ich, Gedanken und Gefühle eines Arztes zum Ausdruck zu bringen, der sonst vor oder neben dem Bett stand, nun aber mit einer Krebserkrankung in selbigem liegt und nach einiger Zeit getrost von sich behaupten darf, über die Geißel der Menschheit so ziemlich alles zu wissen. Es werden Situationen geschildert, wie sie jedem täglich begegnen können.

Die Darstellung meiner Beobachtungen ist einfach und erfordert beim Lesen keine medizinische Vorbildung, da ich nicht für Ärzte, sondern vorwiegend für Nichtmediziner berichten will.

Besonders im zweiten Teil wird Dr. Rosenbaum, E. „Der Doktor“ oft zitiert, weil er in ähnlicher Weise über seine Kehlkopfkrebserkrankung berichtet hatte, und sein Buch 1992 von Annette Charpen aus dem Amerikanischen übersetzt wurde.

Die Namen der medizinischen Einrichtungen und Personen bleiben ungenannt.

I. Wenn der Behandelnde zum Behandelten wird

Der „kranke Arzt“ ist ein schwieriges und in der Literatur kaum bearbeitetes Thema. Wenige Autoren, davon meistens Ärzte, haben darüber berichtet, was es heißt, Patient zu sein10.

Ärzte sind von einer Aura unverletzlicher Stärke umgeben. Man erwartet, dass sie eine unerschütterliche Gesundheit besitzen3. Wir Ärzte aber sind ebenso verwundbar wie alle anderen Menschen auch. Unser Doktortitel macht uns keineswegs immun gegen irgendeine Krankheit von Körper und Seele13. Die Ärztekrankheit der Gegenwart ist das Burnout-Syndrom, eine schwere berufsbezogene Erschöpfung3.

Die betreffende Ärztin oder der betreffende Arzt müssen eigenverantwortlich für sich sorgen, denn schon im neuen Testament heißt es: „Arzt, hilf Dir selbst!“ (Luc. 4, 23)3

„Aber mit dem Wissen wächst der Zweifel“ (Goethe), denn wer Einsicht in diese Dinge hat, erkennt, dass die Objektivität einer Selbstdiagnose und die eines selbst erstellten Therapieplanes sehr zweifelhaft3 sein kann.

Diese Objektivität und kompetente Autorität, die gegenüber Fremden erforderlich sind, können schon bei Angehörigen und Freunden schwer durchsetzbar sein. Deshalb lehnen auch viele Ärzte die Behandlung dieses Personenkreises ab3.

Umso schwerer ist es für den Arzt, sich selbst als Patient anzunehmen. Da die Fachkenntnisse des kranken Arztes es ihm erlauben, die bedrohlichen Folgen einer Krankheit deutlich vorauszusehen, ist es sinnvoll, sich vertrauensvoll der festen Führung eines kompetenten Kollegen anzuvertrauen. Doch auch bei der Konsultation desselben können sich Probleme3 ergeben.

Thomas Ripke11/12 (1943-2001), der als Arzt für Allgemeinmedizin sein eigenes Kranksein im Internet bis kurz vor seinem Tod dokumentiert hat, berichtet darüber3: Häufig, so Ripke, wählt der erkrankte Arzt einen befreundeten Kollegen, oder einen, den er aus der fachlichen Zusammenarbeit als kompetent kennt. Diesem Arzt erzählt er seine Geschichte, und vermutlich tut er dies dissimulierend, verharmlosend und bagatellisierend, als ob er über einen gemeinsamen Patienten reden würde. Der behandelnde Arzt steht jetzt unter großer Gefahr, seinerseits mit Bagatellisierung und diagnostisch-therapeutischer Vernachlässigung zu reagieren3/11/12.

Es kann jedoch auch umgekehrt sein: Der privilegierte Patient, der kranke Kollege, wird überdiagnostiziert (Darmspiegelung bei Darmgrippe) und übertherapiert. Er leidet dann vielleicht bald mehr an den medizinischen Maßnahmen als an der ursprünglichen Krankheit3, 11, 12.

Zu diesen Problemen fand am 24./25. Mai 2001 auf Initiative von Dr. Thomas Ripke ein erster bundesweiter Workshop in Heidelberg und ein zweiter vom 03. bis 05. Oktober 2003 in Gütersloh statt.

Im Jahr 2001 charakterisierte Dr. Mäulen10 den „kranken Arzt“ treffend. Er sagte, dass ein Arzt auf die eigene Krankheit schlecht vorbereitet ist, die Patientenrolle nur schwer annehmen kann, immer genau informiert werden und über Diagnose und Therapie mitentscheiden will. Das wiederum setzt den Behandelnden unter Druck, sodass dieser sich schnell brüskiert fühlt. Weiterhin meint Dr. Mäulen10, dass der „kranke Arzt“ einen schnelleren Zugang zu Spezialisten bekommt, sein Leiden im eigenen Krankenhaus oder Wohnort ebenso zügig bekannt wird, und dass er sich Sorgen um seine Praxis, seinen Arbeitsplatz und seine finanzielle Situation macht. Die Einnahmen gehen zurück, es entstehen Stress und Druck nicht nur für ihn, sondern auch für die Angehörigen.

Viele arbeiten im Beruf weiter und entwickeln aus ihrer Krankheit neue Ansätze, beispielsweise Selbsthilfegruppen. Manche nutzen mitunter zusätzlich alternative Therapien, modifizieren ihren Arbeits- und Lebensstil und festigen ihre Beziehung zum Partner; oder es kommt gar zur Trennung, je nachdem, wie und ob er vom Partner und den Angehörigen unterstützt wird. Kriselt es vor der Krankheit in der Ehe, kommt es durch die neue Belastung zu weiterer Distanzierung. Fazit: Der „kranke Arzt“ zieht seine Lebensbilanz und geht die Veränderungen an10.

In Alfred Grotjahns Buch „Ärzte als Patienten“5 findet er vor allem die Gelassenheit bemerkenswert, mit welcher der ärztliche Patient dem Tod entgegensieht – eine Eigentümlichkeit des Arztes, die sich auch in anderen Fällen nachweisen lässt3. Dieses Buch schrieb Grotjahn5 1929, und noch achtzig Jahre später wird seine Meinung nebst anderen durch Thomas Ripke (Dokumentation seiner Krankheit im Internet bis dessen Tod) bestätigt11/12.

II. Tagebuch eines Arztpatienten

Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.

Diese Erfahrung musste ich nach fünfundfünfzig Jahren relativ guten Befindens machen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich mich einmal mit so vielen gesundheitlichen Problemen würde auseinandersetzen müssen. Somit kann ich folgende Worte des Philosophen Voltaire bestätigen: „In der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir unsere Gesundheit, um Geld zu verdienen. In der zweiten Hälfte unseres Lebens opfern wir das Geld, um unsere Gesundheit wiederzuerlangen.“

Meine Krankheiten hatten zur Folge, dass ich häufig Patient in verschiedenen Einrichtungen wurde. Ein Krankenhausaufenthalt kann für jeden plötzlich notwendig werden. Somit kann auch bei jedem irgendwann einmal eine falsche Behandlung erfolgen, denn es ist erwiesen, dass Schadensfälle ständig zunehmen17.

Solch ein Schadensfall oder sogenannter Fehler der ärztlichen Kunst (Kunstfehler) führt zu einer ungewollten Schädigung des Patienten und entsteht seitens des behandelnden Arztes sowohl im Glauben, das Richtige zu tun, als auch durch fahrlässiges Handeln oder Verletzen der Sorgfaltspflicht, in folgedessen der Patient durch Behandlungs-, Aufklärungs-, Dokumentations- und Organisationsfehler Schaden nimmt. In meinen 291 Tagen stationären Aufenthaltes wurde keiner dieser Fehler ausgelassen. So etwas kann aber nur ein „Arztpatient“ feststellen. Ein Nichtmediziner wird meist als zufriedener Patient entlassen und ist eine gute Empfehlung für diese Einrichtung, denn als medizinischer Laie merkte er gar nicht, in welcher Gefahr er war.

Nun will ich in zwei Abschnitten sowohl von meinem Beinverlust als auch von meiner Krebserkrankung tagebuchähnlich berichten.

Teil I
Fehler und Mängel beim Erhaltungsversuch meines linken Beines


Die Jagd nach dem runden Leder … (S. 15)

1. Kapitel
Dezember 1997: Die Anfänge eines jahrzehntelangen Leidens

Seit Jahren versuchte ich freitags meine Praxis pünktlich zu schließen, um am Abend zum Sport gehen zu können. Im Sommer spielte ich meist Tennis und im Winter vorwiegend Hallenfußball. Die Jagd nach dem runden Leder war schon in der Schule das, was ich am besten konnte. Einem Patienten hatte ich es zu verdanken, dass ich an jedem Freitagabend bei einer Altherrenmannschaft mitspielen durfte.

Obwohl ich im Alter von fünfundfünfzig Jahren auch bei den „Alten Herren“ der absolute Senior war, fügte ich mich, auch leistungsmäßig, schnell ein. Der Ablauf war immer gleich: aufwärmen, Mannschaften wählen und spielen.

Am fünften Dezember 1997 war ich etwas zu zeitig vor Ort und musste mich länger warm halten, denn die Halle war nicht geheizt. So kam es, dass ich mein Aufwärmprogramm durch Kniebeuge und Sprünge in die Hocke – beides seit Langem nicht mehr praktiziert – erweiterte.

Einige Zeit später kamen die übrigen Sportfreunde und bald begann das Spiel. Nach etwa zehn Minuten fühlte ich einen blitzartigen Schmerz im linken Bein. Zunächst dachte ich an eine Muskelzerrung und ging ins Tor. Aber auch dort konnte ich nur kurze Zeit bleiben. Der Schmerz nahm zu, und der vom Spiel warme Schweiß wurde von kaltem abgelöst. Ich verabschiedete mich nur mit einer Handbewegung und verließ die Halle. Keiner der Mitspieler wusste zu diesem Zeitpunkt, warum ich so plötzlich verschwand. Auch ich ahnte nicht, dass es ein Abschied für immer sein sollte.

Die Heimfahrt war abenteuerlich. Ich legte das schmerzende Bein auf das Armaturenbrett, weil ich annahm, dass eine Hochlagerung Linderung bringen könnte. Natürlich war das nur meine Hoffnung als „Patient“, denn der Arzt in mir sagte: „Bei einem Verschluss der Beinschlagader (Embolie) ist es egal, wie man das Bein lagert.“

Trotzdem versucht man als Arzt, den Gedanken, eine Embolie erlitten zu haben, zu verdrängen. Natürlich gelang mir das nicht, und der Schmerz nahm weiter zu.

Zu Hause angekommen, fragte mich meine Frau: „Warum kommst Du denn schon zurück?“

„Ich habe eine Embolie“, sagte ich, als würde es sich nur um eine Bagatelle handeln. Kurzes Schweigen ihrerseits, dann sagte sie: „Damit scherzt man nicht!“

Doch nach Scherzen war mir nicht zumute; sie entnahm es meinem schmerzverzerrten Gesicht. Als ehemalige Operationsschwester erkannte sie auch sofort die Gefahr, nahm das Telefon und erkundigte sich, wer gerade in der Klinik, in der sie einmal tätig gewesen und noch immer gut bekannt war, gefäßchirurgischen Dienst hatte.

Nun sollte ich an diesem Abend auch mal Glück haben: Der Chefarzt der Gefäßchirurgie war selbst am Apparat, und eine halbe Stunde später waren wir bei ihm.

Viele Jahre hatte ich im Krankenhaus gearbeitet und den größten Teil meines Lebens alles unter Kontrolle gehabt. Aber heute war es anders. Mein Schicksal lag nun zum ersten Mal in den Händen anderer. Mir war klar, was schief gehen konnte, ich kannte alle Probleme13, aber ich hatte keine Wahl.

Mit zunehmenden Schmerzen im linken Bein trafen meine Frau und ich auf der Gefäßstation ein, um kurze Zeit darauf vom Chefarzt dieser Abteilung untersucht zu werden. Mit dem Ergebnis, dass bei einer der drei Schlagadern, die den Unterschenkel und den Fuß mit Blut versorgen, kein Puls tastbar war. Der Arzt sagte: „Hier ist etwas runtergerutscht.“ Das war die harmloseste Umschreibung einer Embolie, eines Gefäßverschlusses, die mir je zu Ohren kam.

Das, was ich wusste, aber nicht wahrhaben wollte, war nun Realität, und trotz der freundlichen Formulierung der Diagnose war mir klar, dass nur eine Notoperation das Bein erhalten konnte.

 

Jetzt ging alles schnell: Zunächst musste ich zu einer Ultraschalluntersuchung. Inzwischen waren drei Stunden vergangen und die Schmerzen unerträglich geworden; ich brauchte schon während der Sonografie eine Schmerzspritze.

Im Ultraschall wurde die Ursache der Embolie deutlich sichtbar. Es war ein Aneurysma, eine Ausbuchtung der Hauptschlagader im Kniegelenkbereich. Diese Gefäßveränderung steckte voller Blutgerinnsel. Eines davon war während meiner Aufwärmübungen, besonders durch die Kniebeugen, gelockert worden und hatte sich gelöst. Dabei war es in die größte der drei Schlagadern des Unterschenkels „runtergerutscht“. Da das Lumen – also der innere Durchmesser der Gefäße – zur Peripherie hin immer kleiner wird, blieb dieser Blutpfropf schließlich im Bereich des Knöchels stecken. Damit war das Gefäß verschlossen.

Nun humpelte ich noch bis in einen Vorraum des Operationstraktes, wo ich notfallmäßig auf die Operation vorbereitet wurde. Dazu gehörten auch die vor jeder Narkose und Operation notwendigen Aufklärungsgespräche, die ich in meiner Lage als lästig und überflüssig empfand. In solch einer Situation hofft man auf schnelle Hilfe, und man stimmt allem zu.

Da man mir keine Vollnarkose sondern eine sogenannte „Rückenstichnarkose“ verpasst hatte, bekam ich mit, wie man mich in den Operationssaal fuhr. Zum ersten Mal in meinem Leben stand ich nicht am Operationstisch, sondern lag selbst auf einem solchen.

Im Saal war es relativ dunkel, trotzdem erkannte ich meine Frau und meinen Sohn. Sie durften anwesend sein, weil sie beruflich bedingt wissen, wie man sich in einem Operationssaal zu verhalten hat. Aber auch für sie war es eine neue Erfahrung, dass hier ein nächster Angehöriger operiert wird.

Am Anfang wurde ich vom Narkosepersonal, ein Arzt und eine Schwester, unterhalten und abgelenkt. Später bekam ich einen Kopfhörer. Nun konnte ich nicht mehr die Gespräche der Operateure verfolgen, sondern hörte klassische Musik. Schließlich wurde ich doch noch voll betäubt, als sich, wie ich vermutete, eine Klemme von der eröffneten Schlagader löste, und ich mein Blut fontänenartig gegen die über mir befindliche Operationslampe spritzten sah.

Es war schon in den frühen Morgenstunden des Nikolaustages, als ich allmählich, beim Rücktransport aus dem Operationssaal, erwachte. Während des Abtastens des operierten Beines mit dem rechten Fuß hatte ich den Eindruck, dass das kranke Bein schon in einer Holzkiste lag – so gefühllos, hart, kalt und hölzern fühlte es sich an. Nun dachte ich, die Operation sei misslungen, und ich könne an zukünftigen Nikolaustagen nur noch einen Schuh „raus stellen“. Natürlich weiß ich, dass ein Bein, welches fünf Stunden lang nicht durchblutet wird, in keinem anderen Zustand sein kann, aber – noch von der Narkose benommen – überwogen die Überlebensreflexe, und so klingelte ich nach einem Arzt.

Es kam der Operateur selbst zu mir, der sich wohl gerade mal in seinem Nachtdienst hingelegt hatte. Natürlich tat es mir im Nachhinein Leid, ihn bemüht zu haben.

Mit unterdrücktem Unverständnis und mäßiger Freundlichkeit bewies mir der Chefarzt mit einem Gerät, welches den Pulsschlag hörbar macht (Echo-, Ultraschall), dass alles regelrecht verlaufen war. Nun war ich beruhigt, obgleich mir klar war, dass es lange dauern konnte, bis sich Bewegung und Gefühl wieder normalisiert haben würden. Es konnten jedoch auch Restschäden verbleiben.

Über einen Katheter im Rücken bekam ich Schmerzmittel. So waren mir ein paar Stunden Schlaf vergönnt.

Als ich am Morgen erwachte, schätzte ich meine Lage13 und die Chance, das Bein behalten zu können, neu ein. Ständig überprüfte ich es, aber noch gab es keine Veränderung. Das operierte Bein lag weiterhin wie ein nicht zu mir gehöriger Gegenstand in meinem Bett.

Bei Tageslicht konnte ich nun mein Zimmer betrachten. Es war ein Einzelzimmer, sehr klein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Ein Bett mit Nachttisch, ein Tisch mit zwei Stühlen, keine Gardinen und kein Fernsehgerät. Mir war klar – ich lag im Sterbezimmer! Gefragt habe ich natürlich nicht danach, aber ich war mir dessen sicher.

Während meiner Kliniktätigkeit war ich oft als Konsiliarius in eine andere Klinik gerufen worden, um mit dem Stationsarzt in einem solchen Stübchen über die weitere Verfahrensweise mit einem todkranken Patienten zu beraten. Damals war es auch, da ich infolge einer Leberpunktion selbst als Patient zwei Tage auf dieser Station verbringen musste. In der Absicht, mir etwas Gutes zu tun, wollte man mich genau in dieses Zimmer legen, was ich aber abgelehnt und einen Aufenthalt in einem Mehrbettzimmer bevorzugt hatte.

Im Jahr 1997 fiel der sechste Dezember auf einen Sonnabend. Somit begann das Sammeln meiner Erfahrungen als Patient in einer Klinik an einem Wochenende. Das merkte man an allen Prozeduren, obwohl ich noch keinen Vergleich zu einem Wochentag hatte.

Bei Frischoperierten allerdings, wie ich nun einer war, kam natürlich der diensthabende Arzt mit einer Schwester auch am Sonnabend zur Visite.

„Guten Morgen, Herr Kollege, wie geht es Ihnen?“

„Wenn man das operierte Bein ausklammert, gut. Wie lange wird es dauern, bis es wieder lebt?“

„In zwei bis drei Tagen ist alles wieder wie vorher.“

„Heißt das, ich kann weiterhin Skifahren, Tennis- und Fußballspielen?“

„Sie können alles machen, dürfen aber das Knie nicht über neunzig Grad beugen. Sie haben eine Kunststoffröhre als Schlagader in der Kniekehle. Ihre eigenen Gefäße waren wegen Ablagerungen an der Gefäßwand leider nicht geeignet. Das wäre natürlich besser gewesen.“

„Wie lange muss ich noch hierbleiben, und wie lange funktioniert ein solcher Bypass eigentlich?“

„In fünf bis sechs Tagen können Sie ambulant weiterbehandelt werden, und die Kunststoffbypässe sind erfahrungsgemäß etwa zehn Jahre lang funktionstüchtig. Haben Sie weitere Fragen?“

„Nein, danke.“

„Na dann, trotz allem, ein schönes Wochenende.“

„Danke, gleichfalls.“

Kurz nach dieser Visite kam eine Schwester zur Blutabnahme. Davor war mir nie bange, da ich gute Venen habe. Es gelang ihr auch gleich beim ersten Stich, die Nadel regelrecht zu platzieren. Abgelöst wurde der „Vampir“ von einer Mitarbeiterin, welche für die Wochenendreinigung der Zimmer und der Station zuständig war.

„Guten Morgen, Sie sind wohl neu hier?“, fragte sie.

„Ja, guten Morgen.“

„Wissen Sie, ich frage nur deshalb, ob Sie neu sind, damit Sie sich nicht wundern, wenn ich gleich wieder weg bin, denn am Wochenende werden nur Sichtreinigungen durchgeführt.“ Danach sprach sie noch über den allgemein bekannten Personalmangel, wünschte mir einen schönen Tag und ging.

Es dauerte nicht lange, da hörte ich Stimmen auf dem Gang: „Kaffee oder Milch, Käse oder Wurst …“ Und so weiter. Das war die Bedienung des Speisewagens.

Mich fragte man: „Möchten Sie auch ein gekochtes Ei?“

„Nein danke“, sagte ich. „Meine Gefäße seien verfettet, und da will ich mal auf Cholesterin verzichten.“ Das war natürlich eine typische Überreaktion nach der Ansprache des Arztes während der Visite, und schon zwei Tage später lehnte ich Spinat mit Ei nicht mehr ab.

Nun waren wohl alle Mitarbeiter des Sonnabenddienstes mindestens einmal in meiner „Stube“ gewesen. Dabei fiel mir auf, dass die Kleidung des Personals nicht einheitlich war. Man konnte die Oberschwester, abgesehen vom Alter, nicht mehr von einer Schwesternschülerin unterscheiden. Es wurden zwar Namensschilder getragen, die aber infolge des ständigen Herumhantierens ihrer Trägerinnen oftmals auch umklappten, sodass dem Patienten die nicht beschriftete Rückseite dargeboten wurde.

Als Arzt in einer Klinik hatte ich das nicht bewusst registriert, aber als Patient erkennt man so etwas auf Anhieb. Auch erinnert man sich, dass es einmal die Haube war, die eine Schwester in früheren Zeiten als solche kenntlich machte. Korrekt gekleidete Schwestern mit Haube sieht man aber nur noch auf Reklameschildern der Pflegedienste. Nicht nur hier, sondern in allen Bereichen, spürt man den Wunsch vieler Menschen, das Alte und Bewährte möge nicht auf-Teufel-komm-raus modernen Auffassungen einiger Wichtigtuer zum Opfer fallen.

Das Wochenende verging ziemlich schnell. Es kamen viele Besucher. Meine Familienangehörigen, die alle einen medizinischen Beruf haben, begutachteten das noch gefühllose Bein und machten mir natürlich Hoffnung auf Besserung, die dann auch am dritten Tag nach der Operation eintrat.

Da ich bereits nach fünf Tagen entlassen wurde, hatte ich nur kurze Zeit Gelegenheit, meine Betreuung und Versorgung zu überwachen, also aus ärztlicher Sicht einzuschätzen, denn auch in einem Krankenhaus werden trotz aller Vorsicht Fehler gemacht13.

Es ist nicht selten, dass bei der Verabreichung von Medikamenten oder anderen Tätigkeiten Irrtümer vorkommen13. Dies hielt sich aber bei diesem Kurzaufenthalt gegenüber späteren und längeren stationären Behandlungen in Grenzen. Wenn ich auf solche Fehler gestoßen bin, habe ich sie immer korrigiert13. Auch musste ich mehrfach die gleiche Auskunft geben. Daran erkennt man, dass wichtige Informationen nicht ausgetauscht werden; dass Mitarbeiter, die einen versorgen, nicht informiert sind, dass Maßnahmen doppelt zur Anwendung kommen, Anordnungen zu spät getroffen oder verspätet ausgeführt und andere Aufgaben dafür gar nicht erledigt werden13.

Die Krankenschwestern sind oft überarbeitet, weil die Einrichtungen immer mehr sparen müssen und weniger Personal beschäftigen13.

Nach meiner Entlassung am elften Dezember konnte ich das folgende Wochenende noch genießen, aber danach ging ich mit zirka sechzig Wundklammern im linken Bein wieder in meine Praxis.

Die Selbständigkeit ist hart, und die laufenden Kosten einer Praxis scheren sich nicht um die Genesungsdauer ihres Inhabers, sodass ich nicht umhin kam, auf weitere Schonung oder Rehabilitationsmaßnahmen zu verzichten.

Die Klammern wurden mir in der eigenen Praxis entfernt. Nun musste ich auch regelmäßig Medikamente einnehmen, die das Blut „verdünnen“, damit sich an der Kunststoffgefäßprothese keine Gerinnsel bilden konnten. Außerdem durfte ich, wie bereits erwähnt, das linke Kniegelenk zur Schonung der Prothese nicht mehr über neunzig Grad beugen. Daran hielt ich mich natürlich, und so war der weitere Verlauf bis zur vereinbarten Kontrolluntersuchung nach einem Vierteljahr komplikationslos.

Während meiner langjährigen ärztlichen Tätigkeit habe ich immer beobachtet, dass sich die meisten Patienten zeitaufwändig auf einen Arztbesuch vorbereiten. Sie waschen sich und ziehen ihre Lieblingskleidung an. Natürlich gibt es Ausnahmen. Solche Patienten möchte man liebend gern zum Duschen oder wenigstens Waschen ihrer Füße wieder wegschicken.

Auch ich bin nicht in Gartenkleidung zur Kontrolluntersuchung gegangen und hatte zudem einige Fragen, die ich beantwortet haben wollte. Was aber bei dieser ambulanten Kontrolle ablief, hat mich sehr enttäuscht. Eigentlich hätte es ausgereicht, wenn ich an der Anmeldung einen Zettel abgegeben hätte mit der Aufschrift: „Herrn Wild geht es gut!“

Wenn man als Arzt zu einem Kollegen geht, erwartet man, etwas bevorzugt behandelt zu werden. Dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Die Schwester an der Anmeldung war wegen der großen Patientenzahl überfordert und erkannte in mir nicht den ärztlichen Kollegen. So wurde ich in das überfüllte Wartezimmer gewiesen.

Nach langer Zeit rief man mich schließlich in das Sprechzimmer. Dort saß der Arzt am Schreibtisch, zwei Schwestern kümmerten sich um Patienten, die offenbar das Arztgespräch schon hinter sich hatten. Mir sagte man, dass ich auf dem freien Stuhl neben dem Schreibtisch des Arztes Platz nehmen soll.

Solche Spezialsprechstunden habe ich früher in meinem Fachgebiet auch übernehmen müssen. Allerdings kenne ich keinen, der das freiwillig und gern getan hat. Hier hatte ich auch diesen Eindruck.

Da ich der Meinung war, dass nun alles schnell gehen musste, wollte ich schon vor dem Platznehmen durch Herunterlassen der Hose das operierte und zu begutachtende Bein freimachen. Mir wurde jedoch schnell klar, dass ich nicht, wie bei der Entlassung aus dem Krankenhaus vereinbart, zu einer Nachuntersuchung, sondern zu einem Kurzgespräch kam.

„Herr Wild, wie geht es Ihnen?“

„Mir geht es gut.“

Damit begnügte sich der Arzt und schrieb es in meine Akte. Das Bein sah er sich nicht an. Dann sagte er: „Die Medikamente nehmen Sie so weiter und kommen bei Bedarf wieder.“