Ein Bunker voller Lügen

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Ein Bunker voller Lügen
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Wolfgang Wagner, geboren 1944, war bis 2008 Lehrer für Englisch und Französisch an einem Düsseldorfer Gymnasium. Er lebt mit seiner Frau in Hilden, bei Düsseldorf. Sie haben drei erwachsene Kinder.

Wolfgang Wagner

EIN BUNKER VOLLER LÜGEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Ein Bunker voller Lügen

Weitere Bücher

»Was war das für ein Rums?«

»Ich habe Angst, große Angst.«

»Wir sind gesackt.«

»Warum ist das plötzlich so dunkel?«

»Ich kann kaum mehr gerade stehen.«

»Ich … ja, ich … Was ist … los?«

Das Büro war hell erleuchtet. Drei Schreibtische waren im Raum verteilt.

»Der Wind ist viel stärker geworden, Monsieur le commissaire.«

»Albert, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht immer ›Monsieur le commissaire‹ sagen sollst? Sag einfach Monsieur Laurent.«

»Gut, Monsieur Laurent.«

»Ich gehe davon aus, dass wir beide heute eine ruhige Nacht haben werden.«

»Und der Sturm?«

»Das betrifft eher die Leute von der Feuerwehr.«

»Ist was zu tun oder kann ich kurz rausgehen, vor die Tür?«

»Willst wohl wieder rauchen. Geh nur.«

Albert zog sich seine Jacke an und holte eine Zigarette aus der Packung.

»Und wie klappt’s mit Elodie?«

»Gut, sie ist so süß.«

»Ist sie auch aus Berck?«

»Nein, aus Hardelot, aber sie arbeitet hier.«

»Und was macht sie? Ist sie Verkäuferin?«

»Sie arbeitet in einem Hotel, als Zimmermädchen.«

»Die werden doch immer von den Gästen angemacht.«

»Elodie weiß sich zu wehren, da können Sie sicher sein.«

Albert hatte sich schon die Zigarette angezündet und blies den Rauch in den Raum.

»Jetzt aber raus mit dir, du Schlingel! Räucherst mich noch ein.«

»Ja, Monsieur le commissaire.«

Er war froh, Albert mit im Team zu haben. Er konnte ihm vertrauen, er war resolut und einfühlsam zugleich, und er hatte auch keine Angst, sich bei Schlägereien einzumischen.

»Was ist denn nun passiert?«

»Wahrscheinlich ist das Scheißding aus irgendeinem Grund eingesackt«, sagte eine Stimme in die Dunkelheit hinein.

»Und warum können wir plötzlich kaum mehr etwas sehen?«

»Ich habe Angst, schreckliche Angst.«

»Wahrscheinlich ist der Sand vor den Eingang gefallen.«

»Dann sollten wir ihn wegschaufeln.«

»Und wie?«

»Na, mit den Händen.«

»Ich habe mein Handy gefunden. Wie ist noch mal die Notrufnummer in Frankreich?«

»Ich glaube, 17.«

Sie versuchte, die Nummer zu wählen, aber irgendwie klappte es nicht.

»Ich glaub, ich hab kein Netz.«

»Ich meine, die Männer sollten beginnen zu schaufeln. Wie viele sind wir eigentlich?«

Alle drehten sich um, schauten zur Seite, aber sie konnten die anderen wirklich nicht sehen, nur erahnen.

»Wir sollten abzählen.«

»Bist wohl Lehrer, was?«

»Genau, gut erraten. Also, dann fange ich direkt an: Ich heiße Martin Tantler, früher war ich Lehrer an einem Gymnasium, jetzt bin ich Schriftsteller.«

»Ich bin die Nadja, Nadja Mill, und ich bin Schauspielerin.«

»Dann bin ich wohl dran. Mein Name ist Bernhard Soden, bin Banker. Ich bin verheiratet, und wir haben die Freundin meiner Frau hierher mitgebracht.«

»Banker! Da müssen wir bei dir vorsichtig sein.«

»Ich bin verwitwet und 67 Jahre alt. Ich habe vier erwachsene Kinder. Ach ja, ich heiße Charlotte Linn.«

»Ah, die Schriftstellerin?«

»Nein, Charlotte Linn, nicht Link.«

»Verheiratet, zwei Kinder, Verwaltungsangestellter. Reicht das?«

»Und Ihr Name?«

»Habe ich vergessen. Torsten Kasten.«

»Da ist doch noch eine sechste Person, da irgendwo in der Ecke.«

Es herrschte für einige Momente Stille, und alle konnten das Rollen der Wellen und den Wind hören.

»Mari… Marion. Ich bin be…hindert.«

»Macht doch nichts.«

»Wir sind doch jetzt alle behindert, irgendwie.«

Das Haus, das sie gemietet hatten, war groß, eigentlich etwas zu groß für eine vierköpfige Familie. Es hatte drei Schlafzimmer. Babsi und Nico schliefen zusammen im Ehebett. Torsten und seine Frau hatten getrennte Schlafzimmer, was ihr sehr gelegen kam. Die Kinder hatten zwar gefragt, warum sie kein gemeinsames Zimmer hatten, aber der Hinweis auf Torstens Schnarchen hatte ihnen genügt. Das Wohnzimmer war riesig, es war zugleich Esszimmer, denn die Kleinen hätten auf den Hockern in der Küche nicht essen können. Von der Küche aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Dünen, aber zum Strand mussten sie die Kinder immer im Bollerwagen fahren.

Zum Haus führte eine Treppe, und Torsten und Jacqueline schlossen die Haustür immer ab, wenn sie im Haus waren. Die Kinder sollten auf keinen Fall allein die Treppe hinuntergehen. Auch die Treppe vom Wohnzimmer in den Garten war sehr gefährlich, noch schwieriger als die vor dem Haus. Der Garten war sehr verwildert, aber auf der Wiese konnten die Kinder nach Herzenslust spielen. Babsi spielte mit Legosteinen, doch ihr Bruder versuchte immer wieder, sie zu stören.

»Wo ist eigentlich Papi?«

»Er ist noch etwas am Strand spazieren.«

»Ist es nicht schon zu dunkel?«

»Nico, Papi ist kein Schisser wie du«, sagte Babsi schroff.

»Und wahrscheinlich raucht er noch eine Zigarette.«

»Gut, dass er hier im Haus nicht rauchen darf.«

»Und wann kommt er wieder?«

»Das weiß ich nicht genau, aber zum Abendessen wird er zurück sein.«

»Was gibt es?«

»Spaghetti mit Tomatensoße.«

»Au fein.«

Jacqueline blätterte weiter in der französischen Modezeitschrift, aber sie konnte nur Bruchstücke verstehen. Sie hatte zwar vier Jahre Französischunterricht gehabt, aber sie hatte viel vergessen, fast alles. Sie holte sich aus der Küche eine Flasche Rotwein und aus dem Wohnzimmerschrank ein Weinglas.

»Mami, du trinkst zu viel Allohol.«

»Al-ko-hol, du Dummkopf!«

Von außen war der Koloss kaum mehr zu erkennen. Die einsetzende Dunkelheit und der starke Regen hatten ihn fast verschluckt. Aber um diese Uhrzeit bei dem Wetter ging auch niemand mehr am Strand spazieren. Die drei Männer, Martin, Bernhard und Torsten, versuchten abwechselnd, mit bloßen Händen den Sand vom Eingang wegzuschaufeln.

»Klappt’s?«, fragte Nadja ängstlich.

»Nicht wirklich.«

»Sisyphus lässt grüßen.«

»Wo ist Sisyphus?«

»Ist jetzt auch egal.«

Die drei Männer waren vor Anstrengung außer Atem, vor allem Martin, der älteste der Männer.

»Wenn wir eine kleine Öffnung gemacht haben, peitscht der Wind den Sand wieder zurück.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir warten.«

»Auf was? Auf den Tod?«

»Die wer… werden vermissen uns«, murmelte Marion.

»Wer?«

»Unsere Lieben. Oder ist jemand allein in diesem Scheißkaff?«

»Ja, ich, aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber so leicht stirbt es sich nicht, nie.«

»War das deine Stimme, Charlotte?«

»Wir können uns zwar nicht richtig sehen, aber nach einer gewissen Zeit werden wir uns an den Stimmen erkennen.«

»Und an den Gerüchen.«

»Wie meinst du das?«

»Hier hat jemand ein Parfum angelegt, das macht mich total an. Wahrscheinlich eine von euch drei Frauen.«

»Ich meine, hier ist nicht der richtige Ort für eine Anmache.«

»Hat jemand etwas zu trinken dabei? Ich verdurste.«

»Ich, muss noch … suchen, Rucksack.«

Inzwischen spielten Babsi und Nico friedlich miteinander im Wohnzimmer. Vielleicht war es einfach Angst, die Nico veranlasst hatte, sich dicht neben seine ältere Schwester zu setzen. Ihre Mutter hatte sich ein zweites Glas Wein eingeschenkt und sie versuchte, einen kürzeren Artikel in der französischen Illustrierten zu lesen.

»Mami, es wird immer dunkler.«

»Wir haben doch viele Lampen an.«

»Und Papi?«

»Er wird unser Haus leicht finden, ich habe die Außenleuchte angemacht.«

»Willst du nicht die Polizei anrufen?«

»Und was soll ich denen sagen?«

»Dass Papa verschwunden ist.«

 

»Er ist nicht verschwunden, er hat sich einfach verspätet.«

»Mami, bitte!«

Die Mutter holte ihr Handy. Sie überlegte, ob es die 17, 18 oder 19 war.

»Ich werde es versuchen, aber ich bin nicht sicher, ob der Polizist mich verstehen wird.«

»Ici Commissariat de police de Berck-sur-Mer.«

»Je m’appelle Jacqueline Kasten. Mari disparaître.«

»Qui est Marie?«

»Mon mari.«

»Maintenant je comprends. Votre mari a disparu.«

»Oui.«

»Depuis quand?«

»Was?«

»Quand est-ce qu’il a quitté l’appartement?«

»A quatre.«

»Bon, il est sorti à quatre heures. Qu’est-ce qu’il voulait faire?«

»Promenade à la plage.«

»Maintenant il n’est plus à la plage. Il fait presque sombre, il pleut et le vent est fort.«

»Il est à la commissariat?«

»Non, je vais téléphoner au centre hospitalier, c’est l’hôpital ici.«

»Merci, monsieur le commissaire.«

»De rien, madame Kisten.«

»Non, Kasten.«

»Was wollte die Frau, patron?«

»Hör endlich auf mit dem ›patron‹, Albert. Das war eine Madame Kasten, eine Deutsche.«

»Und?«

»Sie vermisst ihren Mann seit vier Uhr.«

»Na, und?«

»So sind nun mal die Frauen, vor allem Ehefrauen. Kommt der Ehemann mal etwas später nach Hause, befürchten sie direkt das Schlimmste.«

»Der kann doch friedlich in einer Bar sitzen und ein Glas Wein trinken.«

»Sicher, aber sie wollen alles kontrollieren, auch ihren Ehemann.«

»Wo bleibt denn da die Freiheit?«

»Und deine Elodie?«

»Wie meinen Sie das?«

»Kontrolliert sie dich jetzt schon?«

»Nein, natürlich nicht. Sie ist süß und mag mich, glaube ich.«

»Ich werde sicherheitshalber trotzdem im Centre hospitalier anrufen. Man weiß ja nie.«

»Ist eine gute Idee.«

»Und übrigens: Wenn in nächster Zeit noch einmal ein ausländischer Tourist oder eine Touristin anruft, übernimmst du.«

»Warum ich?«

»Deine Schulzeit ist noch nicht so lange her, und deine Englisch- und Deutschkenntnisse sind einfach besser.«

»Sind Sie eigentlich verheiratet?«

»Nein, zum Glück nicht.«

»Keine Frauen?«

»Doch, ab und zu, aber als ich so in deinem Alter war, war ich unsterblich verliebt, in eine Pauline. Sie war hübsch, charmant und hatte Humor.«

»Und dann?«

»Sie hat einen anderen geheiratet, weil ich mich noch nicht binden wollte.«

»Schade.«

»Ja, aber jetzt bin ich längst drüber weg. C’est la vie.«

»Monsieur Laurent, ich geh eine rauchen. Wenn was ist, rufen Sie mich.«

»Das dauert … muss suchen.«

»Ich verdurste schon nicht. Außerdem, wo soll man hier Pipi machen?«

Marion durchwühlte ihren Rucksack und fand ihre Taschenlampe.

»Schon Taschenlampe … gefunden.«

»Die solltest du nur in Notfällen anmachen.«

»Ist das hier kein Notfall?«

»Wo wohnt ihr eigentlich?«

»In Deutschland?«

»Nein, hier in diesem Kaff.«

»Ich wohne im Hotel ›Le Neptune‹, direkt auf der Esplanade Parmentier«, antwortete Charlotte.

»Das ist ein nettes Hotel, und essen kann man dort auch gut. Aber manchmal gehe ich auch in die Brasserie ›Le Bistrot‹, die ist etwas einfacher, aber auch gut.« »Wie hat es dich nach Berck-sur-Mer verschlagen?«

»Das ist eine längere Geschichte. Als mein Mann noch lebte, waren wir häufiger in Hardelot und Le Touquet-Paris-Plage, etwas vornehmer als Berck. Dort kann man gut golfen, das heißt, er hat gespielt. Ich habe zwar auch die Platzerlaubnis, aber ich hatte keine Lust, mit ihm zu spielen. Er war so dominierend.«

»Was heißt das?«

»Er war ein Besserwisser oder auch Klugscheißer. Er gab mir Ratschläge und Tipps, aber damit ging er mir wahnsinnig auf die Nerven. Ich bin dann lieber am Strand spazieren gegangen oder auch durch die Wälder.«

»Und du, Marion?«

»Ich Wasser gefunden.«

»Bist du allein in Berck?«

»Nein, mit … Mann.«

»Und wohnt ihr auch in einem Hotel?«

»Nein, billiger in einem … Wohnkasten.«

»So ein Mobilhome.«

»Ja, ganz … nah hier.«

»Und warum hier in Berck?«

Marion war so sehr mit dem Rucksack beschäftigt, dass sie die Frage überhört hatte. Sie versuchte, eine gewisse Ordnung in ihren Rucksack zu bekommen, aber in der Dunkelheit war das schwer.

Nadja hatte etwas getrunken und fragte: »Und wann finden sie uns hier?«

Gaston, Frau Linns jüngster Sohn, rief seine Mutter jeden Tag an.

Zunächst hatte er seinen Vornamen gehasst, weil andere Leute, auch seine Mitschüler, den Namen immer auf der ersten Silbe betont hatten. Andererseits wusste er aber auch, dass seine Eltern eine Vorliebe für französische Vornamen hatten. Seine beiden Schwestern und sein Bruder hatten auch welche. Oft hatten ihre Eltern ihre Urlaube mit den vier Kindern in Frankreich verbracht.

Aus Interesse, nicht wegen seines Vornamens, hatte er bis zum Abitur den Grundkurs Französisch belegt. Sein Französisch war auch jetzt noch passabel, und so hatte er schon oft mit dem Hotelier des ›Le Neptune‹ geplaudert, wenn seine Mutter nicht auf dem Handy zu erreichen war. Er wählte 0033/3/21092121.

»Allô! Ici ›Le Neptune‹.«

Gaston sprach Monsieur Bavier in korrektem Französisch an.

»Ich suche meine Mutter.«

»Ach, Sie sind es, Monsieur Linn.«

»Auf dem Handy war meine Mutter nicht zu erreichen, und jetzt versuche ich es bei Ihnen. Hat meine Mutter in Ihrem Restaurant zu Abend gegessen?«

»Nein, sie hatte zwar vorbestellt, ist aber noch nicht erschienen. Die anderen Gäste essen noch. Vielleicht hat sie sich verspätet.«

»Ich mache mir trotzdem große Sorgen, sie hat mir versprochen, ihr Handy immer anzulassen.«

»Das wird sich schon klären. Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Darf ich Sie nachher noch einmal anrufen, falls ich sie nicht auf dem Handy erreiche?«

»Natürlich, gern. So, ich muss mich jetzt wieder um die anderen Gäste kümmern.«

»Bis gleich! Danke.«

Gaston ging zum Fenster und blickte auf die Straße.

»Was ist? Hast du deine Mutter nicht erreicht?«

»Nein.«

»Komm, mach dir keine Gedanken. Wir trinken ein Gläschen Rotwein, französischen natürlich, und wir stoßen dann auf deine Mutter an.«

»Wann sind diese Scheißbunker eigentlich gebaut worden?«, fragte Nadja in die Stille hinein.

Martin räusperte sich, dann sagte er: »Die deutschen Soldaten haben diesen sogenannten Atlantikwall zwischen 1942 und 1944 gebaut.«

»Und warum am Strand? Am Meer?«

»Nazi-Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg die Niederlande, Belgien, die dänische Küste und Teile Frankreichs besetzt. Und Hitler hatte Angst vor einer Invasion der Alliierten, deshalb ließ er peu à peu diesen Wall bauen. Übrigens auch auf den englischen Kanalinseln, die ebenfalls besetzt waren.«

»Und woher wissen Sie das, Herr Lehrer? Haben Sie Geschichte unterrichtet?«

»Nein. Ich bin eben etwas älter als Sie.«

»Ich meine, wenn wir sechs hier schon gefangen sind, sollten wir uns duzen, wir wissen doch nicht einmal, wie alt der andere wirklich ist«, schlug Torsten vor.

»Und warum sind wir jetzt hier eingeschlossen? Was ist mit dem Ding passiert?«

»Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall passiert das sehr selten. Der Bunker ist nach unten gesackt und dabei ist Sand vor den Eingang gedrückt worden.«

»Der Wind war stärker geworden und ich wollte mir nur eine Zigarette anmachen«, sagte Torsten.

»Aber du wirst doch hier nicht rauchen wollen, bei der Enge. Da bekommen wir alle keine Luft mehr«, brummte Martin, aber in seinem Ton war etwas Aggressives.

»Marion, du hast vorhin gesagt, dass du und dein Mann hier in Berck ein Mobilhome gemietet habt. Aber warum ausgerechnet hier? Gibt es da Gründe?«

Marion überlegte, wie sie alles darstellen sollte. Das war sehr kompliziert, zu kompliziert für sie. »Zweites … Leben. Unfall.«

»Ich verstehe dich nicht ganz. Willst du damit sagen, dass du hier einen schweren Unfall hattest und danach so eine Art zweites Leben für dich begonnen hat?«

»Ich ging … an Straße. Da hat ein Auto mich …«

»Umgefahren.«

»Ja, Kopf schwer verletzt.«

Torsten dachte so intensiv an Jacqueline und seine Kinder, dass er von Marions Unfallbericht nichts mitbekam. Hätte er zugehört, hätte er vielleicht …

Peter hatte schon am Vormittag eine Flasche Rotwein getrunken, dazu zwei Gläschen Calvados. Am Mittag hatte er sich im gemieteten Wohnwagen hingelegt, aber er erinnerte sich daran, dass Nadja von einem längeren Spaziergang am Strand gesprochen hatte.

Jetzt war es fast dunkel und die Lampen auf dem Wohnwagenstellplatz schienen nur schwach in den Wohnwagen hinein. Er trank mit großem Durst fast einen halben Liter Vittel und zündete sich eine Zigarette an. Er schaute sich um und wusste selbst, dass er den Wohnwagen binnen kurzer Zeit in einen Saustall verwandelt hatte. Der Aschenbecher quoll über und auf dem Boden lagen leere Flaschen. Ihm war aber nicht danach, vor Nadjas Rückkehr alles aufzuräumen. Musste er sich Sorgen machen? Der Stellplatz war in der Nähe des Strandes gelegen, und bis zur Stadt waren es gut und gerne ein bis zwei Kilometer. Aber der größere, viel bessere Campingplatz in der Nähe hatte eine Bar, auch für Besucher von außen. Vielleicht war sie dorthin gegangen, um einen Kaffee zu trinken.

Auf jeden Fall war er froh, dass Nadja ihn mitgenommen hatte. Ihre finanziellen Mittel waren begrenzt, aber sie wollte unbedingt ans Meer, nicht in den Niederlanden, nicht in Belgien. Da bot sich der Norden Frankreichs an, und im Gegensatz zu ihm konnte Nadja eigentlich recht gut Französisch sprechen.

Er nahm sein Handy und wählte die 15.

»Bonsoir. SAMU.«

»Sprechen Sie Deutsch?«

Die Stille von einigen Sekunden kam ihm sehr lang vor.

»Qu’est-ce que vous voulez? Je peux vous aider?«

Er drückte auf die Austaste. Hätte sich die Polizei nicht irgendwie mit ›police‹ melden müssen? Oder war das die 17? Er holte sich eine Scheibe Toast aus der Packung und schnitt sich ein großes Stück Käse ab. Zum Glück fand er im kleinen Kühlschrank noch einige Flaschen Kronenbourg. Er öffnete eine Flasche und trank. Er hoffte, dass Nadja bald zurückkommen würde. Selbst wenn sie selbst große Probleme hatte, war sie ihm immer wieder eine große Hilfe, was er ihr aber nicht zeigen konnte. Oft fühlte er sich wie leer, auch wenn er keinen Alkohol getrunken hatte. Er war manchmal wie gelähmt. Bisher hatte er sich nur zu einem einzigen, kurzen Spaziergang zum Strand aufraffen können, und er hatte verblüfft vor einem Bunker gestanden.

Agnes kam nackt aus der Dusche und ihre Freundin Barbara musterte sie anerkennend. »Du siehst ja wirklich blendend aus, bist wohl im Urlaub.«

»Ich finde dieses Chalet hier sehr gemütlich und für uns drei reicht es dicke.«

»Wo wollte Bernhard hin?«

Agnes setzte sich auf Barbaras Schoß und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund. »Ich glaube, an den Strand. Er ist wie ein Hund, braucht täglich seinen Auslauf.«

»Du bist doch auch sehr sportlich, joggst fast jeden Tag.«

»Meinst du, wir sollten uns wegen Bernhard Sorgen machen?«

»Meinst du nicht, er hat es irgendwie geahnt?«

Barbara spielte mit Agnes’ Brüsten, und dann ging ihre rechte Hand etwas tiefer, zwischen die Schenkel.

»Nicht jetzt, Barbara. Er kann jeden Moment zurückkommen, und wir sollten ihn hier im Urlaub nicht auch noch provozieren.«

Agnes ging ins Schlafzimmer und zog sich einen eleganten Hausanzug an.

»Ich bin jetzt in der Küche und bereite ein leckeres Essen vor. Nudeln mit Gulasch, das reicht für heute Abend.«

»Wir können ja morgen wieder mit Bernhard in ein Restaurant gehen.«

»Wir sollten höchstens noch eine Stunde abwarten, und dann müssten wir etwas unternehmen.«

»Und was?«

»Gute Frage.«

In der Polizeistation ging das Telefon.

»Albert, geh du bitte ans Telefon, das ist bestimmt wieder die Deutsche, die ihren Ehemann sucht.«

»Zu Befehl, monsieur.«

»Sag ihr, dass im C. H. A. M., im Krankenhaus, kein Monsieur Kasten eingeliefert wurde.«

»Mach ich.«

 

Martin saß in einer Ecke und dachte daran, wie er diese Grenzsituation in einem neuen Roman verarbeiten könnte. Das setzte natürlich voraus, dass sie alle gerettet würden, woran er aber keinen Zweifel hatte. Nach ihm würde keiner suchen, war er doch allein unterwegs. Höchstens der Besitzer des Hotels, wo er untergebracht war. Aber es kam häufiger vor, dass er woanders zu Abend aß, dann noch an einer Bar ein Glas Wein oder ein Bier ›à la pression‹ trank und dann erst spät in das Hotel zurückkehrte.

Bisher wusste er noch nicht allzu viel über die anderen Mitgefangenen, aber vielleicht würden sie noch vor der Rettung etwas preisgeben. Bernhard war mit seiner Frau und deren Freundin unterwegs. War das ein ›ménage à trois‹? Wenn nicht, könnte er das in seinem Roman hinzufügen. Sex zog immer, das wusste er.

Torsten war mit Frau und den Kindern unterwegs, Nadja war Schauspielerin. In der Dunkelheit konnte er natürlich nicht sehen, ob er sie schon einmal im Fernsehen gesehen hatte.

Charlotte, die Witwe, war in seinem Alter, aber im Gegensatz zu ihm war ihr Mann wohl ein Macho gewesen, wie viele Männer.

Marion konnte er noch nicht richtig einschätzen. Was hatte sie vor ihrem Unfall gemacht? Vielleicht war sie eine hübsche Frau gewesen. Hatte man den Unfallverursacher ermitteln können? Ihr Sprachzentrum war noch immer betroffen, aber hatte sie auch ein körperliches Handicap? Irgendwie freute er sich, in diese Grenzsituation geraten zu sein. Das war etwas anderes als das flache Alltagsleben. Aber es gab sicherlich auch ein oder zwei Personen, die einfach nur Angst hatten. Er würde ihnen Mut machen.

»Erinnerst du dich noch an den Unfall, Marion?«, fragte Charlotte in die Stille.

»Auto von hinten, bums.«

»Und dann?«

»Koma, lange, sehr … lange.«

»War nur dein Kopf betroffen?«

»Nein, Arm, links, Bein, Fuß, links. Alles wieder geflickt, aber Schmerzen.«

»Kannst du wieder normal gehen?«

»Hinke, und die linke Hand … nicht greifen.«

»Wer war im Auto?«

»Polizei keine Ahnung, ist davongebraust.«

Manfred wurde wach, er hatte sich spät am Nachmittag hingelegt, und jetzt war es fast dunkel. Er erinnerte sich, dass er im Halbschlaf von der damaligen Frankreichfahrt geträumt hatte. Damals war Marion noch topfit gewesen. Sie hatten lange gespart und sich für vier Wochen ein Wohnmobil geliehen. Über Luxemburg ging es an die Côte d’Azur, Menton, Monaco, Nice, Marseille. Dann fuhren sie an den Pyrenäen entlang zum Atlantik. Biarritz, Bordeaux, durch die reizvolle Bretagne, Mont St. Michel, dann an die Strände, wo die Alliierten 1944 gelandet waren, Cabourg, Deauville. Sie hatten wie Gott in Frankreich gelebt und jeden Tag genossen. Und dann waren sie auf dem Weg nach Le Touquet-Paris-Plage gewesen, und in Berck wollte Marion noch ein paar Fotos von den berühmten Bunkern machen. Er war im Auto geblieben und hatte es aufgeräumt. Und dann kam der Unfall. Monatelang lag sie im Koma, schwebte zwischen Leben und Tod. Er hatte Marion nie aufgegeben. Dann war sie eines Tages wieder aufgewacht. Und nach Aufenthalten in mehreren Reha-Kliniken war seine Frau wieder so weit hergestellt, dass sie allein gehen konnte, zwar langsam, aber immerhin. Früher war sie sehr redegewandt gewesen, jetzt musste sie sich mit Teilsätzen und Bruchstücken zufriedengeben. Oft bewunderte er ihre Energie und ihren Optimismus.

Sie kam gut allein zurande, aber jetzt in der Dunkelheit? Hatte sie sich am Strand verirrt oder war sie irgendwo eingekehrt? Aber hier gab es nicht viel. Nach dem furchtbaren Unfall damals hatte er direkt die 15 gewählt. Was kam jetzt am ehesten infrage? Die 17, Polizei, oder die 18, Feuerwehr, oder allgemein die 112, für Notfälle? Er wählte die 17.

»Was hast du Madame Kasten gesagt?«

»Nur, dass ihr Mann nicht im Krankenhaus sei.«

»Und war sie damit zufrieden?«

»Sie schien zwar erleichtert, aber ihre Stimme klang sehr ängstlich.«

»Das Telefon klingelt schon wieder, geh du ran. Das ist bestimmt noch einmal Madame Kasten.«

»D’accord.«

Albert und Manfred sprachen am Telefon in einer deutsch-französischen Mischung, aber irgendwie hatte Albert das Wichtigste verstanden.

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