42 Grad

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42 Grad

Kriminalgrotesken

Wolfgang Manfred Epple

Copyright: © 2013 Wolfgang Manfred Epple

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5647-5

Mordversuch?

Eifersucht ist eine schlimme Krankheit, und nicht nur Menschen fallen ihr gelegentlich zum Opfer; auch Haustiere kann es bös erwischen. Besonders häufig können wir das beobachten, wenn deren Gastfamilie sich menschlichen Nachwuchs zur Seite stellt. Dann heißt es aufgepasst!

Verpflichtet nicht den treuen Hasso als Babysitter! Er könnte seinen Schafspelz an den Nagel hängen, um eine Hauptrolle in »Rotkäppchen« zu übernehmen.

Lasst Klein Elsie nicht allein in den Stall! Der Gaul könnte beweisen, dass ein Hufeisen nicht immer Glück bedeutet. Habt ein Auge auf den Weißen Erich! Der brave Hofgänserich überlegt sich vielleicht eines schönen Tages, wie viel größer der Spaß sein würde, Mäxle, an die Gurgel zu gehen, statt immer nur dem Briefträger nachzuzischen.

Möglich auch, dass der eine oder andere Goldfisch sich heimlich Haifischzähne wünscht, oder dass in den Falten unserer Matratze die gekränkte Hausstaubmilbe zähneknirschend Rache schwört.

Kann durchaus sein - wir kriegen das bloß nicht so mit, weil diese Tiere sich nicht erkennbar artikulieren können.

In unserem Fall war‘s ein Kanarienhahn, und der konnte das ausgezeichnet.

Wir zogen damals in eine schiefe Dreizimmerwohnung mitten in der Stadt, nachdem wir ein halbes Jahr in der Südsee herumgeflittert hatten. Das Geld war verbraucht; ich musste neues heranschaffen.

Straßenbahnumklingelt saßen wir auf unserer Sperrmüllcouch, rauchten Zigarren und guckten in das gebrauchte Schwarzweißgerät, bis ich aufsprang und zur Nachtschicht lief. Zurück blieb mein Schatz von der sonnigen Insel, gequält von Einsamkeit und Langeweile. Wir versuchten, uns fortzupflanzen, damit Leben in die Bude komme, aber das war nicht so leicht, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Ich lief weiter zur Schicht, mein Inselkind blieb allein und unbefruchtet auf der Couch zurück und wartete, bis ich mich wieder neben sie setzte oder auf sie legte. Mir tat das leid.

Da fiel mir meine Mutter ein. Die hatte unter Niedergeschlagenheit gelitten, nachdem ihre jüngste Tochter flügge geworden war. Sie aß kein Frühstück mehr und starrte die Wände an. Eine ganze Zeitlang ging das so, bis ihr Mann es nicht mehr ertrug und seiner Frau einen möhrenfarbenen Kanarienhahn hinstellte, dazu ein blauweißes Wellensittichpaar und sechs Blutschnabelweber. Jede Gattung war in ihrem eigenen Käfig untergebracht. Die gefiederte Schar ließ sich nicht lange bitten und erfüllte gleich das stille Haus mit fröhlichem Lärm. Da schmeckten meiner Mutter die Brötchen wieder, und sie schaute nicht länger auf die Tapete.

In dem Zoogeschäft beim Bahnhof sah ich ihn sitzen. Er war kanariengelb, wie sich das gehörte, war Hahn und damit sangesfähig und außerdem jung genug, um einige Jahre durchhalten zu können.

Ich legte vierzig Mark hin, der Zoohändler pflückte das Tierchen von der Stange und schob es in eine Pappschachtel. Er gab mir Sand mit und eine Tüte Körner und einen Spiegel und ein Glöckchen, damit der Kanari vor Einsamkeit nicht schwermütig werde. Einen Käfig erwarb ich auch und trug alles in unsere Wohnung.

Der Kanari bekam keine Gelegenheit, schwermütig zu werden, und selten bedurfte er der Zerstreuung durch sein Spiegelglöckchen. Vincent - wir tauften ihn so, weil des gleichnamigen Malers Lieblingsfarbe das Gelb gewesen war - Vincent empfing all unsere Liebe. Bald hatten wir ihn soweit, dass er in Verzückung geriet, kaum dass wir uns seiner Behausung näherten. Er rückte ganz nah an die Käfigtür, stand Aug in Auge mit uns und begann zu trillern. Er trillerte, wie noch kein Kanarienhahn vor ihm getrillert haben mochte. Zur Kugel aufgeplustert, die Flügel zitternd abgespreizt vor Glück, stand er bebend auf seinen dünnen Stelzen, das Köpfchen hochgereckt, mit aufgerissenem Schnabel, und - sang, sang, bis er müde wurde.

Vincent bekam nur das Beste. Die frischesten Apfelstücke, die grünsten Salatblätter klemmten wir zwischen die Gitterstäbe, und zur Zerstreuung des fleißigen Unterhaltungskünstlers hielten wir verschiedene Sorten Knabberstangen in Bereitschaft. Mindestens einmal täglich wechselte Moana den Sand aus, und sie hatte ein Auge darauf, dass der Trinknapf niemals trübes Wasser enthielt. Denn der Sänger brauchte nicht nur reichlich davon, seine Stimmbänder geschmeidig zu halten - ein erfrischendes Bad am Morgen war ihm Herzensbedürfnis.

Und er vergalt es uns reichlich. Noch bevor sein Gefieder getrocknet war, fing er schon an, seine Arien zu schmettern.

Eigentlich hätten wir in dieser Dreisamkeit ein recht zufriedenes Leben führen können, aber wir dummen Menschen wollten mehr - des Sängers Gesellschaft genügte uns nicht. Wir fuhren fort in unserem Bemühen, aus eins und eins drei zu machen.

Schweigsam und ernst beobachtete Vincent uns dabei durch die Gitterstäbe, als ahne er, was da im Entstehen war. Wie oft hat er warnend sein Glöckchen geläutet; wir aber trieben es weiter.

Der Tag kam, an dem wir es wagten, ihn hinauszulassen, damit er nicht vergesse, was sein Element sei. Wir versicherten uns, dass kein Fenster offenstand und entriegelten die Käfigtür. Vincent zauderte nicht lange und schwirrte ab. Er war ein ausgezeichneter Flieger, hatte nichts verlernt in der Zeit seiner Einzelhaft.

Der Luftraum im Wohnzimmer gehörte nun ihm. Auf seinem Lieblingsplatz, der Gardinenstange, thronend, überwachte er das Geschehen. Wurde Gebäck zum Kaffee gereicht, kam er herunter, landete auf dem Tisch, pickte fordernd gegen die Glasschüssel, und wir hatten nichts dagegen, wenn er sich seinen Anteil nahm. So zutraulich wurde er, dass er sich abwechselnd auf Moanas und meiner Schulter niederließ und uns beim Fernsehen Gesellschaft leistete. Wenn ihm die Augen zufielen, kroch er in meine hohle Hand und hielt ein Nickerchen.

Er folgte uns in die Küche. »Komm!«, riefen wir, indem wir mit der Hand winkten, und Vincent verließ seinen Ausguck und schwirrte hinter uns durch die Tür, über den Flur bis in die Küche, wo er auch eine Gardinenstange für ihn angeschraubt fand.

War das Essen fertig, riefen wir wieder »Komm!«, und er begleitete uns zu Tisch.

Der Nachteil seiner Freiheit: Bei unseren Übungen auf der Couch konnte er nun tätlich einschreiten, musste nicht länger das alberne Verhütungsglöckchen läuten.

Sobald wir die Vorbereitungen trafen, fing er an, unruhig auf seiner Stange hin und herzulaufen, und wenn wir dann eins zu werden drohten, verlor er die Beherrschung. Mit zornigem Schrei stürzte er sich herab, riss uns in den Haaren, zwickte uns ins Ohr und zeterte so lange, bis wir aus dem Takt gerieten und es für diesmal gut sein ließen.

Irgendwann geschah es dann doch: Eine Tochter ward uns geboren, und die Fliegerei war zu Ende.

Düster kauerte Vincent in seinem Gefängnis, nahe der Käfigtür, und machte böse Augen, während der Säugling an Mutters Brust schmatzte, wenn er nicht gerade am Schreien oder Stinken war.

Der Säugling wechselte zur Flasche über, wurde schwerer, schrie lauter, stank ärger.

Vincent aber verfiel in völliges Schweigen. Die Federn gingen ihm aus; er saß so herum.

Der Säugling begann zu kriechen. In sämtlichen Ecken war er zu finden, alles wollte er anfassen.

Endlich richtete er sich auf. Schwankend wie ein betrunkener Matrose hielt er sich an den Stäben seines Gitterbetts.

Wir machten Fotos und legten sie zu den anderen.

Der Säugling stand nun viel in seinem Gatter, ließ sich die Sonne auf sein seidiges Haar scheinen, spielte mit bunten Kugeln, klingelte mit Glöckchen, bekam Zähne.

Und Vincent?

Nein, wir hatten ihn nicht völlig vergessen. In den Stunden, da unsere Tochter in ihrem Bettchen spielte, gewährten wir dem Schwermütigen wieder Ausflüge. Wohl spross ihm dadurch wieder sein Brustgefieder, auch aß er mit mäßigem Appetit, doch singen tat er nicht mehr. Nicht eine Note. Und das Schoßvögelchen kroch nie wieder in meine Hand, wollte auch keine Filme mehr mit uns zusammen sehen.

Das Schoßvögelchen wandelte sich zum Adler, zu einem gelben, mürrischen Reichskriegsadler. Zornige Augenbrauen wuchsen ihm über seinen schwarzen Knopfäuglein, die nicht länger freundlich blickten, nicht länger sehnsuchtsschluchzend sich im Rausch des eigenen Gesanges verzehrten.

Vincent wurde streng, glatt und windschnittig. Er weigerte sich eisern, uns als trillernde Plüschkugel die Momente zu versüßen, in welchen der Säugling einmal nicht das Wohnzimmer entweihte. Er hockte auf der Gardinenstange, und es schien, als führe er etwas im Schilde.

Es war ein goldener Oktobersonntag. Wir lagen auf der Couch und waren damit beschäftigt, ein Brüderchen für unsere Tochter anzufertigen. Die Stunde war günstig. Das Kind lag jenseits des Flures in seinem Gitterbett und schlief, die Mutter hatte es vor wenigen Minuten zugedeckt. Und Vincent würde uns nicht stören, er hatte in diesem Punkte resigniert. Vermutlich saß er still auf seinem Ausguck und machte ein böses Gesicht. Was half‘s - das Leben ging weiter.

Da war etwas. Irgendein Ton durchbrach unser Seufzen. Ein fernes Wimmern, ein helles Wehklagen, ganz anders als gewöhnlich, wenn es um volle Hosen oder leeren Magen ging. Fast wie ein Hilferuf.

Wir rappelten uns hoch und drangen zum Kinderzimmer vor. Die Tür war angelehnt.

»Voge! Voge! Nein, nein ... weg!«

Behutsam öffnete Moana die Tür einen Spaltbreit.

 

Auf der Querstange des Gitterbetts tanzte ein gelber Teufel. Er wollte nicht unterhalten, er tanzte den Kriegstanz. Er tanzte auf dem linken Bein, er tanzte auf dem rechten Bein. Er stieg in die Höh, verharrte flügelrauschend knapp unterhalb der Lampe. Das Kind stand bebend mit angstverzerrtem Gesicht, indem es sich mit der linken Hand zu schützen versuchte und mit der rechten ans Gitter klammerte.

Der Adler stieß herab, parierte die ungeschickte Hand, krallte sich fest. Riss Haare aus, die ihren Seidenglanz verloren hatten und nun in angstschweißgetränkten Büscheln wie Schnittlauch am Kopfe seiner Feindin klebten.

Der Adler schrie gellend. Hackte auf die Schädeldecke, als gelte es an das nahrhafte Mark eines Hirsekorns zu kommen. Er suchte die Augen. Erhielt einen Schlag, taumelte zur Seite, flog einen Bogen und griff umso wütender von vorne an.

Vincent war so in Rage, dass er nicht bemerkte, wie ich die Kamera vom Nachttisch klaubte und in Anschlag brachte. Selbst das Blitzlichtgewitter konnte ihn nicht stoppen, zu groß war die Erbitterung unseres vernachlässigten Spielkameraden.

Als ich endlich die Hand ausstreckte, um ihn in Haft zu nehmen, versetzte mir der Rasende einige empfindliche Schnabelhiebe, bevor er sich mit einem letzten Aufschrei ins Wohnzimmer davonmachte und schweratmend auf der Gardinenstange Zuflucht nahm.

Stunden vergingen, bis er sich beruhigt hatte und wortlos in seinen Käfig schlich. Dort blieb er noch sieben Jahre, immer schweigsam und mürrisch, bis er tot von der Stange fiel.

Brüderchen und Schwesterchen aber weinten bitterlich. Sie gruben ihm ein Grab neben dem Komposthaufen. Darauf legten sie einen gelbbemalten Stein und beschrieben ihn mit ihrer krakeligen Kinderschrift:

Hier ruht Vincent. Der liebste Vogel von der Welt!

Wellhorns Rache

Ich ein Mörder? Der ich froh sein kann, wenn mir die morschen Zähne nicht im Butterbrötchen steckenbleiben, ich soll das getan haben? Und ich höchst selbst soll’s gewesen sein, der sich das Fleisch aus dem Körper gefressen hat? Zum Glück haben sie mir bis jetzt noch keinen Maulkorb verpasst wie einem tollwütigen Hund, aber wer weiß - kann alles noch kommen. Deshalb sitz hier ganz ruhig auf meinem Stuhl und guck in den Wald. Ich schrei auch nicht mehr nachts; ich sag überhaupt nichts mehr. Kein Wort.

Nachher holen sie mich wieder ab zum Gruppengespräch, aber ich werde schweigen, weil’s ja doch zu nichts führt.

Was ich noch zu sagen habe, mein lieber Ulli, das schreib ich für Dich auf. Du magst dann entscheiden, ob Du Deinem alten Schulkameraden die Wahrheit glaubst oder nicht. Du kennst mich, und ich hoffe, die Jahre, die uns getrennt haben, konnten unserer Freundschaft nichts anhaben. Und säßest Du heute, wo ich jetzt sitze - ich versichere Dich: Ich hielte zu Dir - FREUND!

Also! hol Dir ’n Bier aus dem Kühlschrank, hau Dich in den Sessel und schenk mir armem Schiffbrüchigen ein halbes Stündchen Aufmerksamkeit. Nur ein halbes Stündchen.

Ich hatte das Alter erreicht, in dem andere sich behaglich zurückzulehnen beginnen und es genießen, mit mildem Blick und gezähmten Trieben auf die Früchte ihres Lebens und ihrer Arbeit zu schauen … Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber nichts von alledem wollte auf mich zutreffen. Im Gegenteil: Kaum siebenundvierzig geworden, widerfuhr’s mir, dass mein Lebensschifflein vom Kurs abkam, in schweres Wetter trieb, seine Masten verlor und an den Klippen des Schicksals in tausend Stücke zerbrach.

Es begann zu Hause. Mein Filius: Schmeißt das Abitur, schert sich die Rübe kahl, läuft barfuß im Büßergewand und isst nur noch Bananenchips. Bananenchips zum Frühstück, Bananenchips zum Mittag, Bananenchips am Abend. Dazu Leitungswasser und fromme Sprüche. Am Ende war er so dürr, dass ich mir Sorgen machte, er könnte durch die Roste unseres Fußabstreifers rutschen.

Auf die Frage, wie er sich seinen beruflichen Werdegang vorstelle, lachte er nur, zuckte die Achseln und sagte: »Keine Ahnung. Vielleicht leb ich einfach nur, - jedenfalls möchte ich nicht so enden, wie du.« Und zermümmelt seine Bananenchips.

Und meine Tochter, was tat meine Goldprinzessin, ihren alten Vater zu trösten? Ganz einfach! Sie langte doppelt zu -; dahin der Liebreiz ihrer Jugend Blüte, erstickt von Fleisch und Fett.

Ich litt, wie ihre Mutter litt, doch war ich standhaft genug, dem flüssigen Tröster die Stirn zu bieten - was meinem schwachen Weibe nicht gelang.

Noch vor dem Frühstück, kaum erwacht, ließ sie den Korken aus der Flasche fahren, um, schaumgedämpft, den neuen Tag zu meistern.

Genug der Poesie!

Was ich sagen will: Es fiel mir nicht leicht, unter solcher Art Begleitmusik meinen Job anständig durchzuziehen, glaub mir das! Immer draußen an vorderster Front, immer im Schussfeld. Fünfmal die Woche, Monat für Monat, jahrein, jahraus. Und mein alter Herr mir ständig im Nacken: »Na, Bernd«, jedes Mal wenn wir ihn besuchten, »na, Bernd, noch immer nicht Abteilungsleiter?«

Werd‘ du mal Abteilungsleiter, wenn jeder dir nur Knüppel zwischen die Beine wirft, wollt‘ ich sagen, aber ich hab wie gewöhnlich den Schwanz eingezogen und »bald« gesagt, »bald, Vater. Lass mich nur erst das Patent durchpauken, dann hab ich’s im Sack.«

Und ich hab das Patent durchgezogen, trotz aller Widrigkeiten; kennst es bestimmt, das Herbizid.

Jeder Rübenbauer, der was auf sich hält, spritzt es auf seinen Acker. Meuchelt die gemeine Hundskamille, diszipliniert den obergemeinen Fuchsschwanz, zähmt den widerspenstigen Gänsefuß, und die Gräser lässt er gelb werden vor Neid.

O, die AG ist reich geworden durch meine Wenigkeit, schwerreich. Die Aktien stiegen, und in gewissen Etagen floss der Champagner.

Und ich? Was hatte ich davon? Paar Mark Prämie und Schluss. So läuft die Chose und nicht anders. Meinen Wunsch, endlich Abteilungsleiter zu werden, sah man sich außerstande zu erfüllen; alles, was der großmächtige Herr Direktor mir anbieten konnte, war der Posten eines Kommissarischen Leiters - will heißen: die wollten mich unter Beobachtung halten, als wär ich ein Käfer im Glas. Ich durfte mir also kommissarisch ein Büro einrichten hinter dem Sekretariat, nachdem endlich mein Vorgänger in Rente gehumpelt war.

Als erstes riss ich das Plakat mit dem bananenfressenden Schimpansen herunter. Das Vieh hockte, die Hose auf Halbmast, auf der Klobrille, fraß Bananen und grinste dazu. Mein Vorgänger liebte solche Geschmacklosigkeiten, konnte sich halbtot darüber lachen.

Ich nicht. Ich pappte Horst Janssen an die Wände und schob einen lackierten Eibenstubben unters Fenster. Ließ die Decke hellgelb streichen. Begann zu arbeiten. Arbeitete hart. Missbrauchte meine Hände weder dazu, armlange Havannas zu halten noch die Putzfrau zu kitzeln. Auch pflegte ich ein reinliches Hochdeutsch - und trotzdem: überall eckte ich an. - Warum? fragst Du Dich? Ganz einfach: Weil ich mir das herzerfrischende Vokabular meiner Studentenzeit bewahrt hatte, und gewisse Leute meine lutherische Kernigkeit nicht verstehen wollten, sich als was Besseres fühlten mit ihren gestelzten Redensarten.

O, was haben die drauf gelauert, wie sie mir ein Bein stellen konnten. Vergebens. Keiner von denen hat’s geschafft, all die Jahre nicht … Bis dann die Westermüller auftauchte.

Wie ein Naturereignis zog die überm Südhorizont herauf. Kam von Australien her. Hatte ihren Tankwart satt. Und die Sonne. Und überhaupt. Hat sie ihren Bengel bei der Hand genommen und ist getürmt und ausgerechnet bei mir aufgekreuzt, und bittersüße Tränen hat sie in ihr Dekolleté vergossen, bis mir ganz weich wurde um mein kommissarisches Halbleiterherz und ich es durchsetzte, dass die Unglücksfee bei mir Lohn und Brot bekam. - Na ja, und alles was recht ist: ihre Früchte war‘n wirklich zu schade, um in der Sonne zu verdorren; auf einem kühlem Schreibtisch ruhend würde die verderbliche Last noch lange ihre Frische behalten -; ich war Künstler genug, dies zu erkennen.

Jeder hat hingeguckt, sogar die andern Tippsen, und wenn die mal aufstand und lostrippelte, kam’s mir vor wie ein Wunder, dass die nicht vornüber kippte. Alle haben hingeguckt, aber die hat so getan, als wär die gar nicht gemeint, als ginge die das überhaupt nichts an.

Beim Jubiläum vom alten Pröppke - ich hatte ganz schön einen in der Krone, die andern übrigens nicht weniger -, da hab ich mir die Freiheit erlaubt, mal zu probieren, ob bei der Dame alles am Platze wär?

Die »Dame« zickt herum, sagt, ich solle meine trockenen Pfoten und so weiter, sonst würd sie schreien.

Ich hab sie gefragt von wegen Tankstelle und so, ob denn ein australischer Trucker was Bessres wär und noch paar Fragen betreffs ihrer Zukunft, und was das Söhnchen so treibe - kurzum, ich bin ein bisschen deutlich geworden.

Sie zischte nur, es käm der Tag für mich, da würde mir geholfen …

Und das war alles. Ich bin wieder nach nebenan und hab mich übers kalte Büffet hergemacht und die Sache vergessen.

Die hingegen hatte nichts vergessen, die hat mich ins offene Messer oder besser: in ihre offenen Titten laufen lassen. War mir schon paarmal aufgefallen, dass die immer grad dann im Weg rumstand, wenn ich’s eilig hatte.

Und ich hab’s immer verdammt eilig, besonders wenn ich zu viel Kaffee getrunken und zu viele Äpfel gegessen habe. - Tja, mein lieber Ulli, und dann ist es passiert. Ich muss ins Büro weil ich’s klingeln hör. Was Vertrauliches. Nur für mich, verstehst? Ich hör das Telefon vom Klo aus, brech ab, vergess vorn zuzuknöpfen und stürm rein, und wer, glaubst Du wohl, lauert da hinter der Tür wie ’ne Tarantel? Hat sich einfach fallen lassen und losgekreischt, ich wollt ihr an die Wäsche und: »Hilfe! Hilfe!«.

Hab versucht sie aufzustellen, da hat sie noch lauter losgekreischt. Ist Dr. Hackmesser reingeplatzt, und da steh ich, knallrot vor Anstrengung, und ich hab die gar nicht angefasst, nur ’n bisschen gestützt und trotzdem - meine Hose, die stand offen, und ich hab rumgestammelt, und, und - da saß ich drin in der Tinte.

Der Direktor hat mich gleich in sein Büro bestellt, und ich hab gesagt, das habe nicht viel zu bedeuten, das mit der Hose, das käm öfters vor, weil ich’s immer so eilig hätte.

Da sagte der Direktor, er werde dafür sorgen, dass ich’s fortan nicht mehr so eilig hätte; ich könnte mir’s aussuchen: Entweder woanders eilig sein - zum Beispiel auf dem Weg zum Arbeitsamt - oder zurück ins Glied und mucksmäuschenstill.

»Hör zu, Freundchen«, brüllt der Alte in seinen Cognacschwenker. »Pass auf, was ich dir jetzt sage, und danke dem allmächtigen Gott, dass du’s mit ’nem Menschen zu tun hast!«

Und er brüllt weiter von einer goldenen Brücke, die er mir bauen wolle, und ich sollte da ruhigen Gewissens rauf in diese Einrichtung; ich wär nicht der erste, der so was, und den Kopf brauchte ich trotzdem nicht hängen lassen - und damit Schluss und aus und gute Ergebnisse.

Die goldene Brücke führte mich an die Nordsee.

Schon drei Tage nach dem freundlichen Zusammenschiss saß ich im Zug und war beinah erleichtert - nicht zuletzt wegen meiner Lieben, die auch ohne meine Unwesenheit (so nannten sie ihren Wohltäter gelegentlich), mit ihren Bananenchips, ihrer Fresssucht und ihrem Bedürfnis nach morgendlichem Schaumweingenuss für ein paar Wochen zurechtkommen würden.

Da saß ich also im Interregio 2215 und zockelte am Rhein entlang. Sah den besungenen Fels aufragen, sah altes Gemäuer auf Weinbergen bröckeln, sah den Kölner Dom in den Himmel zacken, sah Nutten aus Fenstern winken kurz vor Düsseldorf; sah Armeen von Schmetterlingssträuchern die stillgelegten Gleise des Ruhrpotts besiedeln; schlief ein bis Münster. Blieb wach ab Rheine, in Lingen, in Meppen. Tackerte durch flach gewordenes Land, bei immer goldener werdendem Licht - nordwärts, nordwärts, nordwärts.

An Norddeich-Mole stieg ich aus; eine Mitarbeiterin des Hauses »Amselruh« erwartete mich vorm Bahnhof.

Ich warf meine Tasche in den Kofferraum, mich auf den Rücksitz - komisch, sie wollte nicht, dass ich neben ihr Platz nahm -, und dann fuhr sie mich hinaus, irgendeine Chaussee entlang, unter schiefen Bäumen hindurch.

Sie sagte der Nordwest sei schuld daran, dass die nicht grade wüchsen, das wäre ein hübsches Gleichnis übrigens, mit den Menschen sei es ganz ähnlich, die würden auch nicht immer geradeaus in den Himmel wachsen; aber zum Glück wären solche Leute wie sie und ihre Kollegen dazu da, als Gehilfen des Lieben Gottes, die schiefen Pflänzchen hochzubinden, zu stützen und gegebenenfalls zu beschneiden, damit sie wieder ein erfreulicher Anblick für ihre Mitmenschen würden.

 

Ich sagte nichts, hörte kaum zu. Mir war schwindelig.

Sie hörte nicht auf zu quatschen, zeigte hierhin, zeigte dorthin.

Da lagen die Kühe im Gras und rülpsten Methan, und die Windräder standen daneben und quirlten Strom; und sie sagte, wie schön der Frieden doch hier draußen über dem Land ausgebreitet liege - ich sollte mal sehen, bald könnte ich ihn in seiner ganzen Herrlichkeit genießen.

Dann war’n wir da, und sie schob mich in ein Einzelzimmer.

Da überfiel’s mich mit Macht: all das Verdrängte und die Enttäuschung kamen hoch und packten mich an der Gurgel. Mir zuckte es um die Augen herum, auch die linke Backe zitterte; ich konnte nicht mehr F sagen, und ständig sah ich gelbe Punkte, gefolgt von schwarzen huschenden Schatten.

Nach dem ersten Therapieschwimmen bin ich anderntags aus den Latschen gekippt: auf die Brille, auf die Nase, auf die Kacheln.

Danach war das Zucken weg, auch die Punkte und Schatten, und das F war wieder mein. Nur hatte ich weder Lust noch Kraft mehr, aufzubleiben - will sagen: ins Bett zog‘s mich mit Macht, des Tags und in der Nacht.

Eine Woche guckten die sich das an, dann trat Frau Cord-Handschuh an mein Lager und sagte, ich könne so nicht ewig, ich müsste mich aufraffen und mit ihnen arbeiten; zu ewiger Ruh sei späterhin noch Zeit genug.

Sie schleppte mich zu Frau Reizker-Durr, die so aussah, wie sie hieß, zwei Köpfe kleiner war als ihre Kollegin, keine vierzig Kilo wiegen mochte, aber behauptete, einen schwarzbraunen Taek-Won-Do-Gürtel im Schrank hängen zu haben.

Wie, um mir‘s zu beweisen, wirbelte sie um ihre Achse, warf das ausgestreckte Bein hoch und verfehlte gezielt ums Haar meine Schläfe.

Ich lachte anerkennend, sagte was von Ying und Yang und wer hier das starke Geschlecht sei und überhaupt.

Da wurde die richtig nett, wie übrigens auch Frau Cord-Handschuh, die eher die milde Tour draufhatte oder wenigstens so tat.

Die beiden Damen zogen mich in ihr Zimmer, schlossen von innen ab, und da saßen wir erst mal so rum und sagten nichts. Frau Reizker-Durr lächelte ihr trockenes Vierzig-Kilo-Taek-Won-Do-Lächeln, Frau Cord-Handschuh aber lächelte, als würde sie an wer weiß was Schönes denken.

An den Wänden hingen Drucke von Kandinsky, Münter, Werefkin; auch einen Janssen entdeckte ich. Der Rest bestand aus Originalen einsitzender Anstaltskünstler.

»Gefallen sie Ihnen?«, fragte die Milde und lächelte noch milder. »Wenn es Ihnen besser geht, können Sie im Batikkurs mitmachen. Oder beim Töpfen. Oder in der Tischlerwerkstatt, je nachdem, was Ihnen Freude bereitet.«

Sie seufzte tief und glücklich; die beiden Damen nickten einander zu, Frau Reizker-Durr klaubte eine Glasmurmel vom Teller in der Mitte des Tisches und rollte sie rüber zu mir.

Ich saß nur da und sah das Ding auf mich zukommen, hatte die Hände im Schoß und fing an zu schwitzen.

Die Murmel erreichte die Kante und fiel dumpf auf den Teppich.

Frau Cord-Handschuh atmete hörbar aus; die Damen nickten sich vielsagend zu, dann, unvermittelt, hatte Reizker-Durr ein schweres Ledersäckchen in der Hand und warf’s mir in den Schoß.

Mir blieb kaum Zeit zusammenzuzucken.

»Das sind die Reflexe«, lachte Reizker-Durr. »Sie werden sich schon noch trauen.«

Dann saßen wir wieder stumm, und ich starrte die Bilder an.

»Ich denke, Inge«, seufzte Frau Cord-Handschuhe, »das reicht für heute. Was meinen Sie, Herr Nebel?«

Mir reichte es auch; ich wollte wieder in die Falle.

Durft ich nicht.

Man schob mich in die Küche, wo mir mehrere Leute vorgestellt wurden. Eine dreißigjährige Lehrerin mit imperativem Stuhlzwang; ein dreiundvierzigjähriger Günther, der nicht mehr Polizist sein konnte, den Brechreiz überfiel, kaum dass er die Uniform sah. Es waren da außerdem verschiedene Hörstürzler, zwei drei Alkoholiker, eine, die sich sämtliche Haare ausrupfte wie ein verhaltensgestörter Molukkenkakadu; ein Autist in Holzpantinen stand schief in der Ecke und rechnete laut; ein blasses Wesen saß über eine Schüssel Mohrrüben gebeugt und weinte bitterlich.

»Wir lassen Sie jetzt alleine«, raunte Frau Cord-Handschuh, schob mich tiefer in die Küche und schlich davon.

Günther kam auf mich zu, klopfte mir auf die Schulter, sagte: »Wart ’n Augenblick, Kumpel!«, und war gleich wieder da, mit einer schneeweißen Schürze, die er mir sorgfältig umband.

»Mach du mit den Mohrrüben weiter, Kumpel«, sagte Günther, »mit der Elsie wird das heut nichts mehr; Elsie kann heute keine Mohrrüben ertragen.«

Elsie lief heulend hinaus, und ich nahm ihren Platz an dem rohen Buchenholztisch ein. Mir gelang es, den Inhalt der vollen Schüssel in gleichmäßige Stifte zu zerschnippeln, weil ich früher mal die Gorch Fock als Modell zusammengekleistert hatte. Und das genügte, um die ganze Mannschaft in Begeisterung zu versetzen. Selbst der Autist klapperte herbei und vertauschte seine Rechnerei mit einem anerkennenden Lachen.

Tat gut. Tat verdammt gut.

Wann war ich zuletzt so gelobt worden? Und was spielte es für eine Rolle, von wem das Lob kam?

Beim Abwürzen der Suppe gab ich noch paar Tipps, schrieb Muskatnüsse auf den Einkaufszettel, und es schmeckte allen.

Elsie aß auch mit und heulte nicht mehr, weil die Mohrrüben ihr nicht länger bedrohlich erschienen.

Die Nacht schlief ich prächtig.

So lief eine Woche dahin und noch eine, und ich wurde wieder ins Besprechungszimmer gelockt.

An jenem Nachmittag fing ich das Ledersäckchen voller Bleikugeln - sogar mit der Linken -, und nachdem ich’s gefangen hatte, nahm ich mir Reizker-Durrs blitzende Augen aufs Korn und wollt ihr eins draufschmettern - aber nix da! Die war schnell! Flink war die - wie ’ne Gottesanbeterin. Der sehnige Arm schnellte hoch, die Taek-Won-Do-Hand schnappte zu, und sie hatte das Säckchen.

Dann saßen wir wieder stille; ich glotzte auf Werefkin, Münter und das Narrengekleckse - du liebe Zeit! da war ein Bild darunter, um dessen Erschaffer muss es bös gestanden haben, als er’s angefertigt. Auf grauem Untergrund drehte sich eine kohlstumpfschwarze Qualspirale, sonst war da nichts weiter drauf, nur noch ein Schriftzug quer drüber in Blutrot. Verglichen damit, war ich noch gut dran.

Draußen vorm Fenster ging‘s lustiger zu. Zwei Elstern zeterten in den Kiefern des Parks, ab und zu stieg ein Ball in die Höh, ich hörte Jauchzen und Kommandos, denn man spielte Korbball.

»Wissen Sie was?«, sagte Frau Cord-Handschuh unvermittelt, »Wissen Sie, wie Sie jetzt aussehen?«

Ich will eben »Nee« antworten, da zückt sie einen kleinen runden Taschenspiegel und hält ihn mir vor die Nase: »So. - So sehen Sie aus.«

Ich sah da rein und sah aus, wie ich immer ausseh.

»Beschreiben Sie mal Ihr Gesicht, als wäre es das eines Fremden«, sagte Frau Cord-Handschuh. »Ist es ein freundliches Gesicht? Was verrät der Mund, was erzählen die Augen?«

Wie soll einer sich selbst beschreiben, der sich doch so lang schon kennt? Ich überlegte hin und her, sah die Qualspirale drohen. »Na ja«, sag ich schließlich, um der Dame einen Gefallen zu tun und die Andere ruhig zu halten. »Dieser Zeitgenosse da kommt mir ziemlich ernst daher, fast finster, möchte ich meinen …«

»Eben«, sagte Frau Cord-Handschuh. »Und woran, glauben Sie, liegt das wohl?«

»Die Falten auf der Stirn?«

»Kann man nicht ändern.«

»Die Nase vielleicht?«

»Die bleibt.«

»Der Mund? Dann ist es der Mund …«

»Schon nah dran, lieber Herr«, schaltete Reizker-Durr sich ein und hatte eine Schere in der Hand. »Ihr Bart, Ihr Schnauzbart! Gucken Sie nochmal genau hin.«

Ich guckte hin und fand ihn recht so.

»So«, sagte Reizker-Durr, »jetzt stellen Sie sich einmal vor, die Enden, die so nach unten hängen wie die eines griesgrämigen Walrossbullen, die Enden wären weg.«