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Sechstes Kapitel
Ihre Geschichte
Was ich von Marys Geschichte erzählen will, habe ich erst durch Nachforschungen zu einer viel späteren Zeit meines Lebens erfahren, viele Jahre nachdem alles bisher Geschriebene sich zutrug. Man möge das beherzigen.
Der Vogt Dermody hatte Verwandte in London, von denen er zuweilen sprach und andere in Schottland, derer er nie erwähnte. Mein Vater hatte nämlich ein hartes Vorurteil gegen die schottische Nation. Dermody kannte seinen Herrn zu gut, um nicht zu fürchten, dass das Vorurteil sich auch auf ihn erstrecken könnte, wenn er über seine schottische Verwandtschaft sprach. Er schwieg deshalb und nannte sie nie.
Als er den Dienst meines Vaters verließ, war er teils zu Lande teils zu Wasser, nach Glasgow gegangen, wo seine Verwandten lebten. Durch seinen Charakter und seine Erfahrungen zeichnete sich Dermody von Tausenden aus und war für jeden Herrn, der das Glück hatte ihn in seine Dienste zu nehmen, von großem Wert. Seine Freunde bemühten sich für ihn und nach sechs Wochen war er von einem Gentleman angestellt, dessen Gut an der östlichen Küste Schottlands lag. Dort hatte er nun mit Mutter und Tochter eine behagliche neue Heimat gefunden.
Die beleidigenden Worte, welche mein Vater zuletzt an ihn gerichtet hatte, waren tief in Dermodys Gemüt gedrungen. Er schrieb seinen Verwandten in London im geheimen, dass er eine neue, vorteilhafte Stellung gefunden hätte, vorläufig aber Gründe habe seine Adresse zu verschweigen. So vereitelte er die Nachfragen, welche die Anwälte meiner Mutter bei seinen Londoner Verwandten anstellten, nachdem sie seine Spur anderswo nicht hatten auffinden können. Teils gereizt durch die Vorwürfe seines früheren Herrn – teils aus einem Gefühl der Selbstachtung – opferte er Mary und mich; andererseits hielt er es auch für seine Pflicht bei der Verschiedenheit unserer Lebensstellungen, jeden Verkehr zwischen uns abzubrechen, ehe es zu spät war.
In einem entlegenen Teile von Schottland, mir und der Welt verloren, lebte nun die kleine Familie in Zurückgezogenheit begraben.
In meinen Träumen hatte ich Mary gesehen und gehört. Sie sah und hörte mich in den Ihrigen. Das unschuldige Sehnen und Verlangen meines Herzens wurde ihr in geheimnisvollem Schlummer offenbar, so lange ich noch ein Knabe war. Ihre Großmutter, welche den Glauben an unsere vorausbestimmte Vereinigung festhielt, stärkte ihr Herz und erhob ihren Mut. Wenn sie ihren Vater auch sagen hörte, was der meine gesagt hatte, dass wir getrennt wären, um uns nie wiederzusehen, so gedachte sie im Stillen ihrer glückverheißenden Träume und hielt diese für sichere Bürgschaften einer anderen Zukunft als die, die Dermody im Auge hatte. So lebte sie doch im Geiste mit mir – und hoffte.
Der Tod der Großmutter, die in sehr hohem Alter der natürlichen Schwäche erlag, war die erste Trübsal die über die kleine Familie kam. Im letzten Augenblick, als sie noch bei Bewusstsein war, sagte sie zu Mary: »Vergiss nie, dass Du und George für einander bestimmte Geister seid. Warte geduldig – in der festen Überzeugung, dass keine Macht der Erde Eure Verbindung verhindern kann, wenn Eure Zeit gekommen ist.
Obgleich diese Worte in Mary unauslöschlich fortlebten, wurde unsere geistige Gemeinschaft in Träumen plötzlich ihrerseits unterbrochen, wie es mir ja ebenfalls geschehen war. Von den ersten Tagen meiner Selbsterniedrigung an war mir Mary nicht mehr erschienen – genau zur selben Zeit sah sie mich auch nicht mehr.
Des Mädchens gefühlvolle Natur brach unter diesem Schlage zusammen. Sie hatte nun keine ältere Frau mehr, die ihr Trost und Rat gab; sie lebte mit ihrem Vater allein und dieser wechselte jedes Mal den Gegenstand der Unterhaltung, wenn von den alten Zeiten die Rede war. Der geheime Kummer, der Leib und Seele verzehrt, nagte auch an ihr. Eine Erkältung, die sie sich in der rauhen Jahreszeit zugezogen hatte, artete in ein Fieber aus. Wochenlang war sie in Lebensgefahr. Als sie genas, war ihr Kopf, auf Wunsch des Arztes, seines schönen Haarschmuckes beraubt. Das Opfer war nötig, um ihr Leben zu retten. In einer Hinsicht war dieses Opfer sehr groß gewesen – denn ihr Haar wuchs nie wieder so üppig. Das neue Haar hatte keine Spur von dem reizvollen, rotbraunen Schimmer des früheren; es war nun einförmig lichtbraun geworden, so dass Marys schottische Verwandte sie zuerst kaum wieder erkannten.
Aber die Natur glich reichlich den Verlust des schönen Haares durch den größeren Reiz aus, den sie dem Gesicht und der Gestalt verlieh.
In einem Jahre war nach der Krankheit das zarte kleine Kind aus der alten Zeit der Grünwasserfläche in der stählenden schottischen Luft und durch ihre gesunde Lebensweise zur hübschen, stattlichen Jungfrau herangereift. Ihre Züge waren, wie in ihren früheren Jahren, durchaus nicht regelmäßig schön und doch war die Veränderung eine sehr merkliche. Das hagere Gesicht war ausgefüllt und der bleiche Teint hatte nun seinen Farbenschmuck erhalten. Die wunderbare Veränderung ihrer Gestalt fiel selbst den rohen Leuten um sie her auf. Höchst unbedeutend, als sie ein Kind war, hatte sie sich nun zu jungfräulicher Fülle, zu Ebenmaß und Anmut entwickelt – sie hatte im wahren Sinne des Wortes eine überraschend schöne Gestalt.
Es gab zu jener Zeit Augenblicke, wo selbst der eigene Vater seine Tochter, geistig, wie körperlich, kaum wieder erkannte. Sie hatte ihre kindliche Lebhaftigkeit – ihr süßes, fröhliches Geplauder verloren. Still und versunken in sich selbst, erfüllte sie geduldig ihre täglichen Pflichten. Die Hoffnung mich wiederzusehen war zu dieser Zeit in ihr erstorben. Sie klagte nie; die Kraft, die ihr Körper in der letzten Zeit gewonnen hatte, unterstützte und stärkte nun die Seele. Als ein oder zwei Mal ihr Vater sie fragte, ob sie noch mein gedenke, antwortete sie ruhig, dass sie es nun über sich gewonnen habe, seine Ansichten über die Sache zu teilen. Sie zweifelte nicht, dass ich sie längst vergessen hatte und war nun alt genug geworden, um einzusehen, dass, selbst wenn ich ihr treu geblieben war, unsere Heirat in den verschiedenen Lebenssphären, denen wir angehörten, eine Unmöglichkeit wäre. Sie sagte sich, dass es das Beste sei die Vergangenheit zu vergessen – mein nicht mehr zu gedenken, wie ich ihrer nicht mehr gedachte. So sprach sie jetzt. Allem Anscheine nach hatten Dame Dermodys vertrauensvolle Voraussagungen über unser Schicksal sich nicht bewahrheitet und waren dem Reiche der unerfüllten Prophezeiungen verfallen.
Als Mary neunzehn Jahre alt war, ereignete sich seit ihrer Krankheit der nächste wichtige Vorfall in den Familienannalen. Selbst jetzt, nach dieser langen Zeit, sinkt mir das Herz, fehlt mir der Mut bei der inhaltsschweren Stelle meiner Erzählung, an der ich jetzt angelangt bin.
Ein ungewöhnlich heftiger Sturm tobte an der Ostküste von Schottland. Unter den Fahrzeugen, die der Sturm vernichtete, war ein holländisches Schiff, das an der felsigen Küste nah bei Dermodys Wohnung scheiterte. Wie er in allen guten Werken voranging, zeigte der Vogt auch hier durch sein Beispiel den Weg zur Rettung der Passagiere und Bemannung des verlorenen Schiffes. Einen Mann hatte er bereits lebend ans Land gebracht und war nun wieder auf dem Wege zum Schiff – als zwei heftig aufeinander folgende Windstöße ihn gegen die Felsen warfen. Er wurde von seinen Nachbarn mit Lebensgefahr gerettet. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass ein Knochen gebrochen war und verschiedene andre ernstliche Verletzungen stattgefunden hatten. Soweit waren seine Beschädigungen leicht festzustellen gewesen, aber nach einiger Zeit entdeckte der Arzt an dem Kranken Symptome, die ernstliche innere Verletzungen schließen ließen. Nach des Doktors Ansicht konnte er seine tätige Lebensweise nie wieder aufnehmen. Er musste für seine Lebenszeit ein elender, gebrechlicher Mann bleiben.
Sein Herr tat für den Vogt Alles, was man unter diesen traurigen Umständen erwarten durfte. Er mietete einen Stellvertreter, der die Landarbeit beaufsichtigen konnte und gestattete Dermody noch für die nächsten drei Monate in seinem Hause zu bleiben. Dadurch war dem armen Manne Zeit gegeben, die Trümmer seiner früheren Kräfte zu sammeln und sich mit seinen Verwandten in Glasgow über seine Zukunftspläne zu beraten.
Die Aussichten waren sehr trübe. Dermody war für jede sitzende Lebensweise untauglich und die geringen Mittel, die er erübrigt hatte, reichten nicht für seinen und seiner Tochter Unterhalt aus. Die schottischen Verwandten waren freundlich und bereitwillig, aber sie hatten ihre eigenen Familien und konnten kein Geld missen.
Der Passagier des gescheiterten Schiffes, dem Dermody das Leben gerettet hatte, trat, grade in dieser Not, mit einem Vorschlage hervor, der Vater und Tochter in gleiches Erstaunen versetzte. Er machte nämlich Mary einen Heiratsantrag, mit der ausdrücklichen Bedingung, dass, wenn sie
seine Hand annähme, ihre Heimat auch lebenslang die Heimat ihres Vaters sein sollte.
Der Mann, der der Familie Dermody in dieser schweren Zeit so nahe trat, war ein holländischer Edelmann namens Ernst von Brandt. Er besaß einen Anteil an einer Fischerei an den Ufern des Zuider-Sees und war, als das Schiff scheiterte, auf dem Wege eine Vereinbarung mit den Fischereien des nördlichen Schottlands anzubahnen. Als er Mary zuerst sah, hatte sie einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte sich in der Nachbarschaft aufgehalten, weil er hoffte mit der Zeit ihre Gunst zu gewinnen. Er war ein hübscher Mann, im Lenz des Lebens; sein Einkommen machte es ihm vollständig möglich zu heiraten. Als er um Mary anhielt, nannte er Personen von hoher, gesellschaftlicher Stellung in Holland, die über ihn Auskunft geben konnten, insofern es seinen Charakter und seine Stellung anlangte.
Mary überlegte lange, was für ihren hilflosen Vater und für sie selbst das Geratenste sein würde.
Seit Jahren hatte sie die Hoffnung auf eine Heirat mit mir aufgegeben. Keine Frau sieht gern ein einsames Leben vor sich und Mary sah sich natürlich, wenn sie an ihre Zukunft dachte, immer als verheiratete Frau. Konnte sie jemals erwarten einen annehmbareren Antrag zu erhalten, als diesen jetzigen? Herr van Brandt hatte jeden persönlichen Vorzug, den eine Frau wünschen kann, er liebte sie zudem zärtlich und hatte ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für ihren Vater, seinen Lebensretter. Was konnte sie Besseres tun als Herrn van Brandt zu heiraten, welche andere Aussicht blieb ihr – welche andere Hoffnung durfte sie hegen?
Durch diese Betrachtungen veranlasst, entschloss sie sich das verhängnisvolle Wort zu sprechen. Sie sagte, Ja!
Gleichzeitig sprach sie ganz offen mit Herrn van Brandt. Sie gestand ihm ohne Rückhalt, dass sie von einer anderen Zukunft, als die, die jetzt vor ihr läge, geträumt habe. Sie verschwieg ihm nicht, dass eine alte Liebe in ihrem Herzen gewohnt habe und dass es außer ihrer Macht sei wieder zu lieben – Dankbarkeit, Achtung und Verehrung hatte sie jetzt noch zu geben und Liebe konnte ja mit der Zeit kommen. Übrigens hatte sie sich längst von der Vergangenheit losgerissen und entschieden alle Hoffnungen und Wünsche aufgegeben, die sich darauf bezogen. Die einzigen Segnungen, die sie vom Schicksal erbat, waren Ruhe für ihren Vater und ein stilles Glück für sich selbst. Diese konnte sie unter dem Dache eines ehrenwerten Mannes, der sie liebte und achtete, finden und wenn sie ihm auch nichts anderes bieten konnte, so konnte sie ihm versprechen, ihm ein gutes, treues Weib zu sein. Es war nun an Herrn van Brandt sich klar zu machen, ob er unter den obwaltenden Umständen in dieser Ehe sein Glück finden würde.
Herr van Brandt nahm ohne Zögern ihre Bedingungen an.
Durch eine bedenkliche Verschlimmerung in Dermodys Zustande musste die Hochzeit, die sonst augenblicklich stattgefunden hätte, noch verschoben werden. Es zeigten sich Symptome, die der Doktor nach seiner eigenen Aussage nicht vorausgesehen hatte, als er sein Urteil über die Krankheit abgab. Er unterrichtete Mary, dass ihres Vaters Ende herannahe. Herr van Brandt ließ einen Arzt aus Edinburgh kommen, der die Ansicht des Landarztes bestätigte. Der gute Vogt quälte sich noch einige Tage. Am letzten Tage legte er die Hand seiner Tochter in van Brandts Hand: »Machen Sie sie glücklich, Herr,« sagte er in seiner einfachen Weise, »und ich bin dafür entschädigt, dass ich Ihnen das Leben rettete.« Am selben Tage starb er ruhig in den Armen seiner Tochter.
Marys Zukunft lag nun ganz in den Händen ihres Verlobten. Die Verwandten in Glasgow hatten für ihre eigenen Töchter zu sorgen, die Londoner Verwandten ließen sie entgelten, dass Dermody sie vernachlässigt hatte. Mit zarter Rücksicht wartete van Brandt bis das arme Mädchen die erste Heftigkeit ihres Schmerzes niedergekämpft hatte – und dann machte er unwiderstehlich die Macht eines Gatten geltend, um sie besser trösten zu können.
Sie heiratete zu derselben Zeit in Schottland, als ich von Indien zurückkehrte. Mary war nun zwanzig Jahre alt geworden.
* * *
Die Geschichte unserer zehnjährigen Trennung ist nun erzählt: und wir stehen an dem Ausgangspunkte unserer neuen Lebensschicksale.
Ich lebe mit meiner Mutter und beginne meine Laufbahn als ein Landedelmann auf dem Gute in Pertshire, welches ich von Mr. Germaine ererbte. Mary erfreut sich an der Seite ihres Mannes ihrer neuen Rechte und erlernt ihre neuen Pflichten als Frau. Auch sie lebt in Schottland – und durch eine wunderbare Fügung, nicht weit von meinem Landsitze entfernt. Ich ahne nicht, dass sie mir so nahe ist: der Name von Frau van Brandt, selbst wenn ich ihn gehört hätte, ruft in meiner Erinnerung keinerlei Beziehungen wach. So sind die verwandten Geister noch immer getrennt. Noch ahnt weder sie noch ich, dass wir uns je wieder begegnen werden.
Siebentes Kapitel
Die Frau auf der Brücke
Meine Mutter störte mich durch einen Blick in die Tür der Bibliothek, bei meinen Büchern.
»Ich habe in meinem Zimmer ein kleines Bild aufgehängt«, sagte sie, »komm hinauf, mein Sohn und sage mir deine Meinung darüber.«
Ich stand auf und folgte ihr. Sie zeigte auf ein kleines Miniaturbild, das sie über den Kaminsims gehängt hatte.
»Weißt du, wen dieses Bild darstellt?« fragte sie, halb traurig, halb scherzend. »George! Erkennst du dich wirklich selbst, als dreizehnjährigen Knaben, nicht wieder?«
Wie soll ich mich wiedererkennen? Durch Krankheit und Kummer gealtert, auf meinem langen Heimwege von der Sonne gebräunt! Schon begann mein Haar sich an der Stirn zu lichten, meine Augen hatten sich gewöhnt traurig und müde zu blicken – was hatte ich mit jenem blonden, starken, lockigen, klaräugigen Knaben gemein, der mich aus dem Bilde anblickte? Der Anblick des Bildes machte mir einen merkwürdigen Eindruck. Es ergriff mich eine unsagbare Schwermut und eine unerträgliche Verzweiflung über mich selbst erfüllte mich. Indem ich mich bestmöglichst bei meiner Mutter entschuldigte, verließ ich das Zimmer und stand im nächsten Augenblick vor der Haustür.
Zuerst durchschritt ich den Park und ließ dann die Grenzen meiner Besitzung hinter mir. Einen Nebenweg verfolgend, kam ich an unseren wohlbekannten Fluss – der so schön, so berühmt unter Schottlands Forellenfischern ist. Augenblicklich war nicht die Jahreszeit zum Fischen. Kein
lebendes Wesen war in der Nähe, als ich mich an das Ufer setzte. Die alte steinerne Brücke, die sich über den Fluss wölbte, war ungefähr hundert Schritte von mir entfernt; und die untergehende Sonne färbte eben das sanft unter ihren Bogen dahinfließende Wasser mit dem roten Licht der sinkenden Sonne.
Immer verfolgte mich das Gesicht des Knaben auf dem Bilde. Mir war’s, als machte mir das Bild in seiner eigenen, unerbittlichen Sprache den Vorwurf: »Sieh wie Du einst warst – und was bist Du jetzt!«
Mein Gesicht in dem weichen, duftigen Grase verbergend dachte ich der zehn verlorenen Jahre von damals bis jetzt.
Wie sollte das enden? Wenn ich das gewöhnliche Leben eines Mannes lebte, welche Aussichten hatte ich dann?
Liebe? Heirat? Ich lachte laut auf, als mir der Gedanke einkam. Seit den harmlos glücklichen Tagen meiner Knabenzeit hatte ich von Liebe nicht mehr empfunden als das Insekt, das eben vom Grase auf meine Hand kroch. Sicherlich konnte ich mir mit meinem Gelde eine Frau kaufen; aber würde mein Geld sie mir teuer machen? – so teuer wie mir einst Mary in der goldenen Zeit war, als jenes Bild gemalt wurde? May! Ob sie noch lebte? Ob sie verheiratet war? Würde ich sie wohl wiederkennen, wenn ich sie sähe? Torheit! Ich hatte sie seit ihrem zehnten Jahre nicht gesehen: jetzt war sie eine Frau, ich ein Mann. Würde sie mich erkennen, wenn wir uns begegneten? Das Bild, das mich noch immer verfolgte, beantwortete mir die Frage! »Sieh, wie Du einst warst —was bist Du nun?«
Ich erhob mich und schritt auf und ab, bestrebt meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben. Es war unmöglich. Nach jahrelanger Verbannung war Mary in mein Gedächtnis zurückgekehrt. Ich setzte mich wieder am Ufer nieder. Die Sonne sank tiefer; schwarze Schatten hingen unter den Bogen der alten, steinernen Brücke. Der rote Schimmer war von dem sanft fließenden Wasser gewichen und hatte es mit eintönigem Stahlgrau überzogen. Friedlich blickten die ersten Sterne vom Himmel hernieder. Die ersten Schauer des Nachtwindes rauschten durch die Bäume und erregten hier und dort die seichten Stellen des Wassers. Und immer wieder – je dunkler es wurde, je beharrlicher führte mein Bild mich in die Vergangenheit zurück – je lebhafter zeigte sich meiner Erinnerung das längst verlorene Bild der kleinen Mary.
War das die Vorahnung, dass sie auch in meinen Träumen zurückkehren würde – in vollendeter Weiblichkeit, im Frühling ihres Lebens?
Es war ja möglich.
Ich war nicht mehr ihrer unwert, wie ich es einst gewesen. Schon der Eindruck, den mein Bild auf mich hervorgebracht hatte, war in sich selbst durch eine innere, moralische Wandlung zum Bessern hervorgerufen, und diese hatte sich im sicheren Fortschreiten vollzogen, seit ich an meiner Wunde krank, ganz hilflos unter Unbekannten im fremden Lande lag. Krankheit, die manchem Menschen Freund und Lehrer geworden ist, war es auch mir geworden. Mit Schrecken gedachte ich meiner Jugendsünden – der verlorenen Tage, als ich mich gottlosen Zweifeln über die edelsten und trostreichsten Güter des menschlichen Lebens ergeben hatte. War es töricht zu hoffen, dass ihr Geist und der meine sich wieder vereinigen könnten, nun ich geweiht durch Schmerzen, gereinigt durch Reue war. Wer konnte das sagen? Ich erhob mich wiederum. Es war ungesund, wenn ich mich bis zur Nachtzeit an dem Ufer des Flusses aufhielt. Dem Antrieb folgend, der uns in gewissen aufgeregten Gemütsstimmungen veranlasst, Wechsel und Bewegung aufzusuchen, hatte ich das Haus verlassen. Das Mittel war fehlgeschlagen, denn mein Gemüt war mehr beunruhigt als zuvor. Das Weiseste was ich tun konnte, war nach Hause zu gehen und meiner guten Mutter bei ihrem Lieblingsspiel, dem Piquet, Gesellschaft zu leisten. Ich erhob mich, um den Heimweg anzutreten – blieb aber gebannt durch die Schönheit des letzten, matten Lichtes am westlichen Himmel, der hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervorleuchtete, stehn.
In dem großartigen Zusammenfließen der nächtlichen Schatten, in dem tiefen Schweigen des scheidenden Tages, stand ich allein und beobachtete das sinkende Licht.
Als ich so dastand, wechselte die Szenerie. Eilig und leicht glitt eine lebende Gestalt über die Brücke. Sie kam hinter der dunklen Linie des Brückengeländers hervor und wurde von dem letzten Strahle des westlichen Lichtes beleuchtet. Sie überschritt die Brücke, stand still und kehrte halbwegs zurück. Wiederum stand sie still. Es vergingen Minuten – und immer noch stand die Gestalt dort hinter dem Brückengeländer wie ein bewegungsloser, dunkler Gegenstand.
Ich trat ein Wenig vorwärts, bis ich nahe genug war um den Anzug, in den die Gestalt gekleidet war, zu erkennen. Aus der Kleidung ging mir hervor, dass die einsame Gestalt ein weibliches Wesen war.
Sie sah mich im Schatten, den die Bäume auf das Ufer warfen, nicht. Sie stand, die Arme in ihren Mantel gehüllt und blickte in den dunklen Fluss. Warum wartete sie hier, am späten Abend, so allein?
Als ich darüber nachdachte, bewegte sie den Kopf. Sie blickte von einem Ende bis zum andern über die Brücke. Erwartete sie jemand, den sie hier treffen wollte? Oder fürchtete sie beobachtet zu werden und wollte sich überzeugen, dass sie allein war?
Ein plötzlicher Zweifel über den Grund, weshalb sie diesen einsamen Ort aufsuchte – ein plötzliches Misstrauen gegen die verlassene Brücke und den sanft rauschenden Fluss machte mein Herz rascher schlagen und bewog mich zum sofortigen Entschluss. Ich stieg schnell den Weg vom Ufer zur Brücke hinan, in der Absicht sie anzureden, da es noch Zeit war.
Sie bemerkte mich erst, als ich ganz nahe bei ihr stand. Ich war ihr mit einem unwiderstehlichen Gefühl der Erregung genaht, weil ich nicht wusste wie sie meine Anrede aufnehmen würde. Im Augenblick, als sie sich zu mir umwendete, kam mir die Fassung zurück. Mir war als hätte ich mit der Voraussetzung einem Fremden zu begegnen, plötzlich einen Freund gefunden.
Und doch war sie eine Fremde. Ich hatte nie vorher in dieses edle, erregte Antlitz geschaut, nie die hohe Gestalt gesehen, deren ungewöhnliche Anmut und deren vollkommenes Ebenmaß, selbst der lange Mantel nicht ganz zu verhüllen im Stande war. Sie war vielleicht eine vollendete
Schönheit. Ihr Äußeres hatte Mängel, die selbst in dem erlöschenden Lichte sichtbar waren. Auch ihr Haar, wie es unter dem großen Gartenhut hervorblickte, schien nur kurz, wie Männerhaar, zu sein und die Farbe war jenes einförmige, glanzlose Braun wie man es so oft bei englischen Frauen von gewöhnlichem Schlage sieht. Trotz dieser Mängel aber, lag ein geheimnisvoller Reiz in ihrem Ausdruck, ein angeborener Zauber in ihren Bewegungen, die mich unendlich sympathisch berührten und mich zur Bewunderung hinrissen. Der erste Blick, den ich auf sie richtete, hatte mich für sie eingenommen.
»Darf ich fragen, ob Sie Ihren Weg verfehlt haben?« fragte ich.
Mit einem wunderbar forschenden Ausdruck ruhten ihre Augen auf mir. Sie schien weder erstaunt noch verwirrt, dass ich gewagt hatte, sie anzureden.
»Ich kenne die Gegend sehr genau,« fuhr ich fort. »Kann ich Ihnen irgendwie nützlich sein?«
Sie sah mich noch immer mit ruhigen forschenden Blicken an. Für einen Augenblick schien mein Gesicht, fremd, wie ich ihr war, sie zu beunruhigen; es war ihr, als hätte sie dieses Gesicht einstmals gesehen und wieder vergessen. Mit einer leichten Kopfbewegung verwarf sie den Gedanken, wenn sie ihn überhaupt gehabt hatte, und sah in den Fluss hinab, als ob ich sie nichts weiter anginge.
»Tausend Dank. Ich habe den Weg nicht verfehlt und gehe oft abends allein aus. Gute Nacht.«
Sie sprach kalt, aber höflich. Ihre Stimme war herrlich; ihre Verneigung, als sie sich von mir verabschiedete, war vollendet in ihrer ungekünstelten Anmut. Sie ging von der Seite die Brücke hinab, von der sie sie betreten hatte und folgte langsam der dunklen Spur des Weges.
Ich war aber noch nicht ganz befriedigt. Hinter diesem reizenden Ausdruck und diesen bezaubernden Bewegungen lag etwas Anderes, was mir mein Instinkt als etwas Gefahrdrohendes bezeichnete. Als ich dem entgegengesetzten Ende der Brücke zuschritt, begannen sich Zweifel in mir zu regen, ob sie die Wahrheit gesprochen hatte. Verließ sie die Nähe des Flusses nicht etwa bloß, um mich los zu werden?
Ich beschloss meinen Argwohn auf die Probe zu stellen. Von der Brücke aus hatte ich nur den Weg zu überschreiten, um in eine Schonung am Ufer des Flusses zu gelangen. Hier konnte ich, versteckt hinter dem nächsten Baum, der stark genug war, mich zu decken, die ganze Brücke übersehen und ich musste es sicher bemerken, wenn sie zum Fluss zurückkehrte, weil noch ein Lichtstrahl die Stelle erhellte. Es ging sich nicht leicht in der dunklen Schonung; ich musste mich förmlich bis zu einem geeigneten Baume durchtasten.
Kaum hatte ich auf dem unebenen Boden festen Fuß hinter dem Baume gefasst, als die Stille der Dämmerungsstunde plötzlich durch den fernen Ton einer Stimme unterbrochen wurde.
»Es war eine Frauenstimme. Sie erhob sich durchaus nicht zu besonderer Höhe – der Ausdruck war der Ausdruck des Gebets – und die Worte, die ich vernahm, waren:
»Christus, sei mir gnädig!«
Darauf war Alles still. Eine namenlose Angst beschlich mich, als ich nach der Brücke sah.
Sie stand am Geländer. Ehe ich mich bewegen, ehe ich rufen, ja selbst ehe ich frei atmen konnte, sprang sie in den Fluss.
Der Strom floss mir entgegen. Ich sah sie aus dem Wasser emportauchen, während ein Lichtstrahl auf die Mitte der Strömung fiel. Ich stürzte am Ufer hinab. Als ich eben Hut, Mantel und Schuh abwerfen wollte, versank sie wieder. Ich war ein geübter Schwimmer und sobald ich im Wasser war, gewann ich meine Fassung wieder – ich war wieder ich selbst geworden.
Ich wurde mitten in die Strömung getrieben und schwamm dadurch erheblich schneller. Als sie zum zweiten Male auftauchte, war ich dicht hinter ihr – ich sah sie nur als einen dunklen Gegenstand, der noch vor mir auf der Oberfläche des Wassers trieb. Noch ein Stoß und – ich hatte sie mit meinem rechten Arm umfasst, und hielt ihr Gesicht über dem Wasser. Sie war bewusstlos. Ich konnte sie bequem so halten, dass ich Herr meiner Bewegungen blieb und
konnte mich, wenn nicht Ermüdung oder ein Windstoß mich hinderten, sicher der Aufgabe unterziehen, sie ans Ufer zurückzubringen.
Mein erster Anlauf machte mir klar, dass ich die Hoffnung aufgeben musste, beladen, wie ich war, dem starken Strome entgegen zu schwimmen, der von beiden Ufern zur Mitte trieb. Ich versuchte es von einer und von der andern Seite und – gab es auf. Mir blieb nur der Ausweg
mich mit ihr in den Strom hinabtreiben zu lassen. Einige fünfzig Ellen weiter abwärts machte der Fluss eine Biegung um einen Landvorsprung, auf dem ein kleines Gasthaus stand, das Angler in der Zeit des Fischens besuchten. An der Stelle angelangt, machte ich einen wiederum vergeblichen Versuch zu landen. Jetzt blieb unsere letzte Hoffnung nur noch, dass die Bewohner des Gasthauses mich hörten. Ich rief mit aller Kraft meiner Stimme, als wir vorbeitrieben. Der Ruf wurde beantwortet. Ein Mann bestieg ein Boot. Fünf Minuten später hatte ich sie sicher am Ufer und der Mann und ich trugen sie in das Gasthaus am Ufer.
Die Wirtin und ihr Dienstmädchen waren sehr bereitwillig uns zu helfen, aber ebenso ungeschickt, um es richtig anzufangen. Zum Glück befähigten meine medizinischen Kenntnisse mich, sie anzuleiten. Ein gutes Feuer, warme Decken, Wärmflaschen, Alles stand zu meiner Verfügung. Ich zeigte den Frauen, wie sie das Belebungswerk anzufangen hatten, wir arbeiteten Alle beharrlich daran. Leider aber lag sie noch immer in ihrer ganzen Formenschönheit da, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben – allem Anscheine nach war sie ertrunken.
Eine letzte Hoffnung blieb noch – die Hoffnung, sie durch den Prozess, den man »künstliches Atmen« nennt, wieder zu beleben, wenn es mir nur gelang den dazu nötigen Apparat rechtzeitig herzustellen. Als ich im Begriff stand der Wirtin klar zu machen, was ich brauchte, wurde ich mir einer seltsamen Schwerfälligkeit mich auszudrücken bewusst; die gute Frau trat plötzlich von mir zurück und stieß einen Schrei des Schreckens aus.
»Guter Gott, Herr, Sie bluten!« schrie sie. »Wo kommt das Blut her? Wo sind Sie verwundet?«
In dem Augenblick, als sie das sagte, wusste ich was geschehen war. Die alte indische Wunde, wahrscheinlich durch die heftige Anstrengung, die ich mir zugemutet hatte, beschädigt, war wieder aufgegangen. Ich kämpfte mit einer plötzlichen Ohnmacht, die mich zu befallen drohte; ich versuchte den Bewohnern des Gasthauses noch zu sagen, was zu tun sei. Vergebens. Ich sank in die Knie; mein Kopf fiel an die Brust der Frau, die bewusstlos vor mir auf dem niedrigen Lager lag. Der Scheintod, der sie umfangen hielt, umfing nun auch mich. Der Welt um uns her verloren, lagen wir vereint durch die Zaubermacht des Todes, während mein Blut auf sie niederströmte! Wo weilten unsere Geister in jenem Augenblick? Waren sie vereint und sich einander bewusst? Kannten wir uns in jener Entzückung wieder, die uns durch ein geistiges Band vereinte, wir Zwei, die wir uns ahnungslos und unentdeckt auf der verhängnisvollen Brücke begegnet waren? Ihr die Ihr geliebt und verloren habt – deren einziger Trost gewesen ist an andre Welten über diese hinaus zu glauben – könnt Ihr Euch unwillig von meiner Frage abwenden? Könnt Ihr wahrheitsgemäß sagen, dass Ihr nicht auch einmal so gefragt habt?