Kleine Novellen

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Nr. 3.
Thomas Outwater, Diener des Hauptmanns Stanwick, bezeugt und sagt aus:

»Wenn ich nicht fest glaubte, dass mein Herr den Verstand verloren habe, so würde keine noch so hohe Strafe mich dazu bringen, das von ihm auszusagen, was ich jetzt zu sagen im Begriffe bin. Aber ich versichere, er ist wahnsinnig und deswegen nicht für das verantwortlich, was er getan hat, — wahnsinnig aus Liebe zu einem Mädchen. Wenn ich es könnte, würde ich diesem Frauenzimmer den Hals umdrehen, obgleich es eine vornehme Dame und noch dazu eine reiche Erbin ist. Ehe sie ihnen begegnete, lebten mein Herr und Herr Varleigh zusammen wie Brüder. Ihretwegen entzweiten sie sich, und ob sie dies beabsichtigte oder nicht, ist mir ganz einerlei. Ich gestehe, dass sie mir zuwider war, sobald ich sie zum ersten Mal sah. Sie war eine von jenen blauäugigen Blondinen mit unschuldigem Blicke und schlanker Taille, auf die man aber, wie ich gefunden habe, sich durchaus nicht verlassen kann.

Ich höre, dass man nicht von mir verlangt, über die zwischen den beiden Herren entstandenen Misshelligkeiten Auskunft zu geben, deren Ursache diese Dame war. Ich soll nur erzählen, was ich zu Maplesworth tat und was ich nachher im Hernewald sah. So arm ich auch bin, ich würde jedem eine Fünf-Pfund-Note geben, der dies für mich tun könnte. Unglücklicherweise muss ich es aber selbst tun.

Am zehnten Juli abends ging mein Herr zum zweiten Mal an jenem Tage in Herrn Varleighs Wohnung. Ich bin im Datum sicher, da es der Tag der Ausgabe der Stadtzeitung war und in ihr sich ein Bericht über eine gerichtliche Verhandlung befand, die das allgemeine Gerede veranlasste. Es hatte nämlich ein oder zwei Tage vorher zwischen einem Eingeborenen der Stadt und einem Touristen ein Duell auf Pistolen stattgefunden, das durch irgendeinen Wortwechsel über Pferde veranlasst worden war. Dieser Zweikampf hatte keine besonders ernsten Folgen. Einer der Männer nur war verletzt worden, und es ergab sich, dass die Wunde von keiner Bedeutung war. Die unangenehme Seite der Sache war vielmehr die, dass die Schutzleute auf dem Platze erschienen, ehe noch der Verwundete weggeschafft worden war. Dieser und seine beiden Sekundanten wurden festgenommen und dem Gericht zur Einleitung einer Untersuchung übergeben. Die Richter erklärten, dass das Duell eine unmenschliche und unchristliche Tat sei, und es wurde beschlossen, das Gesetz in Kraft treten zu lassen und diese Ausschreitung zu verhindern. Dieses Urteil machte viel Aufsehen in der Stadt und prägte das Datum, wie gesagt, meinem Gedächtnis ein. Da ich zufällig von einem Wortwechsel zwischen meinem Herrn und Herrn Varleigh über Fräulein Laroche gehört hatte, hatte ich Besorgnis wegen des zweiten Besuchs des Hauptmanns bei seinem Freunde, mit dem er schon vorher Streit gehabt hatte. Ein Herr sprach bald, nachdem er ausgegangen war, bei ihm vor. Dies gab mir einen Vorwand, ihm mit der mir übergebenen Karte nach Herrn Varleighs Wohnung zu folgen, und ich benutzte diese Gelegenheit.

Ich hörte sie bei meinem Gange die Treppe hinauf heftige Worte miteinander wechseln und wartete einen Augenblick auf dem Vorplatze. Der Hauptmann war in einem seiner wütenden Zornesausbrüche. Herr Varleigh dagegen blieb wie immer kaltblütig und fest. Nachdem ich etwa eine Minute gelauscht hatte, hörte ich meiner Meinung nach genug, um meinen Eintritt in das Zimmer zu rechtfertigen. Ich traf meinen Herrn, wie er gerade seinen Rohrstock erhob und Herrn Varleigh zu schlagen drohte. Er ließ augenblicklich den Arm sinken und wandte sich wegen meiner Zudringlichkeit wütend gegen mich. Ich nahm von seinem Aufbrausen keine Notiz, gab ihm die Karte seines Freundes und ging wieder hinaus. Es folgte noch ein Gespräch zwischen beiden, aber es wurde so leise geführt, dass ich es draußen nicht verstehen konnte. Und dann näherte sich der Hauptmann der Tür. Ich ging ihm aus dem Wege, in großer Unruhe über das, was demnächst kommen musste. Ich konnte es nicht wagen, Herrn Varleigh zu fragen. Das einzige, woran ich denken konnte, war, der Tante der jungen Dame zu sagen, was ich gesehen und gehört hatte, und Fräulein Laroche selbst zu bitten, zwischen beiden Frieden zu stiften. Als ich nach den Damen in ihrer Wohnung fragte, wurde mir gesagt, dass sie Maplesworth verlassen hätten.

In dieser Nacht sah ich den Hauptmann nicht mehr. Am nächsten Morgen schien er wieder ganz bei Besinnung zu sein. Er sagte zu mir: »Thomas, ich will im Hernewald Skizzen aufnehmen. Nimm den Malkasten und das übrige, und bringe dies hier in den Wagen.«

Er händigte mir ein Paket aus, das so dick wie mein Arm, etwa drei Fuß lang und mehrfach in Segeltuch eingeschlagen war. Ich erlaubte mir zu fragen, was dies sei. Er antwortete, es sei ein Malerschirm für die Aufnahme von Skizzen und für die Reise gepackt.

In einer Stunde hielt der Wagen auf der Landstraße unterhalb des Hernewaldes. Mein Herr sagte mir, er wolle seine Malutensilien selbst tragen und ich sollte bei dem Wagen warten. Als ich ihm den vermeintlichen Schirm gab, benutzte ich die Gelegenheit, da sein Blick für einen Augenblick von mir weggewendet war, meine Hand behutsam über das Paket gleiten zu lassen, und ich fühlte durch das Segeltuch hindurch den Griff eines Degens. Als alter Soldat konnte ich mich nicht irren — es war der Griff eines Degens.

Was ich dachte, als ich diese Entdeckung machte, ist nicht besonders wichtig. Was ich tat, war, den Hauptmann auf seinem Gange in den Wald zu beobachten und ihm dann zu folgen. Ich folgte ihm längs des Pfades bis dahin, wo sich in der Mitte der Bäume eine Lichtung befand. Dort blieb er stehen, und ich begab mich hinter einen Baum. Er nahm das Segeltuch auseinander und zog zwei Degen heraus, die in dem Paket verborgen waren. Wenn ich vorher noch irgendwelche Zweifel gehabt hätte, jetzt war ich sicher über das, was nun kommen musste. Ein Duell ohne Sekundanten oder Zeugen, indem man die Beamten der Stadt in Unkenntnis hielt — ein Duell zwischen meinem Herrn und Herrn Varleigh! Sowie ich an diesen Namen dachte, erschien der Mann selbst, der seinen Weg in die Lichtung von der anderen Seite des Waldes her nahm.

Was konnte ich tun, um die Sache zu verhindern? Kein menschliches Wesen war zu sehen. Das nächste Dorf war, wenn man von der entferntesten Seite des Waldes an rechnete, eine Meile entfernt; der Kutscher war ein alter, geistig beschränkter Mann und in einer Schwierigkeit wie der gegenwärtigen ganz unbrauchbar; selbst wenn ich Zeit genug gehabt hätte, nach der Landstraße zurückzukehren und ihn um Hilfe anzurufen. Während ich noch hierüber nachdachte, hatten der Hauptmann und Herr Varleigh sich ihrer Kleider entledigt. Als sie ihre Degen kreuzten, konnte ich es nicht länger aushalten — ich sprang auf sie los. »Beim allmächtigen Gott, meine Herren,« rief ich, »schlagen Sie sich nicht ohne Sekundanten!«

Mein Herr wandte sich wie ein Wahnsinniger nach mir um und bedrohte mich mit der Spitze seines Degens. Herr Varleigh zog mich gewaltsam aus dem Bereich der Gefahr. »Seien Sie unbesorgt,« flüsterte er mir zu, als er mich nach dem Rande der Lichtung zurückführte, »ich habe absichtlich den Degen anstatt der Pistole gewählt, um sein Leben zu schonen.« Diese ernsten Worte beruhigten mich, denn sie wurden von einem Mann gesprochen, der so brav und ehrlich war, wie je einer lebte. Ich wusste, dass Herr Varleigh sich den Ruf erworben hatte, einer der geschicktesten Fechter Europas zu sein.

Das Duell nahm seinen Anfang. Ich stellte mich hinter meinen Herrn und befand mich also seinem Gegner gegenüber. Der Hauptmann hielt sich in der Defensive und wartete auf den Angriff seines Gegners. Herr Varleigh führte einen Stoß gegen ihn. Ich stand der Spitze seines Degens gegenüber und sah, wie diese des Hauptmanns linke Schulter berührte. In demselben Augenblicke schlug mein Herr den Degen seines Gegners mit seiner eignen Waffe in die Höhe, ergriff mit seiner linken Hand Herrn Varleighs rechtes Handgelenk und durchbohrte mit seinem Degen vollständig dessen Brust. Varleigh fiel als das Opfer eines mörderischen Kniffes — er fiel ohne ein Wort zu sagen oder einen Schrei auszustoßen.

Der Hauptmann wendete sich langsam um und sah mich an, indem er seinen blutigen Degen in der Hand hielt. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie er aussah; ich kann nur sagen, dass sein Anblick mich vor Schrecken fast in Ohnmacht fallen ließ. Ich war bei Waterloo dabei, ich bin kein Feigling. Aber ich sage Ihnen, dass mir der kalte Schweiß wie Wasser vom Gesicht strömte. Ich würde hingesunken sein, wenn ich mich nicht an einem Baumast gehalten hätte.

Mein Herr wartete, bis ich mich einigermaßen wieder erholt hatte. »Fühle, ob sein Herz noch schlägt,« sagte er, indem er nach dem Mann auf dem Boden zeigte.

Ich gehorchte. Er war tot — das Herz stand still, der Pulsschlag hatte aufgehört. Ich sagte: »Sie haben ihn getötet.«

Der Hauptmann antwortete nicht. Er packte die beiden Degen wieder in das Segeltuch und nahm sie unter den Arm. Alsdann befahl er mir, ihm mit den Malgeräten zu folgen. Ich zog mich vor ihm zurück, ohne etwas zu sagen; es war ein grässlicher hohler Ton in seiner Stimme, der mir zuwider war. »Tue wie ich dir sage,« sprach er. »Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, das es mir nicht einfällt, Sie jetzt aus dem Gesicht zu verlieren,« dachte ich, ersparte es ihm aber zu sagen, damit er mir vertrauen möchte, dass ich von dem Vorfalle nichts verlauten lasse. Aber er schien mir nicht zu trauen; er streckte seine Hand aus, um mich zu fassen. Ich konnte dies nicht ertragen. »Ich will mit Ihnen gehen,« sagte ich; »rühren Sie mich nicht an!« Wir erreichten den Wagen und kehrten nach Maplesworth zurück. An demselben Tage noch reisten wir mit der Post nach London.

In London gelang es mir, dem Hauptmann zu entschlüpfen. Am nächsten Morgen ging ich mit der ersten Postkutsche nach Maplesworth zurück, begierig zu erfahren, was sich etwa weiter zugetragen habe und ob der Leichnam gefunden worden sei. Nicht die geringste Nachricht kam mir zu Gehör; nichts schien von dem Duell im Hernewald bekannt zu sein.

 

Ich ging in den Wald —- und zwar zu Fuß, da ich fürchtete, dass man mir folge, wenn ich einen Wagen mietete. Die Gegend ringsum war so einsam wie gewöhnlich. Nicht ein lebendes Wesen war in der Nähe, als ich in den Wald trat; nicht ein lebendes Wesen war nahe, als ich auf die Lichtung blickte. Dort lag nichts mehr auf dem Boden. Der Leichnam war fort.

Nr. 4.
Seine Ehrwürden, der Pfarrer Alfred Loring von Nettlegrove, bezeugt und sagt aus:
I.

Anfangs Oktober des Jahres 1817 wurde mir mitgeteilt, das Fräulein Bertha Laroche in meinem Hause vorgesprochen und den Wunsch geäußert habe, mich in einer Privatangelegenheit zu sprechen. Ich war Fräulein Laroche zuerst bei der Ankunft mit ihrer Tante vorgestellt worden, als sie von ihrem Eigentum in Nettlegrove Hall Besitz ergreifen wollte. Die späteren Gelegenheiten, diese Bekanntschaft mit ihr zu erneuern und weiter zu pflegen, waren nicht so zahlreich gewesen, als ich dies gewünscht hätte, und ich bedauerte dies aufrichtig. Sie hatte einen sehr günstigen Eindruck auf mich gemacht. Außerordentlich unerfahren und leicht erregbar, mit einer seltsamen Mischung von Schüchternheit und Lebhaftigkeit in ihrem Benehmen und dann und wann plötzlichen Anwandlungen der Eitelkeit und des Mutwillens unterworfen, die sie zum Ergötzen anderer nicht verbergen konnte, waren doch unter diesen Äußerlichkeiten die Zeichen eines echten und edlen Gemütes, eines einfachen und lauteren Herzens wahrzunehmen. Ihre persönliche Erscheinung war, wie ich hinzufügen möchte, in hohem Grade anziehend. Es lag in jener etwas so Eigentümliches und zu gleicher Zeit etwas so Bezauberndes, dass ich meine Voreingenommenheit für sie nur zugestehen will. Um aber nicht missverstanden zu werden, will ich hinzufügen, dass ich alt genug bin, um ihr Großvater zu sein und dass ich überdies ein verheirateter Mann bin.

Ich befahl dem Diener, Fräulein Laroche in mein Studierzimmer zu führen.

Als sie eintrat, erschreckte mich ihr Aussehen; ihr Gesicht war wirklich von Schrecken erfüllt. Ich erbot mich, meine Frau kommen zu lassen, sie lehnte aber mein Anerbieten ab. Ich drang dann in sie, sich doch wenigstens so lange Zeit zu nehmen, bis sie sich beruhigt hätte. Es war ihrer erregten Natur nicht gegeben, dies zu tun. Sie sagte: »Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich sprechen, so lange ich kann.« Ich reichte der Armen die Hand: ,,Sprechen Sie mit mir, meine Teure, als wenn ich Ihr Vater wäre.«

Soweit ich die unzusammenhängende Darstellung, die mir gegeben wurde, verstehen konnte, war sie, während sie Maplesworth besuchte, gleichzeitig von zwei Herren umworben worden, welche beide sie zu heiraten wünschten. Da sie in ihrer Wahl schwankte und überdies in solchen Dingen ganz unerfahren war, so war sie unglücklicherweise die Ursache der Feindschaft zwischen den Nebenbuhlern geworden, und war auf den Rat ihrer Tante nach Nettlegrove zurückgekehrt, das beste Mittel, sich aus ihrer peinlichen Lage zu befreien. Aber auch dieses Mittel vermochte nicht, die schmerzlichen Erinnerungen an das Vorgefallene zu verwischen, und sie hatte daher mit ihrer Tante ein weiteres Mittel versucht, indem sie eine zweimonatliche Reise auf das Festland unternahmen. Von dieser Reise war sie in einer ruhigeren Gemütsverfassung zurückgekehrt. Zu ihrer größten Überraschung hatte sie aber von dem Tage an, wo sie Maplesworth verließ, bis zu dem Tage, an dem sie sich bei mir einfand, von keinem ihrer beiden Freier wieder etwas gehört.

In der Frühe dieses Morgens spazierte sie nach dem Frühstück in dem Parke von Nettlegrove, als sie Tritte hinter sich hörte. Sie wandte sich um und sah sich einem ihrer Verehrer aus Maplesworth gegenüber. Man hat mir gesagt, dass kein Grund vorliege, dessen Namen jetzt noch zu verschweigen. Es war Hauptmann Stanwick.

Er hatte sich so schrecklich verändert, dass sie ihn kaum wiedererkannte.

Nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, hielt er die Hand über seine blutunterlaufenen Augen, als wenn ihnen das Sonnenlicht wehe tue. Ohne sie vorher durch ein Wort auf die Mitteilung vorzubereiten, gestand er, Herrn Varleigh in einem Duelle getötet zu haben. Gewissensbisse hätten, so bekannte er, seinen Verstand verwirrt und erst vor einigen Tagen sei er aus dem Irrenhause entlassen worden. »Sie sind die Ursache davon,« rief er wild. »Aus Liebe zu Ihnen habe ich es getan. Ich habe nur noch eine Hoffnung im Leben — meine Hoffnung auf Sie. Wenn Sie mich von sich weisen, so ist mein Entschluss gefasst. Ich will mein Leben für das hingeben, das ich geraubt habe; ich will durch meine eigene Hand sterben. Sehen Sie mich an, und Sie werden finden, dass ich im Ernste rede. Mein ferneres Leben hängt von Ihrer Entscheidung ab. Überlegen Sie sich dies heute, und kommen Sie morgen wieder zu mir hierher. Aber nicht zu dieser Stunde, das schreckliche Tageslicht empfinde ich wie Feuer in meinen Augen, und wie Feuer durchdringt es mein Gehirn. Warten Sie bis zum Sonnenuntergange — Sie werden mich hier finden.«

Er verließ sie ebenso plötzlich, wie er erschienen war. Als sie sich soweit wieder erholt hatte, dass sie eines Gedankens fähig war, entschloss sie sich, ihrer Tante nichts von dem zu sagen, was sich zugetragen hatte. Sie nahm vielmehr ihren Weg nach dem Pfarrhause, um bei mir Rat zu suchen.

Es ist unnötig, meine Erzählung mit der Angabe von Fragen zu belasten, die ich unter diesen Umständen an sie zu richten für meine Pflicht hielt.

Auf meine Fragen erfuhr ich, dass Hauptmann Stanwick zuerst einen günstigen Eindruck auf sie gemacht habe, dass sie aber später an den weniger glänzenden Eigenschaften Herrn Varleighs größeres Gefallen gefunden habe, zumal da ihr die heftige Sprache und das ungestüme Benehmen zuwider war, das Stanwick zeigte, als er vermuten konnte, dass ihm sein Mitbewerber vorgezogen werde.

Als sie die schreckliche Nachricht von Varleighs Tod erfuhr, »erkannte sie« — ich wiederhole ihre eignen Worte — »ihr Herz« an dem Schlage, den sie fühlte. Hauptmann Stanwick gegenüber hatte sie dagegen unwillkürlich nur ein Gefühl des größten Abscheus. Mein Verhalten schien mir in dieser schwierigen und schmerzlichen Angelegenheit deutlich vorgezeichnet zu sein.

»Ihre Pflicht als Christin ist es, diesen Unglücklichen nochmals aufzusuchen,« sagte ich, »und meine Pflicht als Ihr Freund und Seelsorger ist es, Ihnen in dieser Prüfungsstunde zur Seite zu stehen. Ich will morgen mit Ihnen an den Ort der Zusammenkunft gehen.«

II.

Am nächsten Abend trafen wir Hauptmann Stanwick im Parke auf uns warten.

Er zog sich zurück, als er meiner ansichtig wurde. Ich erklärte ihm ruhig und bestimmt, welchen Standpunkt ich in der Sache einnehme. Mit finsteren Blicken ergab er sich darein, meine Anwesenheit zu dulden. Allmählich gewann ich sein Vertrauen. Der erste Eindruck, den ich von ihm erhielt, blieb unerschüttert — der Verstand des Mannes war verwirrt. Ich vermutete, dass seine Angabe von der Freilassung aus dem Irrenhause unwahr sei, und dass er in Wirklichkeit aus dem Asyl entwichen war. Es war unmöglich, aus ihm herauszubringen, in welcher Anstalt er gewesen war. Er war zu schlau, um dies zu sagen — zu schlau, um irgendetwas über seine Verwandten anzugeben, als ich zunächst versuchte, das Gespräch auf diese zu lenken. Auf der anderen Seite sprach er mit einer empörenden Leichtfertigkeit von dem Verbrechen, das er begangen hatte, und von seinem bestimmten Entschlusse, sich das Leben zu nehmen, wenn Fräulein Laroche es ablehne, seine Frau zu werden. »Ich habe sonst nichts, was mich an das Leben fesselt; ich stehe allein in der Welt,« sagte er. »Selbst mein Diener hat mich verlassen. Er weiß, wie ich Lionel Varleigh getötet habe.« Stanwick machte eine Pause und sprach dann die weiteren Worte flüsternd zu mir: »Ich tötete ihn durch einen Kniff – er war der bessere Fechter von uns beiden.«

Dieses Geständnis war so entsetzlich, dass ich es nur der Täuschung eines Wahnsinnigen zuschreiben konnte. Als ich mit weiteren Fragen in ihn drang, fand ich, dass auf denselben Gedanken auch die Verwandten des Unglücklichen und die Ärzte gekommen sein mussten, die ein Gutachten ausgestellt hatten, dass er unter ärztliche Obhut zu nehmen sei. Wie ich nachher hörte, war diese Ansicht besonders auf die Tatsache gestützt worden, dass Varleighs Leichnam auf dem bezeichneten Schauplatze des Zweikampfes nicht gefunden worden war. Was den Diener anbetrifft, so hatte er seinen Herrn in London verlassen und war nicht wieder zurückgekehrt. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung war die vorliegende Frage nicht die, ob ein sich selbst anklagender Mörder dem Gericht überliefert werden sollte, da ja ein Leichnam zum Zeugnis gegen ihn nicht vorhanden war, sondern die, ob ein Wahnsinniger wieder in die Obhut derjenigen Leute zurückzubringen sei, die ihn in Verwahrung zu halten hatten.

Ich versuchte, die Größe seines Wahnsinns in einem Augenblicke zu prüfen, da er es unterließ, Fräulein Laroche mit seinen Anträgen zu belästigen.

»Wie können Sie wissen, dass Sie Herrn Varleigh getötet haben?« fragte ich.

Er blickte mich mit wildem Entsetzen in den Augen an. Plötzlich hob er die rechte Hand empor und schüttelte sie in der Luft, indem er einen kläglichen Ton ausstieß, der unverkennbar ein Schmerzensschrei war. »Würde ich seinen Geist sehen,« sagte er, »wenn ich ihn nicht getötet hätte? Ich merke es an dem Schmerze, der die Hand quält, die ihn erstach. Immer in der rechten Hand! Immer denselben Schmerz in dem Augenblicke, wenn ich ihn sehe!« Er hielt inne und knirschte in der Qual des wirklichen Wahnsinns mit den Zähnen. »Sehen Sie!« rief er. »Dort zwischen den beiden Bäumen hinter Ihnen! Dort ist er — mit seinem schwarzen Haar und seinem glattrasierten Gesicht und seinem starren Blick! Dort steht er vor mir, wie er im Walde vor mir stand, seine Augen auf die meinigen gerichtet, indem sein Degen den meinigen berührte.« Er wandte sich zu Fräulein Laroche »Sehen Sie ihn auch?« fragte er hastig. »Sagen Sie mir die Wahrheit. Mein ganzes Leben hängt davon ab, dass Sie mir die Wahrheit sagen.« Sie beherrschte sich mit erstaunlichem Mute. »Ich sehe ihn nicht,« antwortete sie.

Er nahm sein Taschentuch heraus und fuhr damit über das Gesicht, indem er erleichtert aufatmete. »Dies ist meine letzte Hoffnung!« sagte er. »Wenn sie mir treu sein wird, wenn sie mir immer nahe sein wird, morgens, mittags, abends, so werde ich von seinem Anblick befreit sein. Sehen Sie! Er verschwindet schon. Er ist fort!« rief er mit einem Freudenschrei. Er fiel auf die Knie und blickte Fräulein Laroche wie ein Wilder an, der zu seinem Götzenbild betet. »Wollen Sie mich jetzt von sich weisen?« fragte er demütig. »Lionel liebte Sie in seinem Leben, und sein Geist ist ein barmherziger Geist. Er will Sie nicht erschrecken; er hat mich um Ihretwillen verlassen; er wird mich um Ihretwillen freigeben. Haben Sie Erbarmen mit mir, nehmen Sie mich auf, damit ich mit Ihnen lebe – und ich werde ihn nie wiedersehen.«

Es war schrecklich, ihn reden zu hören. Ich sah, dass das arme Mädchen dies nicht länger ertragen konnte. »Verlassen Sie uns,« flüsterte ich ihr zu; »ich werde Sie zu Hause wieder treffen.« Er hörte dies und trat sofort zwischen uns. »Sie soll mir ein Versprechen geben, sonst lasse ich sie nicht weggehen.« Fräulein Laroche fühlte wie ich die gebieterische Notwendigkeit, etwas zu sagen, was ihn besänftigen konnte. Auf ein Zeichen von mir gab sie das Versprechen, wieder zu kommen.

Er war befriedigt und bestand darauf, ihr die Hand zu küssen; dann ließ er sie gehen. Es war mir damit gelungen, ihn zu bewegen, dass er mir vertraute. Er schlug mir unaufgefordert vor, ihn nach dem Wirtshause im Dorfe zu begleiten, wo er sich aufgehalten hatte. Der Wirt, der seinem unglücklichen Gast selbstverständlich nicht traute, hatte ihn diesen Morgen aufgefordert, sich irgendein anderes Unterkommen zu suchen. Ich übernahm es, durch meinen Einfluss auf den Mann ihn zu bestimmen, von seinem Vorhaben abzustehen, und ich setzte auch die notwendigen Anordnungen durch, dass nach dem armen Mann gehörig gesehen werde. Nach meiner Rückkehr nach Hause schrieb ich sodann an einen Amtsbruder in meiner Nähe und an den Direktor der Provinzial-Irrenanstalt, die ich beide ersuchte, mit mir über die beste Art zu beraten, um Hauptmann Stanwick auf gesetzlich zulässige Weise so lange in Verwahrung zu halten, bis wir uns mit seinen Verwandten in Verbindung gesetzt hätten.

 

Konnte ich mehr als dies tun? Das Ereignis des nächsten Morgens beantwortete diese Frage — beantwortete sie sogleich und für immer.