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John Jagos Geist

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Zehntes Capitel.
Der Sheriff und der Gefängnisdirektor

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Die Frage der Zeit war jetzt eine sehr ernste auf Morwick Farm. In sechs Wochen sollten die Assisen in Narrabee beginnen. Während dieser Periode ereignete sich nichts Neues von Wichtigkeit. Wir erhielten ein Menge müßiger Zuschriften in Bezug auf den John Jago betreffenden Aufruf, aber keine positive Nachricht. Nicht die leiseste Spur des Vermissten kam zum Vorschein und Niemand bezweifelte die Behauptung der Anklage, daß sein Körper in dem Kalkofen vernichtet worden sei. Silas Meadowcroft hielt an dem entsetzlichen Bekenntnis, welches er abgelegt, unerschütterlich fest, wogegen sein Bruder Ambrosius mit gleicher Entschlossenheit seine Unschuld behauptete und die Aussage wiederholte, die er bereits gemacht hatte.

Ich begleitete Naomi in regelmäßigen Zwischenräumen zu ihm ins Gefängnis. Als der Tag herannahte, an dem der Prozess beginnen sollte, schien er in seiner Entschlossenheit etwas schwankend zu werden. Sein Wesen wurde ruhelos und er zeigte sich bei der geringsten Veranlassung verletzt und argwöhnisch. Diese Wandlung deutete nicht notwendig ein.Schuldbewusstsein an; sie konnte auch die Wirkung der sehr natürlichen nervösen Aufregung beim Herannahen des Prozesses sein. Auch Naomi bemerkte die Veränderung ihres Verlobten, wodurch ihre Angst zwar gesteigert, aber ihr Vertrauen zu ihm in keiner Weise erschüttert wurde. Außer während der Mahlzeiten, war ich in der Zeit, von der ich jetzt schreibe, fast beständig allein mit der reizenden Amerikanerin.

Miß Meadowcroft forschte in den Zeitungen nach Nachrichten über John Jago in der Einsamkeit ihres Zimmers; Mr. Meadowcroft wollte Niemand sehen als seine Tochter, seinen Arzt und hier und da einen alten Freund. Ich bin später zu der Überzeugung gekommen, daß Naomi in jenen Tagen unseres vertrauten Verkehrs die wahre Natur der Gefühle entdeckte, welche sie mir einflößte. Aber sie behielt ihr Geheimnis für sich; ihr Benehmen gegen mich blieb beständig das einer Schwester und sie überschritt niemals auch nur um ein Haar breit die sichere Grenze eines geschwisterlichen Verhältnisses

Die Gerichtssitzungen nahmen ihren Anfang. Nach dem Zeugenverhör und der Prüfung von Silas Bekenntnis hielten die Geschworenen die Anklage gegen beide Gefangenen aufrecht. Der zum Beginn des Prozesses angesetzte Tag war der erste der folgenden Woche.

Ich hatte Naomi auf die Entscheidung der Jury sorglich vorbereitet und sie trug den neuen Schlag mit Fassung.

»Wenn es Ihnen noch nicht zuwider ist, so kommen Sie morgen mit mir ins Gefängnis.« sagte sie. »Ambrosius wird ein wenig Trost bedürfen.« Sie machte eine Pause und sah die neu eingelaufenen Briefe durch, welche auf dem Tisch lagen. »Noch immer keine Kunde von Jago,« sprach sie weiter. »Und alle Zeitungen haben die Bekanntmachung abgedruckt. Ich war so fest überzeugt, daß wir sofort von ihm hören würden.«

»Sind Sie noch sicher, daß er lebt?« wagte ich zu fragen.

»Ich bin dessen ebenso sicher wie vorher, « gab sie mit Entschiedenheit zur Antwort. »Er hält sich irgend wo versteckt – oder vielleicht geht er verkleidet herum. Wenn wir nun beim Beginn des Prozesses nichts mehr als jetzt von ihm wissen? – Wenn die Jury s—« Sie hielt schaudernd inne. Der Tod – der schmachvolle Tod auf dem Schafott – konnte die fürchterliche Folge des Urteilsspruchs der Geschworenen sein. »Wir haben lange genug auf Nachricht gewartet,« nahm Naomi wieder das Wort. »Wir müssen jetzt die Spur John Jagos selber suchen.. Wir haben noch eine Woche, ehe der Prozess beginnt. Wer will mir helfen nach ihm zu forschen? Wollen Sie es sein, Freund Lefrank?«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich dazu bereit war, wenn ich auch nichts davon erwartete.

Wir kamen überein, noch denselben Tag um Einlass in das Gefängnis nachzusuchen und sobald wir Ambrosius gesprochen, uns gleich an die beabsichtigten Nachforschungen zu machen.Wie diese Nachforschungen anzustellen wären, war mehr als ich und Naomi sagen konnten.Wir wollten damit beginnen, daß wir uns an die Polizei wandten, damit sie uns helfe John Jago ausfindig zu machen, und das weitere wollten mir den Umständen überlassen. Gab es jemals ein hoffnungsloseres Programm als dieses?

Gleich zu Anfang erklärten sich die Umstände gegen uns. Ich suchte wie gewöhnlich um die Erlaubnis nach, den Gefangenen zu sehen, und zum ersten Male ward dieselbe verweigert, ohne daß uns von der betreffenden Behörde ein Grund dafür angegeben wurde. So viel ich auch fragen mochte, die einzige Antwort, die ich erhielt. war: »Nicht heute.«

Auf Naomis Vorschlag gingen wir nach dem Gefängnis, um dort die Aufklärung zu erlangen, welche uns auf dem Bureau verweigert wurde. Der Schließer, welcher heut an dem äußern Thor die Wache hatte, gehörte zu Naomis zahlreichen Bewunderern. Er löste uns das Rätsel in vorsichtigem Geflüster. Der Sheriff und der Direktor des Gefängnisses hatten eben eine geheime Unterredung mit Ambrosius in dessen Zelle; sie hatten ausdrücklich befohlen, daß Niemand außer ihnen den Gefangenen heute sprechen dürfe.

Was bedeutete das? Verwundert kehrten wir nach der Farm zurück. Hier machte Naomi gewisse Entdeckungen, als sie zufällig mit einer der Mägde darüber sprach.

Früh Morgens hatte ein alter Freund der Familie den Sheriff nach Morwick Farm gebracht und der Beamte hatte mit Mr. Meadowcroft und dessen Tochter eine lange Unterredung gehabt. Von der Farm war der Sheriff direkt nach dem Gefängnis gegangen und mit dem Direktor zusammen in die Zelle des Gefangenen. Hatte man Ambrosius irgend wie heimlich beeinflussen wollen? Der äußere Anschein erregte unwillkürlich diesen Verdacht.Vorausgesetzt daß wirklich eine Beeinflussung stattgefunden, so war die nächste Frage: was hatte man dadurch bezweckt? Wir konnten nichts tun als abwarten.

Unsere Ungeduld wurde bald befriedigt.

Die Begebenheiten des folgenden Tages klärten uns in sehr unerwarteter Weise auf. Ehe noch die Sonne im Mittag stand, brachten die Nachbarn erstaunliche Neuigkeiten vom Gefängnis nach der Farm. Ambrosius Meadowcroft hatte sich selbst des an John Jago verübten Mordes schuldig bekannt! Er hatte das Geständnis in Gegenwart, des Sheriffs und des Direktors selbigen Tages unterzeichnet.

Ich sah das Dokument. Es ist unnötig, es hier wieder zu geben. Ambrosius bestätigte, in der Hauptsache, was Silas ausgesagt hatte, behauptete jedoch, von Jago zu dem Schlage gereizt worden zu sein, so daß sein Vergehen gegen das Gesetz nicht Mord, sondern Totschlag gewesen wäre. Schilderte sein Bekenntnis wirklich den wahren Hergang der Szene am Kalkofen, oder hatte der Gefängnisdirektor Ambrosius im Interesse der Familie dieses verzweifelte Mittel an die Hand gegeben, um dem schmachvollen Tode auf dem Schafott zu entrinnen? Der Sheriff sowie der Direktor bewahrten undurchdringlich.es Schweigen, bis sie bei den Verhandlungen, gesetzlich aufgefordert, zu sprechen genötigt waren.

Wer sollte Naomi das Letzte und Traurigste, was über sie hereingebrochen, mitteilen? Mit der heimlichen Liebe für sie im Herzen, fühlte ich ein unbesiegbares Widerstreben Derjenige zu sein, der Ambrosius Meadowcrofts Gemeinheit seiner Verlobten hinterbrachte. Hatte ihr irgend ein anderes Mitglied der Familie mitgeteilt, was sich zugetragen? Der Verteidiger konnte meine Frage beantworten – Miß Meadowcroft hatte es ihr gesagt.

Ich war empört, als ich es hörte. Miß Meadowcroft war die Letzte im Hause, dem armen Mädchen eine solche Nachricht mit Schonung mitzuteilen, sie hatte sie sicher doppelt schrecklich gemacht, durch die Art wie sie sie vorgetragen. Ich suchte Naomi überall vergebens. Sonst war sie stets für mich dagewesen; verbarg sie sich jetzt vor mir? Der Gedanke kam mir unwillkürlich, als ich, nach. dem ich vergebens an ihre Tür geklopft hatte, die Treppe herunter stieg.. Ich war entschlossen sie zu sehen, wartete einige Minuten und ging dann wieder hinauf. Oben angelangt, begegnete ich ihr, wie sie gerade aus ihrem Zimmer trat.

Sie wollte wieder zurück., aber ich fasste sie am Arm und hielt sie fest. Mit ihrer freien Hand bedeckte sie sich das Gesicht mit dem Taschentuch, damit ich es nicht sehen sollte.

»Sie sagten früher einmal, ich hätte Sie getröstet,« sprach ich in sanftem Ton. »Wollen Sie mir nicht gestatten Sie, auch jetzt zu trösten?«

Sie machte die heftigsten Anstrengungen, um los zu kommen und hielt den Kopf noch immer von mir abgewandt.

»Sehen Sie nicht, daß ich mich schäme, Ihnen ins Gesicht zu sehen?« sagte sie leise und stockend. »Lassen Sie mich gehen.«

Aber ich beharrte bei dem Versuch sie zu beruhigen. Ich zog sie nach dem Fenstersitz und sagte, daß ich warten wolle, bis sie im Stande sei, mit mir zu reden.

Sie ließ sich auf den Sitz nieder und rang die Hände in ihrem Schoß. Ihre zu Boden gesenkten Blicke vermieden es noch immer hartnäckig den meinigen zu begegnen.

»O,« rief sie, »welcher Wahn hat mich verblendet! Ist es möglich, daß ich mich jemals so erniedrigt habe, Ambrosius zu lieben?« Sie schauderte, als sie den Gedanken laut aussprach und die Tränen rollten ihr langsam über die Wangen.. »Verachten Sie mich nicht, Mr. Lefrank,« setzte sie leise hinzu.

Ich bemühte mich ehrlich, ihr das Geständnis in dem wenigst ungünstigen Lichte zu zeigen.

»Seine Widerstandskraft ist zu Ende gewesen, « sagte ich. »Er hat es getan, weil er daran verzweifelte, seine Unschuld zu beweisen – und aus Furcht vor dem Schafott.«

Sie stand aus und stampfte zornig mit dem Fuß, während ihr Gesicht vor Scham erglühte und große Tränen in ihren Augen blitzten.

»Nicht weiter von ihm!« rief sie streng. »Wenn er kein Mörder ist, so ist er doch ein Lügner und eine Memme! Als was macht er mir die meiste Schande? Ich habe mit ihm für immer gebrochen und niemals soll sein Name wieder über meine Lippen kommen!« Dabei schob sie mich heftig von sich und machte einige Schritte nach ihrer Tür, blieb dann aber stehen und kam zurück. Die edelmütige Natur des Mädchens sprach sich in den Worten aus, die sie darauf zu mir sagte. »Ich vergesse nicht, was Sie für mich getan haben, Freund Lefrank. Aber eine Frau in meiner Lage ist vor allen Dingen Frau; und wenn sie so beschämt ist wie ich es bin, so empfindet sie das sehr bitter. Geben Sie mir Ihre Hand. Gott sei mit Ihnen!« Damit küsste sie meine Hand, ehe ich es verhindern konnte und verschwand in ihrem Zimmer.

 

Ich setzte mich auf den Platz, den sie eben inne gehabt, und dachte an den Blick, mit welchem sie mich flüchtig angesehen., als sie meine Hand geküsst hatte. Ich vergaß darüber Ambrosius und sein Bekenntnis; ich vergaß den nahen Prozess, meine amtlichen Pflichten und meine Freunde in England. Da saß ich in meinem von mir selbst geschaffenen Narrenparadies, ohne irgend eine andere Vorstellung in meinem Geiste, als Naomis Gesicht indem Augenblicke, als sie mich zuletzt angesehen hatte.

Elftes Capitel.
Der Kieselstein und das Fenster

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Miß Meadowcroft und ich waren die einzigen, welche die Familie von der Farm bei dem Prozesse repräsentierten, aber jedes von uns begab sich auf eigene Hand nach Narrabee. Außer dem gewöhnlichen Morgen. und Abendgruß hatte Miß Meadowcroft kein Wort zu mir gesprochen, seit ich ihr damals gesagt, daß ich nicht glaubte, John Jago sei noch unter den Lebenden.

Ich habe absichtlich meine Erzählung von juristischen Details frei zu halten gesucht und will auch jetzt nur in aller Kürze die Art der Verteidigung angeben.

Wir bestanden darauf, daß beide Gefangene für »Nichtschuldig« planierten. Darauf griffen wir die Gesetzmäßigkeit des eingeleiteten Verfahrens an und appellierten an das alte Englische Gesetz, dem zufolge der Mord nicht eher angenommen werden kann, als bis der Leichnam des Ermordeten gefunden oder der unzweifelhafte Beweis seiner Vernichtung beigebracht worden ist. Wir leugneten, daß in diesem Fall ein solcher Beweis vorhanden wäre.

Die Richter hielten eine Beratung und entschieden, daß der Prozess vor sich gehen sollte.

Zunächst opponierten wir wieder, als die Geständnisse als Beweisstücke beigebracht wurden.Wir behaupteten, daß sie mittels Erregung von Furcht oder anderer unstatthafter Beeinflussung erpresst worden seien und zeigten, daß die beiden Aussagen in kleineren Nebenumständen der Übereinstimmung ermangelten. Im Übrigen war unsere Verteidigung, was die Hauptsache betraf, dieselbe wie bei dem Verhör vor dem Untersuchungsrichter. Noch einmal traten die Richter zu einer Beratung zusammen und wieder wurde unser Einwand verworfen. Die Geständnisse wurden als Beweismaterial zugelassen.

Die Anklage produzierte ihrerseits einen neuen Zeugen zur Unterstützung ihrer Sache.Es ist unnötig, die Aussage desselben zu wiederholen Er widersprach sich gröblich beidem Kreuzverhör und wir zeigten deutlich, daß auf seinen Eid nichts zu geben sei.

Der Präsident summierte.

Er räumte ein, daß auf ein durch Furcht oder Hoffnung abgerungenes Bekenntnis kein Gewicht gelegt werden könnte und stellte es den Geschworenen anheim zu entscheiden, ob in diesem Falle die Bekenntnisse unter einem solchen Druck erfolgt seien. Im Laufe der Verhandlung war von der Verteidigung bewiesen worden, daß der Sheriff und der Gefängnisdirektor Ambrosius mit Wissen und Zustimmung von dessen Vater mitgeteilt hätten, daß die Sache sehr schlimm für ihn stände, – daß die einzige Chance, seiner Familie die Schmach seines Todes durch Henkershand zu ersparen, das Ablegen eines Geständnisses sei und daß, wenn er gestanden, sie ihr Möglichstes tun wollten, sein Todesurteil in lebenslängliche Deportation zu verwandeln. Was Silas betraf, so war es bewiesen, daß er seiner Sinne vor Schreck nicht mächtig gewesen, als er die Infamie begangen hatte, den Mord auf seinen Bruder zu wälzen. Wir hatten umsonst gehofft, daß diese beiden Punkte den Gerichtshof bewegen würden, die Bekenntnisse zu verwerfen und wir sollten noch weiter enttäuscht werden in der Erwartung, daß diese selben Punkte das Verdikt der Geschworenen im Sinne der Gnade beeinflussen würden. Nachdem sie eine Stunde lang beraten, kehrten sie in den Gerichtssaal zurück und sprachen das »Schuldig« gegen beide Angeklagte aus..

Als diese der üblichen Form nach gefragt wurden, ob sie gegen diesen Ausspruch etwas einzuwenden hätten, erklärten Ambrosius und Silas feierlich ihre Unschuld und behaupteten öffentlich, daß ihre beiderseitigen Geständnisse durch die Hoffnung ihnen abgerungen worden, dadurch der Hand des Henkers zu entgehen. Der Gerichtshof nahm von dieser Erklärung keine weitere Notiz und die Angeklagten wurden beide zum Tode verurteilt.

Als ich nach der Farm zurückkehrte, konnte ich nirgends Naomi entdecken. Miß Meadowcroft teilte ihr den Ausgang des Prozesses mit.

Eine halbe Stunde darauf brachte mir eine der Mägde ein Couvert, auf welchem mein Name in der Handschrift Naomis stand. In dem Couvert stack ein Brief nebst einem Papierschnitzel, auf welchen Naomi die Worte geschrieben hatte: »Lesen Sie um Gottes Willen den beifolgenden Brief und tun Sie sofort die nötigen Schritte.«

Ich riss den Brief auf. Er sollte von einem Gentleman in New-York geschrieben sein.

Erst am vorhergehenden Tage, hieß es darin, hätte der Schreiber ganz zufällig bei einem Freunde das Avertissement, John Jago betreffend, aus einem Zeitungsblatt ausgeschnitten in ein Kuriositätenbuch eingeklebt gesehen. In Folge dessen schrieb er nach Morwick Farm, um die Mitteilung zu machen, daß er einen Mann gesehen hätte, welcher vollkommen der gegebenen Beschreibung entspräche, aber einen andern Namen trüge und als Commis in eitlem Comptoir in Jersey City arbeitete. Da er vor Abgang der Post noch Zeit gehabt hätte, wäre er nach dem Comptoir zurückgegangen, um sich den Mann nochmals anzusehen, ehe er seinen Brief abschickte. Zu seinem Erstaunen hätte er erfahren, daß der Commis heute nicht an seinem Pulte erschienen wäre. Sein Prinzipal hätte nach seiner Wohnung geschickt und von hier die Nachricht erhalten, daß er plötzlich nach dem Frühstück, bei welchem er die Zeitung gelesen, seine Reisetasche gepackt, seine Miete bezahlt und auf und davon gegangen wäre, Niemand wüßte wohin.

Es war spät Abends, als ich diese Zeilen las. Ich hatte daher Zeit darüber nachzudenken, bevor irgend etwas geschehen konnte. «

Angenommen, daß der Brief keine Mystifikation und Naomis Erklärung des Motivs, aus welchem John Jago die Farm heimlich verlassen, die richtige sei, so war es, wie ich mir sagen mußte, zweckmäßig, die Nachforschungen nach ihm auf Narrabee und die Umgegend zu beschränken.

Die Zeitung, die er beim Frühstück gelesen, hatte ihn ohne Zweifel zuerst von der Anklage, und dem Prozess, welcher folgen sollte, in Kenntnis gesetzt. Nach den Erfahrungen, welche ich über die menschliche Natur gesammelt, durfte ich annehmen, daß er unter diesen Umständen und von seiner Leidenschaft für Naomi getrieben, sich nach Narrabee zurück wagen würde. Noch mehr. Es entsprach wiederum meinen Erfahrungen, wie ich leider bekennen muß, daß er den Versuch machen würde, Ambrosius kritische Lage zu benützen, um Naomi zu einer günstigeren Aufnahme seiner Liebeswerbung zu zwingen. Seine heimliche Entfernung von der Farm hatte bereits zur Genüge dargethan, daß er gegen das etwaige Unheil, welches daraus entstehen konnte, vollständig gleichgültig gewesen. Es war ihm daher sehr wohl zu.zutrauen, daß er in seiner Gefühlsrohheit soweit gehen würde, sich Naomi heimlich wieder zu nähern und ihr die Annahme seiner Handels den Preis zu bestimmen, um welchen er das Leben ihres Vetters zu retten bereit wäre.

Zu diesem Schlusse gelangte ich nach langem Nachdenken. Um Naomis willen war ich entschlossen, die Sache aufzuklären, wenn.gleich meine Zweifel darüber, daß John Jago.noch am Leben sei, auch durch den Brief keinen Augenblick erschüttert worden waren. Ich hielt ihn für nichts mehr und nichts weniger als eine alberne herzlose Posse.

Das Schlagen der großen Uhr in der Halle weckte mich aus meinem Nachdenken Ich zählte die Schläge. Mitternacht.

Ich stand auf, um mich nach meinem Zimmer zu begeben. Alle Übrigen auf der Farm hatten sich wie gewöhnlich schon vor länger als einer Stunde zu Bett verfügt. Im Hause herrschte eine atemlose Stille. trat unwillkürlich leise auf, als ich durch die Stube ging, um in die Nacht hinaus zusehen. Ein klarer Mondschein begegnete meinem Blick – ein Mondschein wie an dem verhängnisvollen Abend, als Naomi und John Jago im Garten ein Rendezvous gehabt hatten.

Mein Licht stand auf einem Seitentisch und ich hatte es eben angezündet und war im Begriff das Zimmer zu verlassen, als sich die Tür öffnete und Naomi in eigener Person vor mir stand.

Als ich mich von der ersten Überraschung über ihre plötzliche Erscheinung erholt hatte, sah ich sofort an ihrem erregten Blick und der Totenblässe ihrer Wangen, daß sich etwas Ernstes zugetragen hatte. Sie war in einen weiten Mantel gehüllt, um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geknüpft. Ihr Haar war in Unordnung, sie war offenbar eben in Schreck und Hast aus dem Bette auf.gesprungen.

»Was ist geschehen?« fragte ich, indem ich ihr entgegen schritt.

Sie klammerte sich vor Aufregung zitternd an meinen Arm.

»John Jago!« wisperte sie.

«Ich glaubte natürlich, daß sie geträumt hätte.

»Wo?« fragte ich.

»Im Hinterhof unter meinem Fenster,« erwiderte sie.

Es handelte sich um viel zu ernste Dinge, als daß wir an die Beobachtung kleinlicher Anstandsrücksichten hätten denken sollen.

»Lassen Sie mich ihn sehen,« sagte ich.

»Ich komme ja eben, um Sie zu holen, « antwortete sie in ihrer offenen unbefangenen Art.

»Kommen Sie mit mir hinauf.«

Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock und war das einzige Zimmer, welches nach hinten hinaus ging. Auf dem Wege dahin erzählte Sie mir, was sich ereignet hatte.

»Ich war schon zu Bett gegangen, schlief aber noch nicht, als ich einen Stein gegen mein Fenster klirren hörte. Ich horchte auf.Abermals wurde ein Stein an das Glas geworfen. Ich war erst überrascht, aber noch keineswegs erschreckt. Ich stand auf und lief ans Fenster, um zu sehen, was es gäbe. Da sah ich John Jago im Mondschein stehen und zu mir herauf starren.

»Sah er Sie?«

»Ja. Er sagte, ich möchte herunterkommen, er hätte mir etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Antworteten Sie ihm?«

»Sobald ich zu Atem kommen konnte, sagte ich, er sollte einen Augenblick warten und dann stürzte ich zu Ihnen hinunter. Was soll ich tun?«

»Ich will ihn erst sehen, dann werde ich es Ihnen sagen.«

Wir traten in ihr Zimmer. Hinter den Gardinen vorsichtig versteckt blickte ich hinaus.

Da stand er wirklich. Backen. und Schnurrbart waren abgeschoren, die Haare kurz geschnitten. Aber die wilden braunen Augen und die eigentümlichen Bewegungen seiner dürren hageren Gestalt, die mich sofort wieder frappierten, als er Naomi erwartend, langsam auf- und ab zu gehen begann, hatte er durch nichts verändern können. Im ersten Augenblick wurde ich fast von meiner eigenen Aufregung überwältigt, nachdem ich so fest geglaubt, daß John Jago zu den Toten gehörte.

»Was soll ich tun?« wiederholte Naomi.

»Ist die Tür der Milchkammer offen?« fragte ich.

.Nein. Ader der Holzstall um die Ecke ist unverschlossen.«

»Gut. Zeigen Sie sich am Fenster und sagen Sie: Ich komme gleich.«

Das beherzte Mädchen tat wie ich ihr sagte, ohne sich einen Augenblick zu bedenken.

Wenn über seine Augen und seinen Gang kein Zweifel obgewaltet, so war es auch unzweifelhaft seine Stimme, als er von unten herauf rief:

»Sie werden mir eine Gunst erweisen!«

»Halten Sie ihn im Gespräch auf der Stelle fest, wo er jetzt steht, bis ich Zeit gehabt habe, auf dem anderen Wege nach dem Holzstall zu gelangen. Dann tun Sie, als ob Sie von der Milchkammer her entdeckt zu werden fürchteten und bringen Sie ihn um die Ecke, damit ich ihn hinter der Tür hören kann.«

Wir verließen zusammen das Haus und trennten uns schweigend. Naomi befolgte meine Instruktionen mit der schnellen weiblichen Auffassungsgabe, wo es sich um eine Kriegslist handelt. Ich war kaum eine Minute im Holzstall gewesen, als ich auch schon Naomi an der Außenseite der Tür sprechen hörte.

Die ersten Worte, welche ich deutlich vernahm, bezogen sich auf das Motiv, aus welchem er die Farm heimlich verlassen hatte. Doppelt verletzter Stolz – einmal durch Naomis verächtliche Zurückweisung und dann durch die persönlichen Insulte, die er durch Ambrosius erfahren, – war die Ursache. Er gab zu, daß er den öffentlichen Aufruf gelesen, und daß es ihn nur noch mehr in seinem Entschluss befestigt hätte, sich versteckt zu halten.

 

»Nachdem ich verlacht, insultirt und zurückgewiesen worden,« sagte der Nichtswürdige, »war es eine Genugtuung für mich zu wissen, daß gewisse Leute hier ernstlichen Grund hätten, mich zurück zu wünschen Es hängt von Ihnen ab, Miß Naomi, mich fest zu halten und mich zur Rettung Ambrosius zu bewegen, indem ich mich öffentlich zeige.«

»Was meinen Sie damit?« hörte ich Naomi in strengem Tone fragen.

Er senkte die Stimme, aber ich konnte ihn trotzdem verstehen.

»Versprechen Sie mir, mich zu heiraten.« sagte er, »und ich gehe morgen auf die Polizei und beweise ihr, daß ich mich am Leben befinde.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»In diesem Fall werde ich wieder verschwinden, und Niemand soll mich finden, bis Ambrosius gehenkt ist.«

»Wären Sie wirklich Schurke genug, das zu tun, John Jago?« fragte das Mädchen.ihre Stimme erhebend.

»Wenn Sie versuchen Lärm zu machen, « antwortete er, »so wahr als ein Gott über uns ist, Sie sollen meine Hand an Ihrer Kehle fühlen. Die Reihe ist jetzt an mir, Miß, und ich bin nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt. Wollen Sie mich heiraten, – ja oder nein?«

»Nein!« antwortete sie laut und fest

Ich stieß die Türe aus und packte ihn im.Augenblick, als er die Hand gegen sie aufhob. Er hatte nicht an zerrütteten Nerven, wie ich, gelitten und war der Stärkere von uns beiden. Naomi rettete mir das Leben. Sie schlug ihm die Pistole aufwärts, die er mit seiner freien Hand aus der Tasche zog und auf mich anlegte.Die Kugel ging in die Luft. Im selben Augenblick stellte ich ihm ein Bein. Der Schuß hatte das ganze Haus aus dem Schlafe geweckt und bis Hilfe kam, hielten wir beide ihn am Boden nieder.