Free

Eine verhangnisvolle Erbschaft

Text
iOSAndroidWindows Phone
Where should the link to the app be sent?
Do not close this window until you have entered the code on your mobile device
RetryLink sent

At the request of the copyright holder, this book is not available to be downloaded as a file.

However, you can read it in our mobile apps (even offline) and online on the LitRes website

Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

Vierzehn Tage später begannen mein Vater und mein Bruder die tägliche Gesellschaft unseres neuen Freundes als eine alte Gewohnheit in ihrem Leben zu betrachten. Weitere zwei Wochen später waren Mr. Cameron und ich- obwohl keiner von uns wagte, es einzugestehen – so hingebungsvoll ineinander verliebt, wie es junge Menschen nur sein konnten. Ach, was für eine herrliche Zeit! und wie grausam unser Glück bald ein Ende fand!

Während der kurzen Zeit, die ich hier beschrieben habe, beobachtete ich gewisse Eigenheiten in Roland Camerons Verhalten, welche mich verblüfften und beunruhigten, sobald ich mich in meinen Gedanken mit ihm beschäftigte, wenn ich allein war.

Zum Beispiel verfiel er in seltsames Schweigen, wenn er und ich miteinander sprachen. Während dieser Momente nahmen seine Augen einen müden, abwesenden Blick ein, und seine Gedanken schienen wegzuwandern – weit von der Unterhaltung, weit von mir. Er war sich seiner eigenen Krankheit absolut nicht bewußt, er fiel unbewußt in sie und kam unbewußt aus ihr heraus. Wenn ich ihm gegenüber bemerkte, daß er mir nicht zugehört hatte oder wenn ich ihn fragte, warum er still gewesen war, konnte er überhaupt nicht verstehen, was ich meinte: ich verwirrte und beunruhigte ihn. Was er in diesen Schweigepausen dachte, war mir unmöglich zu erraten. Sein Gesicht, das zu anderen Zeiten außergewöhnlich beweglich und ausdrucksvoll war, wurde fast zu einem vollkommenen Nichts. Litt er an einem fürchterlichen Schicksalsschlag in einer vergangenen Zeit seines Lebens und war sein Geist nie davon befreit worden? Ich sehnte mich danach, ihm die Frage zu stellen und schreckte davor zurück, ich hatte so erbärmliche Angst, ihn zu quälen; oder um es in schlichtere Worte zu kleiden, ich war so wahrhaftig und zärtlich in ihn verliebt.

Dann wiederum, obwohl er gewöhnlich, wie ich aufrichtig glaube, der liebenswürdigste und reizendste Mensch war, gab es Gelegenheiten, wenn er mich mit heftigen Gefühlsausbrüchen überraschte, erregt von den reinsten Kleinigkeiten. Ein Hund, der plötzlich dicht hinter ihm bellte, oder ein Junge, der Steine auf die Straße warf, oder ein aufdringlicher Ladenbesitzer, der versuchte, ihm etwas zu verkaufen, was er nicht wollte, warfen ihn in eine wilde Raserei, die, ohne zu übertreiben, wirklich furchtbar anzusehen war. Er entschuldigte sich immer für diese Ausbrüche, in Worten, die zeigten, daß er sich aufrichtig für seine eigene Heftigkeit schämte. Aber er war nie darin erfolgreich, sich zu kontrollieren. Die Ausbrüche in diese Leidenschaft ergriffen ebenso wie die Ausbrüche in Schweigen Besitz von ihm, und taten mit ihm fürs erste gerade, was sie wollten.

Noch ein weiteres Beispiel für Rolands Eigentümlichkeiten und ich bin fertig. Das Merkwürdige in seinem Verhalten wurden von meinem Vater und meinem Bruder in diesem Fall ebenso wie von mir bemerkt.

Wenn Roland abends bei uns war, egal ob er zum Dinner oder zum Tee kam, er verließ uns ausnahmslos um genau neun Uhr. Was wir auch versuchten, ihn zu überreden, länger zu bleiben, er lehnte immer höflich, aber bestimmt ab. Nicht einmal ich hatte in dieser Angelegenheit Einflußauf ihn. Wenn ich ihn drängte, zu bleiben und obwohl es ihn Mühe kostete, zog er sich exakt zum neunten Glockenschlag zurück. Er nannte keinen Grund für dieses seltsame Verfahren; er sagte nur, daß es eine seiner Gewohnheiten war und bat uns, darin mit ihm nachsichtig zu sein, ohne daß wir nach einer Erklärung verlangten. Meinem Vater und meinem Bruder gelang es (als Männer), ihre Neugier zu kontrollieren. Mich für meinen Teil (als Frau) machte jeder Tag, der vorüberging, mehr und mehr begierig darauf, dieses Geheimnis zu durchdringen. Ich entschloß mich heimlich, eine Zeit zu wählen, wenn Roland in einer teilweise zugänglichen Stimmung war und ihn dann um die Erklärung zu bitten, die er bisher abgelehnt hatte zu geben – zum Zeichen einer besonderen Zuneigung zu mir.

Zwei Tage später hatte ich meine Gelegenheit.

Ein paar unserer Freunde, die sich uns in Eastbourne angeschlossen hatten, schlugen eine Picknickparty auf dem berühmten benachbarten Felsen namens Beachey Head vor. Wir nahmen die Einladung an. Der Tag war schön und das ländliche Dinner war wie gewöhnlich einem Dinner innerhalb des Hauses (in gewisser Hinsicht) unendlich vorzuziehen. Gegen Abend teilte sich unsere kleine Versammlung in Gruppen von zwei und drei Personen, um die Umgebung zu erkunden. Roland und ich fanden selbstverständlich zusammen. Wir waren glücklich und wir waren allein. War es die richtige oder die falsche Zeit, ihm die unheilvolle Frage zu stellen ? Ich kann es nicht entscheiden; ich weiß nur, daß ich sie stellte.

Kapitel 3

"Mr. Cameron", sagte ich, "werden Sie auf eine schwache Frau Rücksicht nehmen und mir etwas erzählen, das ich schrecklich gern wissen würde?"

Er tappte geradewegs in die Falle mit dieser vollständigen Abwesenheit von Schlagfertigkeit oder von geringstem Argwohn (Ich überlasse es Dir, den richtigen Ausdruck zu wählen), die so oft männlich, und so selten weiblich ist.

"Natürlich werde ich das", antwortete er.

"Dann erzählen Sie mir," fuhr ich fort, "warum Sie immer darauf bestehen, uns um neun Uhr zu verlassen?"

Er erschrak und schaute mich so traurig und so vorwurfsvoll an, daßich alles, was ich besaß, gegeben hätte, um die unbesonnen Worte zurückzurufen, die eben über meine Lippen gekommen waren.

"Wenn ich es Ihnen erzähle," antwortete er, nachdem er einen Augenblick mit sich gekämpft hatte, "darf ich Ihnen zuerst eine Frage stellen, und werden Sie mir versprechen, sie zu beantworten?"

Ich gab ihm mein Versprechen und wartete gespannt darauf, was als nächstes kommen würde.

"Miss Brading", sagte er, "seien Sie ehrlich, denken Sie, ich bin verrückt?"

Es war unmöglich, ihn auszulachen: er sprach diese seltsamen Worte ernst – finster möchte ich fast sagen.

"Kein solcher Gedanke ist mir jemals in den Sinn gekommen.", antwortete ich.

Er sah mich sehr ernst an.

"Sie geben mir Ihr Ehrenwort darauf?"

"Mein Ehrenwort."

Ich antwortete mit vollkommener Aufrichtigkeit und ich stellte ihn offensichtlich dahingehend zufrieden, daß ich die Wahrheit gesprochen hatte. Er nahm meine Hand und führte sie dankbar an seine Lippen.

"Danke," sagte er einfach. "Sie ermutigen mich, Ihnen eine sehr traurige Geschichte zu erzählen."

"Ihre eigene Geschichte?" fragte ich.

"Ja, meine eigene Geschichte. Lassen Sie mich damit beginnen, wieso ich darauf bestehe, Ihr Haus immer zur selben Zeit zu verlassen. Immer wenn ich ausgehe, bin ich an ein Versprechen zu der Person gebunden, mit der ich in Eastbourne zusammenlebe, und zwar um viertel nach neun zurückzukehren."

"Die Person, mit der Sie zusammenleben?" wiederholte ich. "Sie leben in einer Herberge, nicht wahr?"

"Ich lebe, Miss Brading, unter der Fürsorge eines Doktors, der ein Heim für Geisteskranke führt. Er hat sich ein Haus für seine wohlhabenderen Patienten an der Küste gekauft; und er erlaubt mir tagsüber Freiheit, unter der Bedingung, daß ich mein Versprechen abends treu erfülle. Es ist eine Viertelstunde Fußmarsch von Ihrem Haus zu dem des Doktors, und es ist eine Regel, daß die Patienten sich um halb zehn zurückziehen."

Hier war also das Geheimnis, welches mich arg bestürzte, als es endlich gelüftet wurde! Die Enthüllung verschlug mir die Sprache. Unbewußt und instinktiv trat ich ein paar Schritte von ihm zurück. Er starrte mit seinen traurigen Augen mit einem ergreifenden Blick des Flehens auf mich.

"Schleichen Sie sich nicht davon", sagte er. "Sie denken nicht, daßich verrückt bin."

Ich war zu verwirrt und beunruhigt, um das Richtige zu sagen, und gleichzeitig hatte ich ihn zu gern, um auf seine Bitte nicht zu antworten. Ich nahm seine Hand und drückte sie schweigend. Er wendete seinen Kopf für einen Augenblick ab. Ich glaubte, eine Träne auf seiner Wange zu sehen. Ich fühlte seine Hand, die sich zitternd um meine schloß. Er beherrschte sich mit einer überraschenden Entschlossenheit; er sprach mit vollkommener Ruhe, als er mich wieder ansah.

"Wollen Sie meine Geschichte erfahren," fragte er, "nach dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe?"

"Ich bin begierig darauf, sie zu hören", antwortete ich, "Sie wissen nicht, wieviel Mitgefühl ich für Sie habe. Ich bin zu bekümmert, um mich in Worten ausdrücken zu können."

"Sie sind die freundlichste und liebenswürdigste Frau, die es gibt!", sagte er mit größter Inbrunst und gleichzeitig mit dem äußersten Respekt.