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Die Blinde

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Lucilla hatte mich, die Wahrheit zu gestehen, mit ihrer Hoffnung angesteckt, das geographische Wörterbuch könne uns vielleicht behilflich sein, die merkwürdige Frage des Fremden in Betreff des 3ten vorigen Monats und seine sonderbare Behauptung, daß ich ihn durch meine auf ihn gerichteten Blicke betrübt habe, zu erklären. Zwischen der Amme, die sich außer Athem gelaufen hatte und Lucilla, die vor gespannter Aufmerksamkeit nicht zu athmen wagte, sitzend, schlug ich in dem Wörterbuche den Buchstaben auf und las laut das Folgende vor:

Exeter. Stadt und Seehafen in Devonshire. Ehemals der Sitz der westfählischen Könige. Hat einen bedeutenden Handel, sowohl im In- wie im Auslande. Einwohnerzahl 33738. Die Assisen für Devonshire finden im Frühjahr und Sommer statt.«

»Und was kommt dann weiter?« fragte Lucilla erwartungsvoll.

Ich schloß das Buch und antwortete wie der Junge, der mich hergefahren hatte, mit drei einsilbigen Worten: »Sonst nichts mehr!«

Fünftes Kapitel.
Der Mann bei Kerzenlicht

Es war dunkel geworden, daß ich kaum noch lesen konnte. Zillah zündete die Kerzen an und zog die Fenstervorhänge zu. Tiefes Schweigen, welches einer gründlichen Enttäuschung zu folgen pflegt, herrschte im Zimmer.

»Wer mag er nur sein?« wiederholte Lucilla nun wohl zum hundertsten Male. »Und wieso kann Ihr Blick ihn betrübt haben? Sinnen Sie doch nach, Madame Pratolungo!«

Der letzte Satz in dem Artikel,,Exeter« präoccupirte mich ein wenig wegen des darin enthaltenen Wortes »Assisen«. Als Lucilla ihre Aufforderung, meine Devinitionsgabe anzustrengen, an mich richtete, hatte ich wieder eine andere Inspiration. Ich rieth auf der Stelle, der Fremde sei ein interessanter Verbrechen der entflohen sei, um der Verurtheilung durch die Assisen zu entgehen.

Die würdige alte Zillah sprang auf, überzeugt, daß ich mit meiner Annahme den Nagel aus den Kopf getroffen habe. »Gott steh’ uns bei!« rief die Alte. »Ich habe die Gartenthür nicht zugeriegelt!«

Sie rannte zum Zimmer hinaus, um uns, ehe es zu spät wäre, vor Raub und Mord zu schützen. Ich sah Lucilla an. Sie saß in ihrem Stuhle zurück gelehnt, mit einem verächtlichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. »Madame Pratolungo,« sagte sie, »eben haben Sie zum ersten Male, seit Sie hier sind etwas Thörichtes gesprochen.«

»Nicht so rasch, wenn ich bitten darf, liebes Fräulein,« erwiderte ich. »Sie haben erklärt, daß nichts über diesen Mann bekannt sei. Nun, damit meinen Sie, nichts, was Sie befriedigt. Er ist doch vermuthlich nicht vom Himmel gefallen? Der Zeitpunkt, in welchem er hierher gekommen ist, muß doch bekannt sein. Und ebenso, ob er allein oder in Gesellschaft hergekommen ist. Ferner, wie und wo er eine Wohnung im Dorfe gefunden hat. Bevor ich zugeben kann, daß ich mit meiner Vermuthung auf ganz falscher Fährte bin, muß ich hören, was die Leute in Dimchurch bis jetzt über diesen Mann in Erfahrung gebracht haben. Wie lange ist er schon hier?«

Lucilla schien sich anfänglich wenig für die rein praktische Auffassung der Frage, wie ich sie eben entwickelt hatte, zu interessieren.

»Er ist jetzt seit einer Woche hier,« warf sie nach lässig hin.

»Kam er, wie ich, über die Hügel her?«

»Ja.«

»Natürlich mit einem Führer?«

Bei dieser Frage richtete sich Lucilla plötzlich in ihrem Stuhle auf. »Mit seinem Bruder« antwortete sie. »Mit seinem Zwillingsbruder, Madame Pratolungo.

Jetzt richtete auch ich mich in meinem Stuhle auf .

Das Auftreten feines Zwillingsbruders in der Geschichte war schon an und für sich eine Verwickelung. Da waren also zwei entwichene Verbrecher statt eines!

»Wie fanden sie den Weg hierher? war meine nächste Frage.

»Das weiß niemand.«

»Wohin gingen sie zunächst, als sie herkamen?«

»In die »Gute Hand,« das kleine Wirthshaus im Dorfe. Der Wirth erzählte Zillah, die beiden Herren sähen sich merkwürdig ähnlich. Es sei unmöglich, sie von einander zu unterscheiden, die Aehnlichkeit sei selbst für Zwillinge erstaunlich. Sie kamen früh Morgens an, als die Schenkstube noch leer war und hatten eine lange vertrauliche Unterhaltung mit einander. Als diese vorüber war, klingelten sie dem Wirth und fragten ihn, ob er ein Schlafzimmer im Hause übrig habe. Sie werden selbst gesehen haben, daß die »Gute Hand« nur eine Bierschenke ist. Der Wirth hatte ein Zimmer übrig, ein elendes Stübchen, das kein Schlafzimmer für einen Gentleman war. Einer der Brüder miethete gleichwohl das Zimmer.«

»Und was wurde aus dem anderen Bruder?«

»Der ging noch an demselben Tage sehr ungern fort. Sie nahmen den zärtlichsten Abschied von einander. Der Bruder, welcher heute Abend mit uns gesprochen hat, bestand auf der Abreise des Anderen, sonst würde ihn dieser nicht verlassen haben. Sie vergossen beide Thränen —«.

»Sie haben noch etwas Schlimmeres gethan,« sagte die alte Zillah, die in diesem Augenblicke wieder ins Zimmer trat. »Ich habe unten alle Thüren und Fenster festgeschlossen. Er kann jetzt nicht hinein, liebes Kind, wenn er es auch versucht..

»Wieso haben sie denn noch etwas Schlimmeres gethan?« fragte ich.

»Sie haben sich geküßt,« sagte Zillah mit dem Ausdruck des tiefsten Widerwillens.

»Vielleicht sind es Fremde?« schlug ich vor. »Haben sie ihre Namen genannt?«

»Der Wirth fragte den Zurückbleibenden nach seinem Namen,« erwiderte Lucilla. »Er nannte sich »Dubourg«.

Diese Antwort bestärkte mich in meiner Vermuthung »Dubourg« ist in Frankreich ein so gewöhnlicher Name wie »Jones« oder »Thompson« in England. Gerade so ein Name, wie ihn ein Mann, der nicht gekannt sein will, sich bei uns beilegen würde. Sollte dieser Verbrecher ein Landsmann von mir sein? Nein, er hatte durchaus nicht mit fremdem Accent, sondern das reinste Englisch gesprochen; darüber konnte kein Zweifel obwalten. Und doch hatte er sich einen französischen Namen gegeben. Sollte er sich damit absichtlich einer Insulte gegen meine Nation schuldig gemacht haben? Ja, nicht damit zufrieden, sich mit unzähligen Verbrechen befleckt zu haben, hatte er dem Register seiner Scheußlichkeiten noch eine Insulte gegen meine Nation hinzugefügt?

»Nun?« nahm ich wieder auf. »Wir haben diesen unentdeckten Spitzbuben allein im Wirthshaus gelassen, ist er noch dort?«

»Wo denken Sie hin!« rief die alte Amme. »Er hat sich hier in der Gegend häuslich niedergelassen; er hat Browndown gemiethet!«

Ich wandte mich gegen Lucilla. »Browndown gehört doch jemandem,« sagte ich, indem ich es wagte, wieder eine Vermuthung auszusprechen. »Halt es denn jemand vermiethet, ohne sich nach dem Miether zu erkundigen?«

»Browndown gehört einem Herrn in Brighton,« antwortete Lucilla. »Und der Herr wurde wegen Auskunft über den Miether an ein wohlbekanntes Haus in London, eine der großen kaufmännischen Firmen in der City verwiesen. Daran knüpft sich der unerklärlichste Punkt des ganzen Geheimnisses. Der Chef des Londoner Hauses erklärte: »Ich kenne Herrn Dubourg seit meiner Kindheit. Er hat seine Gründe, zu wünschen, in der größten Zurückgezogenheit zu leben. Ich stehe dafür, daß er ein ehrenwerther Mann ist, dem Sie ruhig Ihr Haus vermiethen können. Mehr darf ich Ihnen nicht mittheilen.« Mein Vater kennt den Eigenthümer von Browndown und dieser hat ihm die erhaltene Auskunft wörtlich so mitgetheilt. Ist das nicht eigenthümlich? Am nächsten Tage wurde ihm das Haus auf sechs Monate vermiethet. Es ist elend meublirt. Herr Dubourg hat sich verschiedene Sachen von Brighton kommen lassen. Außer dem Mobiliar ist heute noch eine Kiste aus London in dem Hause angekommen die so fest vernagelt war, daß nach dem Zimmermann geschickt werden mußte, um sie zu öffnen. Der Zimmermann berichtete, daß die Kiste mit dünnen goldenen und silbernen Platten angefüllt sei und daß sich dabei noch ein Kasten mit eigenthümlichen Werkzeugen befände, deren Gebrauch dem Zimmermann völlig unbekannt sei. Herr Dubourg verschloß diese Dinge in ein an der Rückseite des Hauses gelegenes Zimmer und steckte den Schlüssel in die Tasche; Er schien vergnügt; er pfiff ein Lied und sagte: »Nun wird die Sache gehen!« Das wissen wir von der Wirthin in der »Guten Hand«. Sie kocht ihm das Essen und ihre Tochter hält ihm das Haus in Ordnung. Sie gehen Morgens zu ihm und kehren Abends wieder nach ihrem Hause zurück. Er hat weiter keine Bedienung bei sich. Nachts ist er ganz allein. Ist das nicht interessant? Ein Geheimmniß mitten im alltäglichen Leben, es intriguirt Jedermann.«

»Sie müssen hier sonderbare Leute sein, mein liebes Kind,« erwiderte ich, »in einem so einfachen Fall, wie diesem, etwas Geheimnißvolles zu finden«

»Einfach?« erwiderte Lucilla außer sich vor Erstaunen.

»Unzweifelhaft führt Alles, die Gold: und Silber Platten die eigenthümlichen Werkzeuge, das zurückgezogene Leben und das Nachhauseschicken der Dienstboten am Abend, zu demselben Schluß. Meine Vermuthung ist richtig; der Mann ist ein entlaufener Verbrecher und sein Verbrechen besteht in Falschmünzerei. Man ist ihm in Exeter auf die Spur gekommen er hat sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen gewußt und er will hier wieder von Frischem anfangen. Sie können ja thun, was Ihnen gefällt. Wenn ich einmal kleine Münze brauchen sollte, so würde ich mich hüten sie mir hier in der Gegend zu verschaffen«

Lucilla lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück Es war klar, daß sie mich in Betreff f des Herrn Dubourg für ebenso böswillig, wie unverbesserlich auf falscher Fährte wähnte.

»Ein Falschmünzer, den der Chef eines der ersten Handlungshäuser in London für seinen ehrenwerthen Mann erklärt,« rief sie aus. »Wir Engländer sind gelegentlich sehr excentrisch, aber unsere nationale Verrücktheit hat doch ihre Grenzen, Madame Pratolungo, und Sie haben mit Ihrer Annahme diese Grenzen bereits überschritten. Wollen wir ein wenig musiciren?«

Sie sagte das in einem etwas empfindlichen Tone. Herr Dubourg war der Held ihres Romans Jeder von mir gemachte Versuch, ihn in ihrer Achtung herab zusetzen war ihr empfindlich. Gleichwohl beharrte ich bei meiner ungünstigen Meinung von ihm. Bei unserer Meinungsverschiedenheit handelte es sich, wie ich es ihr hätte sagen können, um die Frage, ob der Londoner Kaufmann Glauben verdiene oder nicht. Nach ihrer Ansicht bot sein Reichthum eine genügende Gewähr für seine Redlichkeit. Nach meiner gut socialistischen Ansicht sprach gerade dieser Umstand entschieden gegen ihn. Kapitalist und Falschmünzer, beide sind jeder in seiner Art Räuber. Ob der Kapitalist den Falschmünzer oder der Falschmünzer den Kapitalisten empfiehlt, gilt mir ganz gleich. In beiden Fällen sind, wie es in einem englischen Stück vortrefflich heißt, die Ehrlichen das weiche behagliche Kissen, auf welchem diese Spitzbuben sich ausruhen und mästen. Ich stand im Begriff, Lucilla diese meine weitere und liberalere Auffassung des Gegenstandes mitzutheilen. Aber ach! Es war nur zu klar, daß das arme Kind von den beschränkten Vorurtheilen der Gesellschaft, in welcher sie lebte, angesteckt war. Wie sollte ich mich am ersten Tage unseres Beisammenseins der Gefahr einer Veruneinigung aussetzen? Nein, das durfte nicht geschehen! Ich gab dem allerliebsten hübschen, blinden Mädchen einen Kuß; wir gingen zusammen nach dem Klavier und ich verschob den Versuch, aus Lucilla eine gute Socialistin zu machen, auf eine passendere Gelegenheit. Wir hätten das Klavier ebenso gut uneröffnet lassen können. Es wollte mit der Musik durch aus nicht gehen. Ich spielte so gut ich konnte, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin. Sie hörte mir mit dem besten Willen, Vergnügen daran zu finden, zu; sie dankte mir zu wiederholten Malen; sie versuchte es, auf meine Bitte selbst zu spielen und wählte die ihr vertrauten Compositionen, welche sie auswendig wußte. Vergebens! Der abscheuliche Dubourg, der ihr ganzes Interesse in Anspruch genommen hatte, war nicht zu verdrängen. Sie versuchte und versuchte, aber es wollte nicht gehen. Seine Stimme klang ihr noch in den Ohren und das war die einzige Musik, für welche sie diesen Abend Sinn hatte. Ich setzte mich wieder ans Klavier und fing noch einmal an zu spielen. Plötzlich schlug sie mir die Hände von den Tasten und sagte flüsternd: »Ist Zillah hier?« Ich sagte ihr, daß Zillah das Zimmer verlassen habe. Da legte sie ihr reizendes Köpfchen auf meine Schulter, seufzte krampfhaft und brach in die Worte aus: »Ich kann nicht anders, ich muß fortwährend an ihn denken. Zum ersten Male in meinem Leben fühle ich mich unglücklich! nein – glücklich! O, was müssen Sie von mir denken! Ich weiß nicht, was ich rede. Warum ermuthigten Sie ihn, mit uns zu sprechen? Ohne Sie hätte ich vielleicht nie seine Stimme gehört.« Sie richtete sich mit einem kleinen Schauer wieder auf und beruhigte sich. Mit der einen Hand fuhr sie über die Tasten hin und spielte leise. »Seine reizende Stimme,« flüsterte sie träumerisch, während sie spielte, »o, seine reizende Stimme!« Dann hielt sie wieder inne und sagte, indem sie ihre Hand von den Tasten herab sinken ließ und meine Hand erfaßte, halb zu sich selbst, halb zu mir: »Ist das Liebe?«

 

Meine Pflicht als respectable Frau war mir klar vorgezeichnet; ich mußte ihr eine Lüge sagen. »Es ist nichts weiter, liebes Kind,« sagte ich, »als zu große Aufregung und zu große Ermüdung. Morgen sollen Sie wieder mein junges Fräulein sein, heute Abend müssen Sie nur mein Kind sein. Kommen Sie, lassen Sie mich Sie zu Bett bringen«

Sie fügte sich mit einem müden Seufzer. O, wie lieblich sie aussah, das unschuldige bekümmerte Wesen, als sie in ihrer reizenden Nachttoilette vor ihrem Bette kniete und ihr Nachtgebet sprach. Ich bekenne es offen, ebenso rasch im Lieben wie im Hassen zu sein. Als ich ihr gute Nacht gesagt und sie verlassen hatte, fühlte ich, daß ich sie nicht zärtlicher hätte lieben können, wenn sie mein eigenes Kind gewesen wäre. Jeder meiner Leser ist, wenn er nicht ein äußerst zurückhaltendes Wesen hat, wohl einmal Leuten von meiner Art begegnet, die ihm bei einer Fahrt auf der Eisenbahn oder als Nachbarn an der table d’hôte sofort die vertraulichsten Mittheilungen über alle ihre Privatangelegenheiten gemacht haben. Ich glaube, ich werde es bis an mein Ende nicht aufgeben, bei einer vorüber gehenden Begegnung mit Fremden alsbald Freundschaft mit ihnen zu schließen. Der niederträchtige Dubourg! Wenn ich an jenem Abende nach Browndown hätte gelangen können, hätte ich gern an ihm gethan, was eine mexikanische Magd, die ich in der centralamerikanischen Periode hatte, mit ihrem betrunkenen Manne that, der eine Art von Hausierer war und mit Peitschen und Stöcken handelte. Eines Abends nähte sie ihn als er, seinen Rausch verschlafend, auf dem Bette lag, fest in sein Betttuch ein, holte dann seinen ganzen Waarenvorrath aus der Ecke des Zimmers hervor und schlug denselben auf ihm kurz und klein, bis er von Kopf bis zu Fuß zu einer gallertartigen Masse zusammengeprügelt war. Da mir dieses Hilfsmittel nicht zu Gebote stand, setzte ich mich in meinem Schlafzimmer hin und überlegte, was ich, wenn die Angelegenheit mit Dubourg sich noch weiter fortspinnen sollte, zunächst zu thun haben würde.

Ich habe bereits erwähnt, daß Lucilla und ich den ganzen Nachmittag recht nach Frauenart damit zugebracht hatten, über uns selbst zu plaudern. Zum; besseren Verständniß des Gedankenganges, den ich bei meinen Erzählungen verfolgte, will ich hier der Hauptsache nach das erzählen, was mir Lucilla über ihre eigenthümliche Stellung in dem Hause ihres Vaters mitgetheilt hatte.

Sechstes Kapitel.
Ein Käfig voll von Finch’s

Es giebt nach meinen Erfahrungen große Familien von zweierlei Art. Familien, deren Glieder alle einander bewundern, und solche, deren Glieder sich unter einander verabscheuen. Ich für meinen Theil ziehe die zweite Art vor. Ihre Zänkereien sind ihre Sache und sie haben einen Vorzug, den die erstere Art nicht besitzt, den nämlich, daß sie bisweilen im Stande sind, die guten Eigenschaften von Personen zu erkennen, welche nicht das Glück haben, ihre Blutsverwandten zu sein. Die Familien, deren Glieder sich alle unter einander bewundern, sind mit einer unerträglichen Selbstgefälligkeit behaftet. Wenn man mit solchen Leuten zufällig von Shakespeare als einem Typus höchster geistiger Begabung spricht, kann man sicher sein, daß ein weibliches Mitglied der Familie Einem zu verstehen geben wird, man würde ein viel schlagenderes Beispiel angeführt haben, wenn man sie auf ihren »lieben Papa« verwiesen hätte. Geht man aber mit einem männlichen Mitgliede dieser Familie spazieren und sagt von einer vor übergehenden Dame: »Welch’ ein reizendes Geschöpf!« so kann man sich darauf verlassen, daß der Mann über unsere Einfalt lächelt und verwundert fragt: ob man nie seine Schwester in Balltoilette gesehen habe? Das sind die Familien, deren Glieder, wenn sie getrennt sind, täglich mit einander correspondiren. Sie lesen uns Auszüge aus ihren Briefen vor und sagen: »Wo ist der Schriftsteller, der so zu schreiben versteht?« Sie reden in unserer Gegenwart von ihren Privatangelegenheiten und scheinen zu meinen, daß wir uns dafür interessiren müßten; sie amüsieren sich über Tisch über ihre eigenen Witze und können nicht begreifen, daß wir uns nicht auch amüsieren. In häuslichen Kreisen dieser Art sitzen die Schwestern gewöhnlich auf dem Schoße ihrer Brüder und erkundigen sich die Männer so ungenirt nach den körperlichen Beschwerden ihrer Frauen, als wenn sie mit ihnen allein wären. Wenn wir einmal in einem fortgeschritteneren Stadium der Civilisation angelangt sein werden, wird der Staat dafür sorgen, daß diese unerträglichen Menschen in Käfige gesperrt und daß an die Straßenecken Anschlagszettel geklebt werden, auf welchen zu lesen stehen wird: »Man hüte sich vor Numero Zwölf: da wohnt eine Familie die sich im Zustande gegenseitiger Bewunderung befindet.«

Aus Lucilla’s Mittheilungen ersah ich, daß die Finchs zu der zweiten oben erwähnten Art großer Familien gehören. Kaum ein einziges Mitglied dieser Familie stand mit dem andern auch nur auf einem Sprechfuß. Und einige von ihnen waren Jahrelang von einander getrennt gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal die Post für die Beförderung eines noch so knappen Ausdrucks ihrer Gefühle gegen einander in Anspruch genommen zu haben. Die erste Frau des ehrwürdigen Finch war ein Fräulein Batchford gewesen; die Mitglieder ihrer Familie, welche zur Zeit ihrer Verheirathung nur aus einem Bruder und aus einer Schwester bestanden, waren mit dieser Partie sehr unzufrieden; der Rang eines Finch – ich lache über diese erbärmlichen Rangunterschiede —, wurde in diesem Falle dem Range eines Batchford nicht ebenbürtig befunden. Nichtsdestoweniger heirathete Fräulein Batchford den Ehrwürdigen Finch; ihr Bruder und ihre Schwester lehnten es ab, der Trauung beizuwohnen. Das war der erste Zank. Lucilla wurde geboren; der ältere Bruder des Ehrwürdigen Finch, der mit keinem anderen Mitgliede der Familie sprach, trat mit dem christlichen Vorschläge hervor, sich über der Wiege des neugebornen Kindes die Hände zu reichen. Der Vorschlag wurde von den großherzigen Batchfords angenommen. Erste Versöhnung. Die Zeit verging; der Ehrwürdige Finch, der damals ein kärglich besoldeter Pfarrgehilfe an einer Kirche in der Nähe einer großen Fabrikstadt war, fühlte einen Mangel, nämlich den Mangel an Geld, und nahm sich eine Freiheit, nämlich die Freiheit, von seinem Schwager Geld zu borgen. Herr Batchford, der ein reicher Mann war, betrachtete diese Eröffnung, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, in dem Lichte einer Insulte. Fräulein Batchford trat auf die Seite ihres Bruders. Das war der zweite Zank. Wieder verging die Zeit. Die erste Frau Finch starb. Der ältere Bruder des ehrwürdigen Finch, der noch immer mit den übrigen Mitgliedern der Familie auf dem schlechtesten Fuße stand, machte einen zweiten christlichen Vorschlag, nämlich sich über dem Grabe der verstorbenen Frau die Hände zu reichen. Auch dieser Vorschlag wurde von den trauernden Bartchfords angenommen. Und eine zweite Versöhnung erfolgte. Wieder verging die Zeit. Der Ehrwürdige Finch, der nun Wittwer war und eine Tochter hatte, machte die Bekanntschaft eines Bewohners der großen Stadt, in deren Nähe er als Pfarrgehilfe fungirte, welcher gleichfalls Wittwer war und eine Tochter hatte. Dieser Wittwer war seinem social-politisch-religiösen Stande nach ein radicaler baptistischer Schuster. Der Ehrwürdige Finch, der noch immer an Geldmangel litt, setzte sich über das Alles weg und heirathete die Tochter mit einer Mitgift von dreitausend Pfund. Dieses Verfahren entfremdete ihm für immer nicht nur die Batchfords, sondern auch den friedenstiftenden älteren Bruder. Dieser vortreffliche Christ stand von nun an mit seinem Bruder wie mit der übrigen Familie auf gespanntem Fuße. Die Folge davon war die vollständige Isolirung des Ehrwürdigen Finch. Die zweite Frau Finch gab regelmäßig jedes Jahr Gelegenheit sich die Hände zu reichen, nicht nur über einer Wiege, sondern bisweilen über zwei Wiegen. Aber diese so verdienstliche Fruchtbarkeit blieb doch fruchtlos! Dieselbe führte zu nichts als einer Art von Compromiß; Lucilla, aus welche bei der raschen Zunahme der zweiten Familie des Rectors wenig mehr geachtet wurde, erhielt Erlaubniß, ihre mütterliche Tante und ihren mütterlichen Onkel jedes Jahr zu bestimmten Zeiten zu besuchen. Das arme Kind, welches allem Anscheine nach bei seiner Geburt im vollen Besitze seiner Sehkraft gewesen, war noch vor vollendetem ersten Lebensjahre unheilbar erblindet. In allen an deren Beziehungen war sie ihrer Mutter auffallend ähnlich. Der ledige Onkel Batchford und seine alte ledige Schwester faßten beide die zärtlichste Zuneigung zu dem Kinde. »Unsere Nichte Lucilla,« sagten sie, »hat unsere innigsten Hoffnungen erfüllt, sie ist eine Batchford, keine Finch!« Lucilla’s Vater aber, der um diese Zeit zum Pfarrer von Dimchurch befördert war, sagte nur: »Laßt sie nur reden. Wartet nur ein wenig und die Sache wird uns Geld bringen.« Und Geld brauchte er allerdings sehr; bei der Fruchtbarkeit von Frau Finch, welche Jahr für Jahr die Zahl ihrer Wiegen um eine vermehrte, bis der im Jahrgehalt stehende Hausarzt selbst der Sache überdrüssig wurde und eines Tages äußerte: »Es ist nicht wahr, daß Alles ein Ende hat; die Vervielfältigungsfähigkeit von Frau Finch hat kein Ende.«

Lucilla wuchs heran und hatte das zwanzigste Jahr erreicht, bevor sich die Hoffnungen ihres Vaters verwirklichten und Geld zum Vorschein kam. Onkel Batchford starb unverheirathet und hinterließ sein Vermögen seiner ledigen Schwester und seiner Nichte zu gleichen Theilen. Die Zinsen, deren Lucilla nach Eintritt ihrer Volljährigkeit sich zu erfreuen haben sollte, betrugen jährlich fünfzehnhundert Pfund. Diese Erbschaft war jedoch an zwei in dem Testament sehr ausführlich entwickelte Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen liefen darauf hinaus: Erstens es dem ehrwürdigen Finch vollkommen unmöglich zu machen, unter irgend welchen Umständen einen Heller des Lucilla hinterlassenen Vermögens von ihr zu erben und zweitens, Lucilla, so lange sie unverheirathet bleibe, während eines Zeitraums von drei Monaten in jedem Jahr aus dem Hause ihres Vaters zu entfernen und unter die Obhut ihrer ledigen Tante zu stellen.

 

Das Testament sprach sich über den Zweck dieser letzten Bedingung in der unumwundensten Weise aus: »Ich sterbe wie ich gelebt habe,« hieß es in dieser letztwilligen Verfügung Onkel Batchford’s, »als ein Anhänger der Hochkirche und ein Tory. Mein Vermächtniß an meine Nichte soll nur unter folgenden Bedingungen gültig sein, nämlich: daß sie während eines bestimmten, periodisch wiederkehrenden Zeitraums den religiös dissentirenden und politisch radicalen Einflüssen im Hause ihres Vaters entzogen und unter die Obhut einer englischen Dame gestellt werde, welche mit den Vortheilen der Geburt und Erziehung den Besitz reiner und ehrenwerther Principien verbindet « u.s.w. u.s.w.

Man kann sich vorstellen, was der Ehrwürdige Finch empfand, als er an der Seite seiner Tochter nebst den andern Leidtragenden der Verlesung des Testaments beiwohnte und dies mit anhören mußte. Er erhob sich als echter Engländer und hielt eine Anrede an die Versammlung. »Meine Damen und Herren,« sagte er, »ich gebe zu, daß ich in der Politik liberalen Grundsätzen huldige und daß die Familie meiner Frau zu den Dissenters gehört. Als ein Beispiel für die in Folge dieser Richtungen in meinem Hause herrschenden Grundsätze erlaube ich mir Ihnen zu erklären, daß meine Tochter dieses Vermächtniß mit meiner vollen Genehmigung acceptirt, und daß ich Herrn Batchford vergebe.« Mit diesen Worten gab er seiner Tochter den Arm und verließ mit ihr das Zimmer. Er hatte, wohlgemerkt, genug gehört, um gewiß zu sein, daß Lucilla, solange sie unverheirathet sei, mit ihrem Einkommen thun könne, was sie wolle. Noch bevor sie nach Dimchurch zurückgekehrt waren, hatten der Ehrwürdige Finch mit seiner Tochter ein Arrangement dahin getroffen, daß sie eine voll kommen unabhängige Stellung in dem Pfarrhause erhalten, dagegen ihrem Vater jährlich die Summe von 500 Pfund als ihren Beitrag zur Wirthschaft tragen solle. Bei dieser Mittheilung empfand ich das tiefste Bedauern darüber, daß Finch mit seinen liberalen Principien nicht den Dritten im Bunde mit meinem armen Pratolungo und mir in Central-Amerika gebildet habe. Wenn wir uns seines Raths hätten erfreuen können, würden wir die heilige Sache der Freiheit gerettet haben, ohne einen Heller dafür aus zugeben.

Der bis dahin unbewohnte alte Theil des Pfarrhauses wurde, natürlich auf Lucilla’s Kosten, in Ordnung gebracht und möblirt. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstage waren die Reparaturen vollendet und wurde die erste Rate des mit Lucilla ausbedungenen Hausstandsgeldes bezahlt und die Tochter als eine unabhängige Einwohnerin in dem Hause ihres Vaters installirt. Um den Leser in den Stand zu setzen, die Schlauheit des von Finch getroffenen Arrangements ganz würdigen zu können, sei hier noch bemerkt, daß Lucilla, als sie heranwuchs, ein: steigende Abneigung gegen den Aufenthalt im väterlichen Hause gezeigt hatte. In ihrer Blindheit war ihr das ewige lärmende Getümmel der Kinder lästig; zwischen ihr und ihrer Stiefmutter bestand nicht die geringste Sympathie und mit ihrem Verhältniß zu ihrem Vater stand es nicht viel anders. Sie empfand Mitleid mit seiner Armuth und behandelte ihn mit der Nachsicht und der Achtung, auf die er als ihr Vater Anspruch hatte. Was aber wahre Liebe und Verehrung betrifft – nun darüber will ich lieber schweigen. Ihre glücklichsten Tage waren die mit ihrem Onkel und ihre Tante verlebten; ihre Besuche bei den Batchfords hatten sich mit jedem Jahre weiter ausgedehnt. Wenn ihr Vater es nicht bei seinem Appell an die Sympathien der Tochter geschickt so einzurichten verstanden hätte, ihr das fernere Verbleiben im väterlichen Hause unter völliger Wahrung ihrer Unabhängigkeit als möglich vorzustellen, würde sie nach erreichter Volljährigkeit entweder ganz zu ihrer Tante gezogen sein oder sich selbständig etablirt haben. So aber hatte sich der Pfarrer unter für beide Theile acceptablen Bedingungen seine 500 Pfund jährlich gesichert und, was noch mehr war, er hatte seine Tochter beständig unter Augen; denn, wohlgemerkt, es gab eine schreckliche, ihm in der Zukunft drohende Möglichkeit, die nämlich, einer Verheirathung Lucilla’s.

Das war zu der Zeit, wo ich im Pfarrhause eintraf, die eigenthümliche Stellung Lucilla’s. Man wird es daher jetzt begreiflich finden, wie völlig rathlos ich war, als ich mir am Abende des Tages meiner Ankunft das Vorgefallene durch den Kopf gehen ließ und mich fragte, was mir in der Angelegenheit des geheimnißvollen Fremden demnächst zu thun obliege. Ich hatte Lucilla alleinstehend gefunden, in ihrer Blindheit hilflos, abhängig von Andern und in dieser traurigen Lage ohne eine Mutter oder eine Schwester oder selbst eine Freundin, an deren Busen sie vertrauensvoll ruhen, auf deren Rath und Beistand sie sich hätte verlassen können. Der erste Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte, war ein günstiger gewesen, ich hatte sofort ihre Zuneigung gewonnen, wie sie die meinige. Ich hatte sie, ohne zu ahnen was in ihr vorging, auf einem Abendspaziergange begleitet. Ich hatte ganz zufällig einen Fremden vermocht, das imaginäre Interesse, das sie bereits an ihm nahm, dadurch zu verstärken, daß ich ihn veranlaßte, zum ersten Male in ihrer Gegenwart laut zu reden.

In einem Augenblicke nervöser Aufregung und in reiner Verzweiflung jemanden Anderes zu finden, dem sie sich anvertrauen konnte, hatte das arme, thörichte, einsame, blinde Mädchen mir ihr Herz geöffnet. Was sollte ich thun? Wenn es ein gewöhnlicher Fall gewesen wäre, würde die ganze Angelegenheit einfach lächerlich gewesen sein. Aber Lucilla’s Fall war kein gewöhnlicher. Das Gemüth der Blinden ist durch ihr grausames Schicksal nothwendig nach innen gekehrt. Sie leben ein von dem unsrigen gesondertes, ach wie hoffnungslos gesondertes Leben, in ihrer eigenen dunkeln Welt, von welcher wir nichts wissen. Welchen Trost konnte die äußere Welt Lucilla gewähren? Keinen! Es war eine Folge ihrer traurigen Freiheit, daß sie unablässig ungestört bei dem idealen Geschöpf ihrer eigenen Phantasie verweilen konnte. Innerhalb der engen Grenzen des einzigen Eindrucks, weichen sie von diesem Manne durch die Schönheit seiner Stimme in sich hatte aufnehmen können, konnte ihre Phantasie in dem undurchdringlichen Dunkel ihres Daseins schrankenlos arbeiten. Welch’ ein Bild! Mich schaudert, indem ich es entwerfe. O, ich weiß sehr wolle wie leicht es ist, der Sache eine ganz andere Seite abzugewinnen und über die Thorheit eines Mädchens zu lachen, welches zuerst seine Einbildungskraft mit dem Bilde eines ihr ganz Fremden erhitzt und sich dann, sobald sie ihn sprechen hört, in seine Stimme verliebt! Wenn man aber hinzu nimmt, daß dieses Mädchen blind ist, daß sie auf die Welt ihrer Einbildungskraft angewiesen ist und das sie zu Hause niemanden hat, der einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben könnte, wird man auch dann in einem solchen Zustande nichts der Theilnahme Würdiges finden? Was mich betrifft, so fand ich, obgleich ich einer leichtherzigen Nation angehöre, die Alles wegzulachen gewohnt ist, an jenem Abend, als ich mich bei meiner Nachttoilette im Spiegel sah, mich entsetzlich ernst und alt aussehend. Ich sah mein Bett an. Pah! wozu sollte ich zu Bett gehen? Lucilla war ihre eigene Herrin; es stand ihr voll kommen frei, demnächst allein nach Browndown zu gehen und sich in die Gewalt eines möglicher Weise ehrlosen und ränkesüchtigen Menschen zu geben. Wer war ich? Nur ihre Gesellschafterin. Ich hatte kein Recht einzuschreiten, und doch würde man mich, wenn irgend etwas vorfallen sollte, tadeln. Es ist leicht, zu sagen, »man hätte etwas thun sollen.« Wen konnte ich um Rath fragen? Die würdige alte Amme war nur eine Dienerin. Konnte ich mich an die lymphatische Dame mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand wenden? Alberner Gedanke! An ihre Stiefmutter durfte ich nicht denken. Und ihr Vater? Nach dein, was ich bis jetzt von ihm gehört, konnte ich keine günstige Meinung von der Fähigkeit des Ehrwürdigen Finch haben, in einer Angelegenheit dieser Art erfolgreich einzuschreiten. Gleichviel, er war doch ihr Vater, und ich konnte es immerhin einmal mit ihm versuchen. Als ich Zillah’s Fußtritte draußen auf dem Corridor vernahm, ging ich zu ihr hinaus.