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Das Geheimnis der Abtei

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Er kam, und die Nachricht von dem plötzlichen Tode meines Gemahls überraschte niemand. Die Dienstboten hatten bereits den Arzt gerufen, ehe sie mein Zimmer betraten. Er langte an, als ich meine Toilette beendigt hatte, erklärte, dass er einen solchen Fall schon lange erwartet habe, und übernahm statt meiner die Anordnung alles dessen, was jetzt geschehen müsste. Ein prächtiges Leichenbegängnis fand statt, und ich legte die Kleider einer trauernden Witwe an, über die ich innerlich lachen musste.

Unter keinen Verhältnissen dieser sonderbaren Welt genießt wohl ein Weib größere Freiheit, als in denen einer jungen Witwe, wie ich nun war, welche weder Vater, Bruder noch sonst jemanden hat, dessen Vorstellungen oder Vorschriften ihren Willen beschränken könnten. Ohne jenes unglückliche Kind wäre mein Dasein jetzt sonnenhell gewesen. Ich hegte die Hoffnung, das Mädchen durch Geschenke oder Drohungen zum Schweigen zu bringen und sie nach einer fernen Gegend, vielleicht sogar in ein anderes Land schaffen zu können. Einen bestimmten klaren Plan hatte ich zwar nicht mit ihr, aber unter allen Umständen, dachte ich, werde ein solches Wesen mir in meinem Reichtume unmöglich gefährlich werden können. Über ihr Verschwinden wurde wenig gesprochen. Jede Spur dessen, dass sie in jener Nacht in der Abtei geschlafen, hatte ich sorgfältig verwischt, und hörte nach mehreren Tagen von meinem Kammermädchen, dass man allgemein vermute, sie sei mit einer Zigeunerbande fortgezogen, in deren Gesellschaft sie mehrere Tage vorher gesehen worden. Ihre alte Großmutter war ein sehr übellauniges altes Weib, und ihre eigene Mutter hatte sich, nachdem sie von Sir Thomas abgefunden worden war, fast ganz von ihr losgesagt. Es ließ sich daher wohl annehmen, dass sie, nachdem ihr einziger Freund gestorben war, ein wanderndes Zigeunerleben den traurigen Aussichten, welche ihr in der Heimat blieben, vorgezogen habe. Mutter und Großmutter schienen froh zu sein, dass sie ihrer los waren. Das ihnen ausgesetzte Jahrgeld war in dem Testamente sicher gestellt, und weiter wollten sie nichts.

Sogleich nach dem Tode meines Gemahles verließ ich das bin dahin bewohnte, neben seinem Zimmer gelegene Gemach. Nichts war natürlicher als dieser Schritt; dagegen erregte die Wahl meiner neuen Gemächer allgemeines Staunen. Es waren diejenigen, welche die Äbte in früherer Zeit innegehabt hatten, – düstere, unbequeme und von allen übrigen bewohnten Teilen der Abtei weit entlegene Zimmer. Ich konnte jedoch von ihnen aus leicht in die Ahnengalerie gelangen, wo der geheime Zugang zu den verborgenen Gemächern liegt, und konnte bei Nacht, so wie unter gehöriger Vorsicht auch bei Tage ohne Gefahr der Beobachtung dahin gehen.

Es war beinahe Mitternacht jenes Tages, an welchem ich meine neuen Zimmer bezogen hatte, als ich, mit Speisen und Wein versehen, meinen ersten Besuch bei der Gefangenen zu machen versuchte. Allein ich konnte nicht zu ihr gelangen, denn sie hatte die inneren Riegel vorgeschoben, welche keine menschliche Kraft zu sprengen vermochte. Nachdem ich mich lange Zeit vergebens bemüht hatte einzudringen, und keinen Laut von innen vernahm, schob ich die für sie bestimmten Lebensmittel durch die Maschine hinein und war froh, an dem schnellen Verschwinden des Korbes zu bemerken, dass sie lebte und sich bewegen konnte. Unmöglich war es, von außen hinein zu sehen, und ich weiß selbst nicht, ob innerhalb eine Stimme von außen gehört werden konnte, denn auf wiederholte Fragen erhielt ich nie Antwort. So schloss sie sich von jenem ersten Augenblicke an, in welchem ich sie auf der Matratze liegend verlassen hatte, gänzlich ab, und ich habe sie später nie wieder gesehen, nie wieder eine Mitteilung von ihr erhalten. Ich machte wiederholte Versuche, schrieb mehrmals an sie in den dringendsten Ausdrücken, aber ohne Erfolg; nur an der Konsumption der Speisen und ihrer Zurücklieferung des Geschirres sah ich, dass sie lebte. Die Kleider und die Wäsche, welche ich ihr zukommen ließ, wurden natürlich von den meinigen entnommen, und sie musste sie unserer sehr verschiedenen Größe ungeachtet tragen, so gut es ging. Dagegen erhielt sie von mir fortwährend Schreibmaterialien und unterhaltende Bücher, die ich von Zeit zu Zeit wechselte, und Vorräte von Zwieback, Mandeln und überhaupt solchen Esswaren, welche sich lange aufbewahren ließen, so wie ihre regelmäßigen täglichen Mahlzeiten, die ich von meinem Tische entnahm, weshalb ich alle Speisen allein in meinem Zimmer genoss. Bemerkt sei hier noch, dass ich vom ersten Augenblicke ihrer Gefangenschaft an eine genaue Schilderung der zur Öffnung jener geheimen Gemächer anzuwendenden Mittel niederschrieb und dieselbe an einem Orte niederlegte, wo sie nach meinem Tode gleich gefunden werden müsste.«

»Lange Zeit ertrug ich die erdrückende Last dieses Geheimnisses mit Mut und Standhaftigkeit. Anfangs erschien es mir leicht im Vergleiche mit dem Elende, welches ich im Umgange mit meinem Gemahle erduldet hatte, und noch mehrere Monate lang nach meiner zweiten Heirat blieb mir die dunkle Hoffnung, dass ich mich allmälig an das Amt einer Gefangenenwärterin gewöhnen würde, und ich dachte sogar daran, die Abtei für kurze Zeit zu verlassen, während derer das Mädchen von den ihr gereichten Nahrungsmitteln leben könnte. Oft auch versuchte ich, die in meiner Jugend gehörten Ansichten und Lehren auf meine jetzige Lage anzuwenden. Hier war ein armes Mädchen, um das kein Wesen auf der Welt sich kümmerte, ob es lebte oder nicht. Nur zwei Personen standen ihr durch Blutsverwandtschaft nahe, von denen die eine, ihre Mutter, ihr Wiedererscheinen für ein Unglück gehalten haben würde, und die andere, ihre Großmutter, von dem Gedanken, sie wieder kleiden und ernähren zu müssen, nichts weniger als erfreut gewesen wäre. Wie viele ihres Standes gab es nicht, welche ihr Leben unter schweren Arbeiten hinbringen mussten, misshandelt, gedrückt und vernachlässigt wurden! Wenn sie die Freiheit entbehrte, dachte ich, so war sie wenigstens gegen die Leiden der Armut und eines mühseligen Lebens geschützt, wurde gekleidet, ernährt und konnte sich nach Belieben unterhalten. Allein solche Betrachtungen blieben wirkungslos, und meine Last stieg von Tag zu Tag. Auf welche lange Zeit namenlosen Elends kann ich jetzt zurückblicken! Wie viele Pläne entwarf ich nicht, um den Druck der mir selbst auferlegten Ketten zu mildern! Mut, Gesundheit und Kraft erlagen allmälig dem unersättlichen Feinde, welcher an meinem Herzen nagte. Zu Zeiten stieg sogar die Idee in mir auf, meinem Hause zu entfliehen und mich in eine entfernte Einöde zu begeben, mit Zurücklassung einer genauen Beschreibung des Eingangs zu den geheimen Gemächern, um dadurch die Gefangene finden zu können und sie selbst alles enthüllen zu lassen. Es war gewiss keine selbstsüchtige Rücksicht, was mich von der Ausführung dieses Gedankens abhielt, denn ich brachte nur wenig Glück zum Opfer; allein ich sah voraus, welches schwere Leid dadurch über das einzige Wesen kommen musste, das ich je geliebt hatte. Schmach und unaussprechlicher Kummer wurden ihm zuteil, und er versank mit seinen Kindern in tiefe Armut, da in diesem Falle sein gesamtes späteres Einkommen in der kleinen indischen Pension bestand. Ich trug also meine geheime, täglich zunehmende Qual weiter, wurde scheinbar immer schroffer und eigensinniger, und lebte abgeschlossen in meinen Zimmern, wo ich auch alle Mahlzeiten allein genoss, um dadurch die Mittel zur Ernährung meiner Gefangenen zu erlangen.

Im Laufe der Zeit erregte jedoch das Missverhältnis zwischen den Quantitäten von Speisen, welche ich scheinbar verzehrte, und meiner immer zunehmenden Abmagerung Aufmerksamkeit, so dass ich mich endlich dem Possenspiele eines Besuches von Seiten unseres Hausarztes unterwerfen musste. Ich hätte ihm in das Gesicht lachen können, als ich sah, mit welcher Aufmerksamkeit er meinen Puls untersuchte, meine Zunge prüfte und verschiedene Fragen über gewisse Zeichen und Empfindungen an mich richtete.

Obgleich völlig im Dunkeln tappend, glaubte er dennoch den Sitz des Übels gefunden zu haben und gab ihm einen wichtigen Namen ohne Bedeutung. Alles dieses klang ganz gut, allein die verordnete Luft- und Ortsveränderung und die Zerstreuungen, welche ich genießen sollte, waren mir peinlich. Endlich jedoch gab ich nach und ließ mich bereit finden, für kurze Zeit einen nahen Badeort zu besuchen. Wir begaben uns dahin. Am ersten Abende nahm ich Opium und versank in einen tiefen Schlaf, aus dem ich erst wieder erwachte, als wir uns bereits im Wagen und auf dem Rückwege befanden. Wie mir erzählt wurde, hatte ich in der Nacht das ganze Haus durch lautes Geschrei erweckt. Man fand mich in tiefem Schlafe, aber, wie es schien, von bösen Träumen geplagt. Ich fuhr fort, verworrene und abgebrochene Reden auszustoßen, von denen sich nichts verstehen ließ, als die Bitte, nach Hause gebracht zu werden, und die Worte: »Sie schreit, sie schreit!« Nach langen Bemühungen gelang es, mich zu beruhigen, und der Rückweg wurde angetreten: aber ich selbst habe, wie gesagt, keine Erinnerung an diesen Zustand.«

»Von dieser Zeit an wurden keine ähnlichen Versuche wieder gemacht, und ich blieb ungestört in meinen Gemächern. Natürlich konnte ich keine Dienerin bei mir schlafen lassen und befand mich deshalb Nacht und Tag allein. Ich scheute jeden Umgang mit anderen Personen, und die einzigen, welche ich außer meinem Gemahle und den Kindern zuweilen sah, waren die Erzieherinnen, deren eine nach der andern versuchte, die Abgeschiedenheit der düsteren Abtei ertragen zu lernen. Alle ermüdeten jedoch oder wurden von mir verscheucht. Ohne Zweifel hielten sie mich für halb wahnsinnig. Die letzte Erzieherin scheint bleiben zu wollen; sie ist eine gebildete und verständige Dame von sehr angenehmem Wesen, deren Freundschaft ich gern gewonnen hätte; allein sie hängt an Vorurteilen, bedauert mich, wie ich deutlich sehen kann, und fühlt sich abgestoßen von meinen Ansichten.«

»Es bleibt mir nichts mehr zu sagen. Ich schleppe mein vergifteten Dasein ein Jahr nach dem anderen hin und mein Opfer in seinem verborgenen Gefängnisse ist glücklicher als ich, – glücklich, keine menschliche Stimme zu hören und kein menschliches Gesicht zu sehen. Gern tauschte ich mit ihm, denn alles bringt mir Pein. Es ist peinlich für mich zu sehen, wie lang und schwer den armen Kindern, deren Liebe ich gewinnen sollte, die halbe Stunde wird, die sie zuweilen bei mir zubringen müssen, und namenlose Qual bereitet mir die immer deutlicher werdende Überzeugung, dass er, dem ich hier und jenseits – wenn es ein Jenseits gibt – alles geopfert habe, mich nie geliebt hat, und dass selbst sein sanftes Gemüt ängstlich und unruhig wird, wenn Pflicht oder Sitte ihn nötigen, bei mir zu sein. Er ahnt nicht, dass mein Leben ein ununterbrochenes Opfer für ihn war. Nichts hält mich hier zurück als der Umstand, dass ich weiß, welche Schmach, welches Elend mein Tod über ihn bringen würde. Ich trage fortwährend die Mittel bei mir, um zu jedem Augenblicke meinem qualvollen Dasein ein Ende setzen zu können, und sollte ihm mein Geheimnis durch irgendeinen Zufall bekannt werden, so bin ich fest entschlossen, nicht länger zu leben. Oft habe ich gefragt, was mich abhalte, mir diese erdrückende Last vom Halse zu schaffen? Einige Tropfen unter ihre Speisen gemischt, und ich bin frei. Ich habe mir schon einmal die Freiheit errungen, – warum nicht wieder? Allein immer kommt dann die Antwort aus meinem Innern, dass es mir unmöglich sei. Ginge solche Speise aus meinen Händen in ihr Gefängnis, so würde ich wahnsinnig werden. Die Unmöglichkeit, sie zu retten, würde mir den Verstand rauben, und ich würde alles verraten. Mit aller Macht wehre ich deshalb diesen Gedanken ab, und dennoch kehrt er immer wieder.«

 

»Häufig erwacht auch der alte Aberglaube in mir, den ich in meiner Jugend verachten gelernt habe, und ich möchte sehnend rufen: »Gott helfe mir!« Allein es gibt keine wirkliche Sünde, und nie war eine nach frömmelnder Redeweise sogenannte sündhafte Handlung leichter zu rechtfertigen, als die meinige. Ihre traurigen Folgen sind eine reine Zufälligkeit, denn ohne jene unfreiwillige kleine Zeugin wäre ich jetzt ein glückliches Weib. Ich weiß, dass mit diesem Leben alles endet, dass der Tod nur eine Vernichtung, ein Übergang in die ursprünglichen Elemente, in Atome ist, die von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts wissen. O ich Unglückliche! Dennoch möchte ich ausrufen: »Gott stehe mir bei!«

Hier endete das Manuskript.

IV

Unmöglich kann ich beschreiben, in welchem Geisteszustande ich mich befand, als ich es bis zum Schluss durchgelesen hatte. Jetzt erscheint es mir sonderbar, dass ich von dem darin geschilderten schrecklichen Verbrechen, dem tiefen Elende der unglücklichen Frau und der wunderbaren Entdeckung ihrer Schuld nicht noch mehr ergriffen wurde; allein ich war betäubt und mein vorherrschender Gedanke bezog sich auf die lebende Zeugin des Verbrechens, jenes junge Wesen, das sieben lange Jahre, vom Kindes- bis zum Jungfrauenalter, einsam in jenen geheimen Gemächern zugebracht hatte, ohne je einen Lichtstrahl der Sonne oder ein menschlichen Antlitz zu sehen.

»Sie ist hier,« sagte ich zu mir selbst, »sie ist unter diesem Dache! Vielleicht wenige Schritte von mir entfernt bringt sie traurig diese lange Nacht zu, wie sie deren Hunderte verlebt hat. Noch wenige Stunden, und ich werde sie sehen, sie sprechen. Wie werde ich sie finden? Hat sie die Klarheit des Verstandes verloren? Wird sie nun verstehen, – unseren Worten glauben und uns einlassen?«

Ich erinnerte mich des kleinen bleichen Kindes, welches das Portrait in der Hütte der Großmutter vorstellte, und entwarf jetzt ein ähnliches Bild von ihr, nur größer von Gestalt und mit älteren, vor der Zeit gealterten Zügen. Ich dachte mir ein verwelktes, lebensmüdes Weib von neunzehn Jahren.

Schlafen konnte ich in dieser Nacht nicht und ging deshalb gar nicht zu Bett, sondern erfrischte mich nur, ehe Mr. Davis in früher Morgenstunde zu mir kam, durch Waschen und Umkleiden. Auch er schien wenig Ruhe genossen zu haben. Anfangs drückten wir uns nur die Hand und schwiegen. Das Manuskript lag offen auf dem Tische. Unwillkürlich richteten sich unsere Blicke darauf, und endlich sagte ich flüsternd:

»Was ist zu tun?«

»Nehmen Sie Platz, meine liebe Miss Vernon,« erwiderte er, einen Stuhl hervorziehend und sich neben mich setzend, »wir müssen diese schreckliche Angelegenheit ruhig besprechen. Capitain Sinclair hat uns überlassen, alles zu tun, was nötig ist. Natürlich muss unser erster Schritt sein, das unglückliche Opfer jenes verbrecherischen Weibes in Freiheit zu setzten, allein es bedarf reiflicher Überlegung. Diesen Schritt zu tun, ohne das traurige Sachverhältnis bekannt werden zu lassen, scheint fast unmöglich; und doch enthielten Sinclairs letzte Worte, als er mir zum Abschiede die Hand drückte, die flehende Bitte, jede Bloßstellung seiner Frau zu vermeiden, soweit es möglich sei. Was würden Sie vorschlagen? Können Sie ein Mittel entdecken? Mac Ivor, der jetzt wieder vollkommen ruhig und gesammelt ist, meint, wir täten am besten, uns den Daltons zu vertrauen.«

»Das wäre auch mein Vorschlag,« versetzte ich. »Es scheint mir unmöglich, ohne fremden Beistand das unglückliche Mädchen zu befreien und ihr ein vorläufiges Unterkommen zu verschaffen. Der Pfarrer und dessen Frau sind vortreffliche, warmfühlende und verständige Leute, denen wir unbedingt vertrauen können, und die nie daran denken werden, das unglückliche Weib der Gerechtigkeit zu überliefern.«

Bei den letzten Worten bemerkte ich einen seltsamen Ausdruck in den Zügen von Mr. Davis.

»Das unglückliche Weib,« sagte er, »hat auf dieser Welt nichts mehr zu fürchten.«

»Ach,« rief ich, »sie führte Gift bei sich, – sie sagt es in ihren Geständnissen.«

»Ja, sie wurde tot aus dem Wagen gehoben,« bemerkte er. »Ein expresser Bote langte gestern Abend erst spät an und überbrachte diesen Brief.«

Er legte ihn in meine Hände. Die Schrift war sehr undeutlich, und nur mit Mühe konnte ich den folgenden Inhalt entziffern:

»Lieber Davis! Meine Frau ist tot. Sie saß sprach-

»und regungslos neben mir, bis wir in geringer Ent-

»fernung von L— waren; dann legte sie ihre Hand in

»die meinige. Ich konnte sie nicht zurückstoßen. Sie

»drückte meine Hand und hielt sie einige Minuten lang

»fest, worauf ihre Finger sich langsam lösten und ich

»meine Hand zurückzog, gerade als wir vor dem Gast-

»hofe anhielten. Ich stieg zuerst aus, und die Diener

»des Hauses traten an den Wagen, um ihr behilflich

»zu sein. Plötzlich entstand eine Verwirrung. Ich hörte

»mehrere Ausrufungen des Staunens und Schreckens,

»und sah endlich meine Frau tot aus dem Wagen

»heben. In ihrer linken Hand hielt sie ein kleines

»Fläschchen. Ich werde hier bleiben, die Leute hier

»sind sehr artig und teilnehmend. Tun Sie für

»mich, was Sie können, und schonen Sie ihrer, soweit

»es möglich. Nehmen Sie Rücksprache mit Miss Ver-

»non. Gott sei mit Ihnen!

C. Sinclair.«

Schweigend gab ich ihm den Brief zurück, denn es war mir unmöglich zu sprechen. Dann erzählte mir Davis, was geschehen war, seitdem er mich in der Hütte der alten Frau gelassen hatte.

»Bei meiner Ankunft in der Abtei,« begann er, »traf ich Capitain Sinclair in der Vorhalle, bleich und ein wahres Bild des Schreckens. Er hatte eine Rolle Papier in der Hand und zog mich in das nächste Zimmer, wo er sich setzte und mir zurief: »Hier, lesen Sie diesen mit mir!« Ich leistete seinem Wunsche Folge, und wir durchlasen beide das Memoir über Lady Deightons Leben, welches ich Ihnen gestern gegeben habe. Währenddessen zitterte seine Hand so sehr, dass ich das Papier halten musste. Mit sichtbarer Angst und Ungeduld eilte er dem Ende zu und überschlug mehrere Seiten des Anfangs, bis sein Auge auf das Wort »die Abtei« fiel. Dann schien er alle Kraft zu sammeln und las gefasster weiter. Kurz vor dem grauenvollen Schlusse begann er von Neuem zu zittern, aber beherrschte seine Gefühle, und als wir geendet hatten, verhielt er sich so still, dass ich ihn einer Ohnmacht nahe glaubte. In diesem Augenblicke kam jedoch Lady Deightons Kammermädchen plötzlich in das Zimmer und sagte:

»Ach, hier sind Sie, ich habe Sie im ganzen Hause gesucht. Was soll ich tun? Mylady hat befohlen einzupacken und den Wagen anspannen zu lassen. Verreisen wir, und soll ich diesen Befehlen Folge leisten?«

»Ja,« flüsterte er mir zu, – »ja, das wird das Beste sein. Ich muss mit ihr fort von hier gehen; bleiben Sie hier und handeln Sie für mich.«

»Ich erbot mich zu Lady Deighton zu gehen, um ihre Wünsche zu erfahren, und er gab mir ein Zeichen, es zu tun. Sie können sich denken, mit welchen Empfindungen ich nach dem Zimmer dieser Frau ging: aber Mac Ivor begegnete mir auf dem Wege dahin und hielt mich zurück. Er war völlig ruhig und gesammelt.

»Haben Sie Capitain Sinclair gesprochen? Wissen Sie alles?« fragte er.

»Ja,«· war meine Antwort.

»Es ist Ihnen also auch bekannt, dass Lady Deighton die Abtei verlassen will?«

»Ja,« wiederholte ich.

»Sie tut recht,« bemerkte er, »es ist der weiseste Entschluss, den sie fassen konnte.«

Während dieser Worte traten wir in sein Zimmer, wo er die Tür verschloss und dann fortfuhr:

»Als ich die Abtei erreichte, ging ich geraden Weges nach ihren Gemächern und trat ein, ohne mich auf irgendeine Weise anzumelden. Sinclair befand sich zufällig dort. Ich handelte unter dem Einflusse eines unwiderstehlichen Dranges und habe jetzt die Umstände nicht klar vor Augen; später werden sie mir vielleicht einfallen. So viel mir erinnerlich ist, beschuldigte ich sie mit dürren Worten des doppelten Verbrechens der Ermordung ihres Gemahls und der heimlichen Gefangenhaltung des jungen Mädchens, Grace Wilson. Nie hat es ein solches Weib gegeben, glaube ich, und wird es nie wieder geben. Ihre Kälte und Entschlossenheit machten mich selbst in meiner übernatürlichen Aufregung starr. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte sie mich stolz und entschieden an, öffnete ein Schreibpult nahm ein Bündel Papiere heraus, welche sie dem Capitain Sinclair mit den Worten reichte:

»Lies die letzten zwei oder drei Bogen und führe mich von hier fort.« Dann stand sie auf und ging langsamen, festen Schrittes in das Nebenzimmer. Sinclair verließ auch das Gemach, mit den Papieren in der Hand, wie ein Träumer. Ich blieb zurück, in der Erwartung, dass sie wieder kommen oder mich rufen lassen werde. Es war mir lieb, allein zu sein, meine Gedanken sammeln und überlegen zu können, was jetzt zu tun sei. Nach wenigen Augenblicken kam jedoch die Kammerjungfer in großer Eile und Verwirrung herein. Sie erschrak bei meinem Anblicke, aber schien mit ihren eigenen Gedanken zu sehr beschäftigt zu sein, um etwas anderes zu beachten; und froh, jemand zu finden, gegen den sie sich aussprechen konnte, begann sie mir zu erzählen, dass Mylady ihrer Meinung nach wahnsinnig geworden sein müsse, da sie plötzlich befohlen habe, anspannen zu lassen und Alles zu einer schleunigsten Abreise vorzubereiten.«

Ich fragte, ob die Dame krank sei.

»Keineswegs,« erwiderte das Mädchen in ärgerlichem Tone, »nichts fehlt ihr, so viel ich sehen kann. Von allen ihren sonderbaren Einfällen ist das der sonderbarste; aber ich werde zum Capitain gehen und fragen, was er dazu sagt.«

Dann verließ sie das Zimmer und ich folgte ihr, um Sinclair aufzusuchen, als ich Sie traf.

Ich sagte ihm, dass das Mädchen bereits ihren Herrn gesprochen habe, und dass dieser in der Tat mit Lady Deighton die Abtei verlassen werde. Hierauf begaben wir uns in das Wohnzimmer, wo ich Capitain Sinclair verlassen hatte, und fanden ihn noch dort, mit dem Lesen des Manuskripts beschäftigt. Er war in einem sehr angegriffenen Zustande, unfähig zu denken und zusammenhängend zu sprechen. Wir reichten ihm ein Glas Wein und bemühten uns, ihn zu beruhigen, aber es währte lange, bis er uns nur verstehen und vernünftig antworten konnte; und als er sich endlich genügend gesammelt hatte, um uns anzuhören, fügte er sich allen Anordnungen wie ein Kind.«

Hier endete Mr. Davis seine Erzählung, und Sinclairs Brief wieder aufnehmend, zeigte er mir eine Nachschrift, worin letzterer ihn, Mac Ivor und mich inständigst bat, alles Erforderliche zu tun, indem er zugleich eine Anweisung auf eine sehr bedeutende Stimme bei seinem Bankier beifügte.

»Das stimmt mit dem überein,« bemerkte er, »was ich mit ihm beim Abschiede verabredet hatte; wir sollten hier die traurigen Geschäfte übernehmen, und er wollte mit Lady Deighton vorläufig im Gasthofe in L— bleiben.«

 

Schaudernd hielt er inne und fügte dann hinzu:

»Es ist schrecklich, an sie zu denken, gleichviel ob lebend oder tot, aber verhehlen können wir uns nicht, dass ihr Tod eine große Schwierigkeit beseitigt. Es bleibt uns noch genug zu tun. Was sollen wir mit dem unglücklichen Kinde anfangen?«

»Kind?« unterbrach ich ihn. »Sie muss beinahe zwanzig Jahre alt sein.«

»Freilich!« versetzte er sinnend. »Wir müssen schnell handeln, Miss Vernon, denn die Maßregel, welche wir gestern zur Entfernung Mac Ivors von hier getroffen, vermehrt unsere Verlegenheiten in nicht geringem Grade. Sein Bruder kann schon übermorgen eintreffen.«

»Ja, wahrlich,« rief ich, »daran habe ich nicht gedacht.«

»Ich glaube,« fuhr Mr. Davis fort, »es wird am besten sein, Ihrem ersten Plane zu folgen. Fremde Hilfe müssen wir durchaus haben, um die arme Gefangene in der Stille zu befreien und ihr ein vorläufiges Unterkommen zu verschaffen; und da Sie eine so hohe Meinung von den Daltons haben, so dürfen wir ihnen wohl vertrauen.«

Ich wiederholte die Versicherung von ihrer Rechtschaffenheit und ihrem guten Willen überzeugt zu sein, worauf Davis mich verließ, um sogleich mit dem Pfarrer zu sprechen. Wie sich denken lässt, waren der Schreck und das Erstaunen des letzteren nicht gering, und sobald es ihm nach Anhörung eines so entsetzlichen Geheimnisses möglich war, teilte er es vorsichtig seiner Frau mit. Sie war eine Dame von klarem Verstande, warmem Herzen, großer Energie, und mehr befähigt, die geeigneten Mittel zur Ausführung unserer Pläne zu entdecken, als ihr Gatte. Beide erinnerten sich des Verschwindens der armen Grace Wilson und hatten sie in früherer Zeit öfter gesehen, aber waren wegen des abstoßenden Charakters ihrer Großmutter nie in Berührung mit ihr gekommen. Die ersten Vorschläge der guten Pfarrersfrau beseitigten sogleich mehrere erhebliche Schwierigkeiten. Sie sagte, ihr Gatte sei gewohnt, wenn er fremde Gäste bei sich erwarte, den von London kommenden Kutschen bis zu einem gewissen, ungefähr drei Meilen vom Dorfe entlegenen Orte in seinem eigenen Wagen entgegen zu fahren. Die letzte Kutsche passiere jenen Ort abends zwischen elf und zwölf Uhr, und sie schlage deshalb vor, dass ihr Gatte zur rechten Zeit vom Hause abfahre und die Anweisung hinterlasse, dass er eine Dame mitbringen werde, zu deren Empfange die nötigen Vorrichtungen zu treffen seien. Inzwischen sollten wir die Gefangene auf ihre Erlösung vorbereiten, und sie dann an jenen Ort bringen, wo Mr. Dalton mit seinem Wagen ihrer wartete.

Dieser Plan war nur in allgemeinen Umrissen angegeben worden, weshalb Mr. Davis die Frau ersuchte, ihm nach der Abtei zu folgen, um das Nähere mit mir zu besprechen. Ich hatte während seiner Abwesenheit ein eiliges Frühstück mit meinen Zöglingen genossen, und ihnen den plötzlichen Tod ihrer Stiefmutter angezeigt. Die Kinder erschraken natürlich bei dieser Nachricht, aber waren zu jung und zu ehrlich, um einen Schmerz zu erheucheln, den sie nicht empfanden. Die Dienstboten hatten das Ereignis durch den Mann erfahren, von dem Sinclairs Brief überbracht worden war. Sie machten pflichtgemäß ernste Gesichter und taten also alles, was von ihnen zu erwarten war; denn das unglückliche Weib hatte bei niemand Liebe oder Achtung gewonnen.

Ich war noch damit beschäftigt, die Anordnungen für die Trauer und andere Dinge zu geben, als mir gemeldet wurde, dass die Daltons gekommen seien. Davis und Mac Ivor fand ich bereits bei ihnen, und nach kurzer Begrüßung gingen wir sogleich auf den Gegenstand der Beratung ein, nämlich auf Mrs. Daltons Vorschlag. Ich erlaubte mir noch einiges hinzuzufügen, namentlich, dass die zu erwartende Dame ihr Gepäck durch irgend einen Unfall auf der Reise verloren habe und dadurch genötigt werde, Wäsche und Kleider von Miss Dalton zu entlehnen, so wie ferner, dass den Dienstboten vorher gesagt werde, die anlangende Dante sei leidend und werde sich sogleich zu Bett begeben.

Während unserer Besprechungen musste ich unwillkürlich daran denken, in welchem Dunkel wir uns eigentlich befanden, denn keiner von uns wusste, in welchem Zustande wir das arme Wesen finden würden, ob sie uns einlassen werde, und ob sie überhaupt aus dem Gefängnis werde entfernt werden können. Derartige Zweifel drängten sich mir fortwährend auf. Davis und ich sollten das Geschäft übernehmen, der Gefangenen die bevorstehende wichtige Veränderung anzuzeigen und sie darauf vorzubereiten; wir kamen überein, dass eine schriftliche Mitteilung am zweckmäßigsten sein werde. Sobald uns daher der Pfarrer und seine Frau verlassen hatten, entwarf ich ein Schreiben in den sanftesten Ausdrücken, worin ich dem unglücklichen Mädchen Lady Deightons Tod anzeigte und eins der von ihr hinterlassenen Papiere beifügte, welches eine genaue Beschreibung der geheimen Zugänge zu den verborgenen Gemächern und das Bekenntnis enthielt, dass eine Person darin gefangen gehalten werde. Ich sagte ihr, wer ich sei, versicherte sie meiner innigen Teilnahme und fügte hinzu, dass sie vorläufig in dem Hause des ihr bekannten Pfarrers, Mr. Dalton, ein Unterkommen finden werde, also nicht zu ihrer Großmutter gebracht werden solle, und dass fernerhin Freunde liebend für sie sorgen und nichts tun würden, was ihren Wünschen entgegen sei. Dann teilte ich ihr unsere Absicht mit, sie in der folgenden Nacht, wenn alles im Hause schlafe, aus dem Gefängnisse abzuholen, bat sie dringend, die inneren Riegel zu öffnen, und bemerkte, dass ich in einer Stunde kommen würde, um ihre Antwort zu erfahren, ohne jedoch dann einen Versuch zu machen, sie zu sehen.