Free

Das Geheimnis der Abtei

Text
iOSAndroidWindows Phone
Where should the link to the app be sent?
Do not close this window until you have entered the code on your mobile device
RetryLink sent

At the request of the copyright holder, this book is not available to be downloaded as a file.

However, you can read it in our mobile apps (even offline) and online on the LitRes website

Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

»Und halten Sie das für wahr?« fragte ich.

»Was soll ich sagen?« war seine Antwort. »Hier handelt es sich um eine Tatsache, die ein Augenzeuge bekundet, welcher jeder Ausschmückung durch erdachte Hinzufügungen unfähig ist. Ich kann der Erzählung meinen Glauben nicht versagen, und danke nur Gott, dass unsere englischen Mütter keine solche Sehergabe besitzen, um ihre Kinder damit auf den Tod zu erschrecken.«

»Hat Ihr Freund diese seltsame Gabe nicht ererbt?« fragte der Capitain Sinclair.

»Nein – ich glaube nicht,« entgegnete Mr. Davis etwas zögernd. »Mindestens habe ich nie gehört, dass er sich eines Blickes in die Zukunft rühmen könne. Aber wenn alles wahr ist, was man sich von ihm erzählt, so hat er zuweilen ein seltsames Erkenntnisvermögen in Bezug auf gegenwärtige Umstände.«

»Ein solches Erkenntnisvermögen ist nichts sehr Ungewöhnliches,« bemerkte ich lächelnd; »ich verstehe in der Tat nicht recht, was Sie meinen.«

»Ja, es ist schwer, das zu erklären, was man selbst nicht recht begreift. Er soll zu Zeiten eine Ahnung von der Nähe oder dem Vorhandensein eines Verbrechens haben. Er selbst spricht nicht gern darüber, denn nur einmal, so lange ich ihn kenne, habe ich aus seinem Munde eine darauf bezügliche Äußerung gehört und auch diese war nur ganz kurz ,als wenn er sich scheute, den Gegenstand zu berühren.«

»Was sagte er?«

»Er sagte, es sei wahr, dass ihn ein sonderbares, peinliches Gefühl an Orten beschleiche, wo eine böse Tat begangen worden, und dass er öfters durch dieses Gefühl auf eine nicht zu beschreibende Weise zu der Entdeckung des Verbrechers hingeführt worden sei.«

»Das ist nichts als eine Art von Wahnsinn,« sagte ich.

»Nie gab es wohl einen klareren und gesunderen Verstand auf Erden, als der seinige ist,« versetzte Mr. Davis mit Wärme.

»Hat er Beispiele von der Ausübung dieser seltsamen Fähigkeit angeführt?« fragte Sinclair.

»Nein. Er sagte, die Fälle seien selten und stets mit großer Unbehaglichkeit und selbst Qual für ihn verbunden. Damit Sie jedoch nicht glauben, dass ich selbst derartige wunderbare Geschichten erfinde, will ich Ihnen ein merkwürdiges Beispiel erzählen, das ich zwar nicht selbst erlebt, aber aus dem Munde seines Schreibers, eines ganz zuverlässigen Menschen, gehört habe, der dabei gegenwärtig war.«

»Oh, erzählen Sie!« riefen alle Stimmen, unter denen sich auch die meiner mit großer Spannung zuhörenden Zöglinge befanden.

»Ich brauche nicht die besonderen Umstände zu erwähnen,« begann er, »wegen deren Mac Ivor von einer verwitweten Dame zu Rat gezogen wurde, deren Schicksal von der Auffindung eines Testamentes abhing, welches ihr verstorbener Gatte errichtet hatte, und das, wie sie behauptete von irgendjemandem gestohlen und beiseite geschafft worden war. Die Witwe machte zwei Zeugen namhaft, welche es in ihrer Gegenwart unterschrieben hatten. Der eine derselben war gestorben; der andere, ein Dienstbote der Familie, bekundete, irgendein Dokument unterzeichnet zu haben, aber konnte nicht mehr mit Bestimmtheit angeben, was es betroffen habe, und glaubte, es sei nur eine Vollmacht für einen Anwalt gewesen. Mac Ivor hegte vom ersten Augenblicke an Misstrauen gegen den Neffen der Dame, welcher zwar ein reicher Mann, aber dennoch entschlossen war, sein Recht als nächster Intestaterbe geltend zu machen, obgleich die Witwe seines Oheims dadurch an den Bettelstab kommen musste. Er stieß jedoch bei Mac Ivor auf einen gefährlichen Gegner. Nachdem Letzterer in Erfahrung gebracht hatte, dass der noch lebende Zeuge von dem Neffen in Dienst genommen worden war, bestand er darauf, den Mann zu sehen und zu sprechen. Der Neffe machte viele Ausreden, schützte vor, derselbe sei abwesend, und später hieß es, er sei krank, allein Mac Ivor gab nicht nach; und nachdem er seine Absicht erklärt hatte, den Arzt zu sprechen, welcher den Mann behandelte, willigte der Neffe endlich ein, dass Mac Ivor ihn am folgenden Tage zu einer bestimmten Stunde in seinem Schlafzimmer besuchen dürfe. Bis dahin hatte Mac Ivor von dem beabsichtigten Besuche keinen anderen Erfolg erwartet, als den, durch ein scharfes Verhör des Mannes einiges Licht über das geheimnisvolle Verschwinden des Testamentes zu verbreiten. Der Schreiber, welcher mir die Geschichte erzählte, begleitete ihn nach dem Hause des Neffen und sagte, dass Mac Ivor sich auf dem Wege dahin ganz wie gewöhnlich mit ihm unterhalten, aber bei dem Eintritt in das Haus plötzlich starr um sich geblickt und die Farbe gewechselt habe. Ein Diener schritt ihm die Treppe hinauf voran, während der Schreiber hinter Mac Ivor folgte und deutlich sah dass sein Prinzipal mehrere Male wankte und sich halten musste. Als sie die Tür des Schlafzimmers erreichten, fasste er den Arm des Schreibers und zitterte sichtlich.«

»Aber,« erzählte Letzterer, »»als wir über die Schwelle traten, ließ mein Prinzipal meinen Arm los, stieß mich fast von sich und schritt geraden Wegs auf das Bett zu. Das Gemach war verdunkelt worden, so dass ich anfangs kaum den von den Kissen und Decken umhüllten angeblich Kranken zu erkennen vermochte. Mr. Mac Ivor riss die Decken fort und rief: »Hier ist keine Krankheit! Setzet Euch aufrecht!« Nie vorher hatte ich ihn mit einer so furchtbaren Stimme sprechen hören, wie in diesem Augenblicke. Der Mann richtete sich erschrocken auf, und sein Herr, welcher hinter den Bettvorhängen versteckt gewesen war, trat gleichfalls hervor und stand nun auf der anderen Seite des Bettes gegenüber. »Fragen Sie,« sagte er« »der Mann wird antworten. Er räumt ein, eine Unterschrift vollzogen zu haben, aber —.« Ohne seine Worte zu beachten, unterbrach ihn Mac Ivor. »Heraus damit!« rief er mit derselben Stimme wie vorher. »Heraus mit dem Testamente! Es liegt unter Eurem Kopfkissen!« Mit diesen Worten griff er unter das Bett und zog ein Dokument hervor. Der angebliche Kranke zitterte am ganzen Körper und war unfähig, es zu verhindern. Sein Herr tat einen Griff danach über das Bett und sagte einige sehr heftige Worte, aber Mac Ivor schob das Papier in seine Tasche und sagte nur: »Wenn ich nicht von Ihnen höre, so werden Sie von mir hören,« und verließ das Haus, während ich ihm wie ein Träumender folgte. Nie erwähnte er später des Vorfalls gegen mich, aber das Testament war gefunden, und die Dame erlangte ihr Recht.««

»Und was folgte darauf? Wurden der Diener und sein böser Herr nicht bestraft?« fragte ich.

»Der weitere Verlauf ist mir nicht bekannt,« versetzte Mr. Davis. »Die Dame wünschte dass die Sache verschwiegen bleibe. Es hieß, dass der Neffe über die Entdeckung des Testaments nicht minder als jeder andere erstaunt und der Meinung gewesen sei, dass der Mann die Urkunde vernichtet habe, welche er sich während der Krankheit seines früheren Herrn angeeignet hatte.«

»Die Erzählung befriedigt mich nicht recht,« bemerkte ich nach einer Pause; »über manche Punkte wünschte ich gründliche Auskunft zu haben.«

»Auch ich,« fügte Mr. Davis hinzu. »Einige Male habe ich versucht, bei Mac Ivor selbst auf die Sache anzuspielen, allein er fertigte mich jedes Mal kurz ab. Seine Antwort war nur, dass es allerdings ein merkwürdiger Fall sei, aber dass häufig vermisste Dokumente durch ganz zufällige Umstände wieder aufgefunden würden. Bei diesen Worten drückte sich zugleich eine solche Unruhe in seinem Gesichte aus, dass ich nicht länger von dem Gegenstande sprechen mochte.«

»Meine Meinung ist,« versetzte ich mit Bestimmtheit, »dass Mr. Ivor auf irgendeinem Privatwege Kenntnis von den Umständen erlangt hatte und mit Benutzung derselben den Mann einschüchterte und um Geständnisse brachte, sowie dass das Mystische in der Erzählung lediglich aus den Träumereien des Schreibers herrührt.«

Gegen diese Erklärung, welche der Geschichte allen Reiz raubte, protestierten meine beiden Zöglinge mit größtem Eifer, worauf sich die Unterhaltung einem anderen Gegenstande zuwendete.

Nachdem die Herren uns verlassen hatten, erschöpften sich beide Mädchen in Vermutungen über die Persönlichkeit dieses geheimnisvollen Mac Ivor. Janet, welche eine Neigung zum Romantischen hatte, meinte, dass er groß, mager und bleich sein, und schwarzes Haar, eine römische Nase und wild funkelnde, dunkle Augen haben müsse; wogegen Ellen behauptete, dass die Augen blau, die Nase griechisch und das Haar braun sein müssten.

Am nächsten Tage erschien der Held im Wohnzimmer, und zwar als ein freundlicher Mann, von kaum mittlerer Größe, mit einer sehr gewöhnlichen Nase, kleinen aber scharfen und klugen Augen und schwachem, rötlichem Haar. Er besaß jedoch ein sehr angenehmes Lächeln und eine fesselnde Ausdrucksweise, so dass wir alle bald mit größter Teilnahme der Schilderung seines Unfalls zuhörten, die er auf höchst komische Weise vortrug. Während des Mittagessens war er die Seele der Unterhaltung, voll von Anekdoten, und erzählte unaufhörlich, ohne ermüdend zu werden, so dass wir nichts tun konnten, als zuhören und lachen.

Der angenehme gesellige Verkehr in der Abtei währte mehrere Tage, in denen wir immer vertrauter mit den uns vom Zufalle zugeführten Gästen wurden. Sobald sie daher von ihrer Abreise zu sprechen begannen, erhob sich jede Stimme dagegen, und auch Capitain Sinclair bat sie, nicht eher daran zu denken, als bis Mac Ivor den Gebrauch seines gebrochenen Armes völlig wiedererlangt habe.«

»Auf jeden Fall« sagte Mr. Davis, »möchte ich vor unserer Abreise diese seltsame Mischung von Gebäuden, »die graue Abtei« genannt, in näheren Augenschein nehmen. ich bin nämlich ein halber Architekt und Altertümler, und habe bereits drei Höfe besichtigt und in so zahllose kleine Fenster geschaut, dass ich ein brennendes Verlangen trage, mit den Räumen und Gängen des Innern näher bekannt zu werden.«

»Sie müssen sich die Küche und die Kapelle ansehen,« bemerkte ich, »es sind die größten Merkwürdigkeiten des Gebäudes, – vielleicht die einzigen, welche wirklich sehenswert sind.«

 

»Erst der Segen, dann der Braten,« wandte Mac Ivor scherzend ein. »Sie hätten sagen sollen, die Kapelle und die Küche.«

»Sie können sie diesen Abend noch sehen, – in fünf Minuten, wenn es Ihnen gefällt,« bemerkte der Capitain Sinclair. »Was die übrigen, seit langer Zeit verschlossenen Teile der Abtei betrifft, so weiß ich wirklich nicht, ob die alte Haushälterin, welche mindestens seit fünfzig Jahren hier ist, alle Schlüssel dazu wird finden können. Ich selbst habe nie eine solche Reise versucht.«

»Ist es möglich?« rief Mac Ivor. »Wohnte ich hier, so würde ich nicht eher ruhen, als bis jeder Winkel untersucht worden wäre. Ich möchte gern mehr über diesen Ort hören. Ohne Zweifel gibt es hier Spukzimmer, verborgene Gänge, geheime Türen und dergleichen, und wahrscheinlich hat sich auch König Carl II. auf seiner Flucht hier verborgen gehalten.«

»Nun, Mr. Mac Ivor, « sagte ich« »Sie haben vielleicht mit Ihren Vermutungen nicht ganz unrecht. Es soll in der Tat ein geheimes Zimmer in der Abtei geben, – nicht wahr, Captain Sinclair?«

»Ja, ich habe so etwas gehört,« erwiderte er. »Aber wenn es auch da ist, so werden Sie es schwerlich sehen können, denn kein menschlichen Wesen weiß es zu finden.«

»Ist es möglich?« riefen beide Herren.

»Ganz gewiss,« versetzte der Capitain. »Meine Frau allein würde vielleicht im Besitze des Geheimnisses sein, wenn Sir Thomas nicht so plötzlich gestorben wäre. Es ist bekannt in der Umgegend, dass mindestens ein, vielleicht auch zwei und mehr geheime Zimmer in der Abtei vorhanden sind. Der Sage nach ist das Geheimnis jedem Besitzer des Grundstücks unter eidlicher Angelobung des tiefsten Schweigens von seinem Vorgänger vertraut und unter derselben Bedingung auf dessen Erben übertragen worden; allein obgleich meine Frau in den Besitz der Abtei gekommen ist, so hat ihr erster Gemahl, Sir Thomas, doch niemals über diesen Gegenstand mit ihr gesprochen.«

»Ich möchte doch an der Existenz dieser geheimen Zimmer zweifeln,« wandte ich ein.

»Etwas Wahres mag wohl daran sein,« erwiderte Sinclair. »Ein Farmer aus der Nachbarschaft erzählte mir, dass er sich deutlich des Geschreis und Lärmens in der Umgegend zur Zeit des Prätendenten wegen mehrerer verdächtiger Personen erinnere, deren Spuren bis zur Abtei verfolgt worden waren. Es wurde strenge Nachsuchung in allen Teilen des Gebäudes gehalten, und eine Abteilung Soldaten bewachte es mehrere Wochen lang, allein nichts ließ sich von den Flüchtlingen innerhalb und außerhalb der Mauern entdecken. Später jedoch, nachdem die Nachforschungen als fruchtlos aufgegeben worden waren, erzählte mein Berichterstatter, habe sein Vater in der Nacht mehrere Personen die Abtei verlassen, an das Meeresufer eilen, dort ein Boot besteigen und nach einem in geringer Entfernung liegenden Schiffe fahren sehen. Der Mann, welcher einen kleinen Schmuggelhandel betrieb, war genötigt gewesen, sich in einer Höhle der Klippen zu verbergen, aus der er ein dort verstecktes Fass Rum hatte holen wollen, und erkannte bei dieser Gelegenheit deutlich Sir Ralph Deighton, den damaligen Besitzer der Abtei, welcher die erwähnten Personen bis an das Ufer begleitet hatte, von ihnen Abschied nahm und dann nach der Abtei zurückkehrte.

»Haben Sie nie den Versuch gemacht, diese Zimmer zu entdecken?« fragte Mac Ivor.

»Unser Pfarrer, Mr. Dalton, hat unaufhörlich danach gesucht und die Pläne der älteren Teile des Gebäudes, in denen sich diese Gemächer befinden müssen, sofern sie überhaupt vorhanden sind, dabei zu Rate gezogen, aber —«

»Ohne Erfolg?«

»Ohne den geringsten.«.

»Dennoch würde ich nicht eher ruhen, als bis ich sie gefunden hätte,« erklärte Mac Ivor.

»Aber zu welchem Zwecke?« versetzte der ruhige Sinclair. »Es sind mehr als hundert zugängliche Zimmer in der Abtei vorhanden; welchen Nutzen hätte es also, die Zahl derselben noch um zwei oder drei zu vermehren, die mutmaßlich ebenso verfallen und unbequem sein würden, wie die anderen?«

Gegen dieses vernünftige Argument konnte niemand etwas einwenden, und fröhlichen Sinnes brachen wir sämtlich auf, um unseren Gästen die Merkwürdigkeiten der Abtei zu zeigen, ohne zu ahnen, dass die nächste Stunde das erste Glied einer Kette von Ereignissen bringen werde, welche schweres Unglück über unseren gütigen und gefälligen Wirt verhängen sollten.

Zuerst besuchten wir die Küche, in deren Einrichtung wenig verändert sein mochte seit jener Zeit, in der sie mehr als hundert Mönche und Dienstleute gespeist hatte. Es mochten übrigens jetzt beinahe ebenso viele Personen ihre Nahrung aus derselben empfangen, denn die Zahl der Dienstboten war sehr groß, und außer ihnen wurden noch viele Tagelöhner in der Abtei beschäftigt. Das Feuer, welches ohne Unterbrechung auf dem Herde brannte, war vielleicht nicht kleiner als jenes gewesen, das zur Zeit der Äbte gebrannt hatte.

Nicht ungern verließen wir die glühende Atmosphäre, um uns nach der Kapelle zu begeben, welche mit der Küche einen ganzen Flügel der Abtei einnahm. Hier gab es viel Interessantes für Männer von Bildung und Geschmack. Die dort befindlichen Schnitzereien waren sehr schön, aber alles sah vernachlässigt und dem Verfall entgegengehend aus. Am westlichen Ende, dem Altar gegenüber und oberhalb der Tür, durch die wie eingetreten waren, befand sich die sogenannte Abtsgalerie. Sie erstreckte sich durch die ganze Breite dieses Teiles der Kapelle, welche man von ihr aus überblicken konnte, und hatte an jedem Ende einen für zwei Personen genügenden Raum, der durch ein reich geschnitztes hölzernes Gitter verdeckt war. Hier war, so hieß es, der Sitz des Abtes gewesen, um die Mönche ungesehen beobachten zu können. In der hinteren Wand der Galerie befand sich eine Tür, welche einen Verbindungsweg zu den Zimmern des Abtes eröffnete; und zu der Galerie selbst gelangte man von der Kapelle aus durch eine kleine Wendeltreppe, die zu einer niedrigen Pforte oberhalb führte.

Wir wanderten zerstreut umher, uns durch Zurufen auf die verschiedenen Sehenswürdigkeiten aufmerksam machend, als ich Mac Ivor, an einen Pfeiler gelehnt und in Gedanken versunken, am westlichen Ende der Kapelle stehen sah. Bald darauf stieg er die eben erwähnte kleine Treppe hinauf, ging durch die oben befindliche Pforte und entschwand meinen Blicken. Ich suchte ihn in dem offenen Teile der Galerie, aber konnte ihn nicht entdecken; und da mich in demselben Augenblicke jemand anredete, so vergaß ich ihn, bis wir die Kapelle zu verlassen im Begriffe waren und Mr. Davis nach seinem Freunde Mac Ivor zu rufen begann.

»Ich sah ihn vor wenigen Minuten die Abtstreppe hinaufgehen,« sagte ich.

»Aber ich sehe ihn doch nicht in der Galerie,« erwiderte er und begann von Neuem zu rufen.

»Er wird durch den Gang in die Abtei gegangen sein,« bemerkte eins der beiden jungen Mädchen.

Capitain Sinclair blickte mich an, so wie ich ihn, und ich sah, dass er gleich mir an die Nähe der von seiner Frau bewohnten Zimmer dachte. Ohne ein Wort zu äußern stieg er schnell die Treppe hinauf und erschien in der Galerie.

»Davis,« rief er gleich darauf herab, kommen Sie hierher! Ihrem Freunde ist etwas zugestoßen, er hat einen Anfall, eine Ohnmacht, oder etwas Ähnliches bekommen.«

Mr. Davis rannte eiligst hinauf, und ich folgte, weil ich zufällig etwas flüchtiges Salz bei mir hatte. Letzterer hob den am Boden liegenden Mac Ivor auf, welcher bleich und bewusstlos war, während seine Augen starr und weit geöffnet waren.

»Wir müssen ihn nach der Abtei schaffen,« sagte Sinclair, worauf beide den Ohnmächtigen den Gang entlang zu tragen begannen, als plötzlich Lady Deighton die Türe ihres Wohnzimmers öffnete, an der sie vorüber mussten, und nach der Ursache des ungewöhnlichen Geräusches fragte.

Sie war bald erklärt. Natürlich hatte die Dame von der Anwesenheit der Gäste gehört, aber beide nie gesehen, und bestand jetzt mit aller ihr dann und wann zu Gebote stehenden Höflichkeit darauf, dass der Kranke in ihr Zimmer gebracht und dort auf das Sofa gelegt werde. Ich hielt das Salz an seine Nase, dessen Schärfe ihn bald zu sich brachte. Er hob den Kopf auf und blickte wild umher. Sein Gesicht war leichenblass, der Mund sprachlos und die Augen stierten sinnlos die ihn umgebenden Gegenstände an, bis sie endlich auf Lady Deighton ruhen blieben und ein sonderbarer Ausdruck in seinen Zügen hervortrat.

»Ich bin Ihrem Freunde unbekannt, was nicht sein sollte,« sagte die Dame lächelnd zu Mr. Davis »allein jedermann kennt mich als eine Leidende und hat deshalb Nachsicht mit mir. Sie werden auch, hoffe ich,« fuhr sie, Mac Ivor näher tretend mit so einnehmender Miene, fort, wie ich selten an ihr wahrgenommen, »Sie werden auch. hoffe ich —«

Plötzlich aber hielt sie inne, und man denke sich unser Erstaunen, als wir ihn beide Hände heftig vorstrecken sahen, als wollte er sie von sich stoßen.

»Zurück!« rief er. »Zurück!«

Sie blieb stehen, und wir blickten uns alle erstaunt an.

»Fort!« wiederholte er schwächer als vorher, aber mit demselben Ausdrucke von Abscheu.

Mr. Davis ergriff in seiner Bestürzung Mac Ivors Arm und sagte: »Wir müssen ihn nach seinem eigenen Zimmer bringen!« worauf Sinclair nicht minder verwirrt und erschreckt, den anderen Arm desselben mit der Bemerkung ergriff, dass er den Weg zeigen wolle. Sie verließen das Zimmer und ich folgte ihnen, kaum wissend was ich tat. Welchen Eindruck dieses seltsame Benehmen auf Lady Deighton machte, habe ich nie erfahren. Erst nachdem ich mich bereits einige Zeit in meinem Zimmer befunden hatte, fiel mir ein, dass ich sie nach einem so sonderbaren Ereignis nicht hätte verlassen sollen, allein es war geschehen und nicht mehr zu ändern. Meine Zöglinge waren uns nicht nach der Abtsgalerie gefolgt, sondern hatten die Kapelle auf dem gewöhnlichen Wege verlassen.

Als Mr. Davis sich beim Tee wieder zu uns gesellte, sah er sehr aufgeregt aus, aber brachte dessen ungeachtet gute Nachricht in Betreff seines Freundes, indem er sagte, dass derselbe sich von dem Anfalle völlig erholt habe und nur auf seine Bitte zu Bett gegangen sei, weil er sich noch angegriffen fühle. Eine Erklärung von Mac Ivors Betragen gegen Lady Deighton gab er nicht, und erwähnte desselben mit keinem Worte. Nach dem Tee kehrte er zu seinem Freunde zurück, und kam erst in dem Augenblicke wieder zu uns, als wir im Begriffe waren, uns für die Nacht zu trennen. Während ich einen nach meinem Zimmer führenden Gang entlang schritt, hörte ich ein leises Geräusch hinter mir und gewahrte, rückwärts blickend, Mr. Davis, welcher mit leisen und eiligen Schritten mich einzuholen suchte.

»Miss Vernon,« flüsterte er mir zu, »hätten Sie die Gefälligkeit, morgen früh allein in den Garten zu kommen? Ich wünschte, mit Ihnen sprechen zu können. Bitte, kommen Sie, wenn es möglich ist, Sie werden mir dadurch eine große Gunst erzeigen.«

»Gewiss,« erwiderte ich erstaunt, und fügte nach kurzem Bedenken hinzu: »Ich werde um sieben Uhr auf der Bank in der Laube sein.«

»Danke, danke!« rief er und entfernte sich.

Die eigentümliche Beschaffenheit dieses kurzen Gesprächs machte einen solchen Eindruck auf mich, dass ich alles, was sich seit Mac Ivors Anfall in der Kapelle ereignet hatte, zu Papier brachte. Später folgten die seltsamsten Begebenheiten so schnell auf einander, dass ich jeden Abend die Ereignisse des Tages umständlich niederschrieb, was mich in den Stand setzt, jetzt eine getreue Schilderung jener kurzen, aber entsetzlichen Episode in meinem bis dahin so ruhigen Leben zu geben.

Um sieben Uhr traf ich Mr. Davis an dem verabredeten Orte bereits an. Er grüßte freundlich, und als wir uns gesetzt hatten, begann er folgendermaßen:

»Meine liebe Miss Vernon, ich kann Ihnen nicht sagen, wie lieb es mir ist, hier eine Freundin in Ihnen gefunden zu haben, denn ich weiß wahrlich nicht, was ich tun soll, und bedarf des Rates.«

Ich murmelte etwas von Bereitwilligkeit, obgleich ich selbst nicht geringe Verlegenheit empfände, worauf er mir dankte und fortfuhr:

»So groß auch meine peinliche Unruhe ist, so kann ich mir doch nicht verhehlen, dass etwas Lächerliches in der Mittheilung liegt, welche ich Ihnen zu machen habe. Mac Ivor hat wieder eine Anwandlung seiner Sehergabe, und zwar in Bezug auf diese alte Abtei gehabt. Diesen Morgen ist er ruhiger und vernünftiger, aber in der vorigen Nacht phantasierte er unaufhörlich von einer verbrecherischen Atmosphäre, die ihn umgebe. In der Küche erwachte das Gefühl in ihm, sagte er, und wurde in der Kapelle und namentlich in der Abtsgalerie jeden Augenblick stärker, so dass es ihn endlich vollkommen übermannte, und als er, aus der Betäubung erwachend, Lady Deighton vor sich sah, war ihm augenblicklich klar, dass es sich auf sie beziehe.«

»Gerechter Himmel!«

»Ja, das mögen Sie wohl rufen. Unmöglich kann ich Ihnen erzählen, was er in der vorigen Nacht alles gesagt hat; aber selbst diesen Morgen bleibt er bei der Behauptung stehen, dass ein schweres Verbrechen hier begangen worden sei. Etwas Näheres und Bestimmtes kann er nicht angeben, aber er versichert, dass es in irgendeiner Beziehung zu Lady Deighton stehe. Sie habe entweder Sir Thomas ermordet, vermutet er, oder letzterer lebe noch irgendwo in der Abtei versteckt, – vielleicht in einem der geheimen Gemächer, und —«

 

»Er ist verrückt,« rief ich ärgerlich. »Sir Thomas starb in seinem Bett, gerade so, wie es die Ärzte unzählige Male prophezeit hatten, und zu verwundern war nur, dass er überhaupt so lange gelebt hat. Nicht tot und begraben, – eine lächerliche Idee! Dr. Sanders sah und untersuchte den Leichnam und schilderte uns den Ausdruck seiner Züge, wie ich mehrere Male aus seinem Munde gehört habe. Was sollen wir mit dem Wahnsinnigen machen, Mr. Davis? Gut ist es, dass Sie gestern so entschieden von der Abreise gesprochen haben. Es tut mir unendlich leid, allein Sie werden einsehen, dass er schleunigst von hier entfernt werden muss.«

»Ja,« erwiderte Davis mit komisch trauriger Miene, »das ist schon wahr, allein – er will nicht gehen.«

»Will nicht gehen?«

»Nein, er weigert sich ganz entschieden und erklärt, dass er nach der Entdeckung einer solchen Spur warten müsse, um zu sehen, wohin sie führe. Nie zuvor, versichert er, sei dieses übernatürliche Gefühl so gewaltig in ihm gewesen. Er will sich ganz ruhig verhalten, aber nicht eher den Ort verlassen, als bis ihm völlige Aufklärung geworden.«

»Das ist unerträglich und kann unmöglich gestattet werden,« versetzte ich. »Sie müssen an seine Verwandten schreiben. Hat er keine Brüder?«

»Ja, zwei Brüder, von denen der eine sich glücklicherweise gerade jetzt in Bath befindet und ein recht verständiger Mann ist. Ich will ihm sogleich schreiben und ihn bitten, hierher zu kommen. Wenn ich den Brief nach heute auf die Post gebe, so kann er am Donnerstagabend schon hier sein.«

»Gut,« sagte ich, »so lange, bis er eintrifft, müssen wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um Ihren Freund zu unterhalten und zu zerstreuen: namentlich muss er viel in der freien Luft und der Abtei möglichst fern gehalten werden. Es gibt manche hübsche Punkte in der hiesigen Umgegend, die besucht werden müssen, so dass jeder Tag eine Abwechslung bietet. Meine Zöglinge werden sich freuen. Schade, recht schade! Nie habe ich Capitain Sinclair so heiter und umgänglich gesehen, wie in der Zeit Ihres Hierseins.«

»Ihr Plan scheint mir der zweckmäßigste zu sein, den wir finden können.« bemerkte Mr. Davis. »Auf diese Weise wird Mac Ivor von seinen Gedanken abgezogen werden, ermüdet heim kommen und sich dann ruhig verhalten. Ein paar Tage vergehen schnell.«

»Ja,« erwiderte ich, aber um eins muss ich bitten.«

»Was ist es?« fragte er.

»Mich nie mit meinen Zöglingen in seiner Gesellschaft allein zu lassen.«

»O, das will ich gern versprechen,« antwortete er lachend. »Gefährlich ist er durchaus nicht, aber dessen ungeachtet will ich strenge Wache über ihn halten.«

Nach dieser Unterhaltung begaben wir uns zum Frühstück. Das Folgende ist die Abschrift dessen, was ich am Abende desselben Tages für mein Tagebuch niederschrieb.