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Armadale

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Im Verlauf einer weitem Viertelstunde hatte der Doctor seine Ansichten iiber Küche und Diät entwickelt; die Besucher, gebührend mit Prospecten versehen, verabschiedeten sich von ihm an der Thür. »Wirklich ein geistiger Genuß!« sprachen sie zu einander, als sie, eine schmuck gekleidete Procession, aus dem Gitterthor strömen. »Und was für ein ausgezeichneter Mann!«

Zerstreut vor sich hinsummend, kehrte der Doctor zur Apotheke zurück und vergaß ganz, daß Miß Gwilt in einer Ecke der Halle aus ihn wartete. Nach kurzem Zaudern folgte sie ihm. Der Gehilfe war im Zimmer, im Augenblicke erst von seinem Herrn beschieden, als sie eintrat.

»Doctor«, sagte sie kalt und mechanisch, als wenn sie eine eingelernte Lectüre aussagte, »wie die andern Damen hätte ich sehr gern gesehen, was in Ihrem hübschen Schranke ist. Wollen Sie jetzt, wo die Andern fort sind, mir nicht zeigen, was sich darin befindet?«

Der Doctor lachte in seiner angenehmsten Weise.

»Die alte Geschichte«, sprach er. »Blaubart’s verschlossene Kammer und Weiberneugier! – Bleiben Sie, Benjamin, bleiben Sie. – Meine liebe Dame, welches Interesse können Sie denn an einer Arzneiflasche nehmen, weil diese eben zufällig eine Giftflasche ist?«

Zum zweiten Male sagte sie ihre Lectüre auf.

»Es interessiert mich, mir die Flaschen zu besehen«, entgegnete sie, »und dabei zu denken, welche furchtbaren Dinge sie anrichten könnten, wenn sie in mancher Leute Hände kämen.«

Mit einem mitleidigen Lächeln sah der Doctor seinen Gehilfen an.

»Wundersam, Benjamin«, sagte er; »der unwissenschaftliche Geist faßt selbst unsere Arzneien romantisch auf. Meine Verehrte«, wandte er sich wieder an Miß Gwilt, »wenn nur das Gift und das Unheil, welches es stiften könnte, Sie an der Sache interessieren, so brauche ich Ihnen nicht erst meinen Schrank aufzuschließen. Sie brauchen sich nur in den Regalen umzusehen, die rund um das Zimmer laufen. In diesen Flaschen befinden sich alle möglichen medicinischen Flüssigkeiten und Substanzen, die, an sich meist harmlos und nützlich, in Verbindung mit andern Substanzen und andern Flüssigkeiten so gräßliche und tödtliche Gifte werden können wie nur irgend eins, das ich dort unter Schloß und Riegel halte.«

Sie sah ihn. einen Augenblick an und schritt dann auf die andere Seite des Zimmers hinüber.

»Zeigen Sie mir eins!« bat sie.

Noch immer gutgelaunt lächelnd, willfahrte der Doetor seiner Nervenkranken. Er wies auf die Flasche, aus der er gestern im Stillen die Flüssigkeit ausgegossen und die er mit einer die Farbe sorgfältig nachahmenden Mixtur seiner eigenen Fabrikation wieder gefüllt hatte.

»Sehen Sie die Flasche dort?« fragte er, »die dicke, runde, behaglich aussehende Flasche? Auf den Namen der Flüssigkeit darin kommt es nicht an, wir halten uns an die Flasche und unterscheiden Sie, wenn Sie so wollen, von andern durch einen Namen unserer eigenen Erfindung. Wie wäre es, wenn wir sie unsern starken Freund nennten? Vortrefflich. Unser starker Freund ist an sich eine ganz harmlose und nützliche Arznei; Tag für Tag wird er in der ganzen civilisirten Welt Zehntausenden von Patienten verordnet. Er hat noch keine romantische Rolle vor Grichtshöfen gespielt, noch kein athemloses Interesse in Romanen erregt, noch nicht auf der Bühne die Zuschauer in Schrecken gesetzt. Da ist er, ein unschuldiges, harmloses Geschöpf, das Niemand die Nothwendigkeit auflegt, ihn hinter Schloß und Riegel zu legen. Bringen Sie ihn aber mit etwas Anderm in Berührung, machen Sie ihn mit einer gewissen gewöhnlichen mineralischen Substanz bekannt, die aller Welt leicht zugänglich ist, nehmen Sie etwa sechs Dosen von unserm starken Freund und gießen Sie diese in Zwischenräumen von ungefähr fünf Minuten nacheinander auf die Mineralstückchem die ich eben erwähnte. Bei jedem Aufguß werden Mengen kleiner Blasen entstehen; fangen Sie nun das Gas dieser Blasen auf und führen es in ein verschlossenes Zimmer über, wenn dann auch Simson selbst in diesem verschlossenen Zimmer wäre, unser starker Freund wird ihn in einer halben Stunde tödten, wird ihn langsam tödten, ohne daß er etwas sieht, ohne daß er etwas riecht, ohne etwas Anderes zu fühlen als Schläfrigkeit, wird ihn tödten und dem Collegium der Aerzte nichts erzählen, wenn es seine Todtenschau abhält, nichts weiter, als daß er am Schlagfluß oder Lungenlähmung gestorben ist! Was meinen Sie, meine liebe Dame, klingt das nicht geheimnißvoll und romantisch? Interessiert Sie jetzt unser harmloser starker Freund nicht ganz ebenso, als erfreute er sich der nämlichen fürchterlichen Popularität wie Arsenik und Strychnin, die ich dort im Schranke eingeschlossen habe? Denken Sie nicht, daß ich übertreibe! Denken Sie nicht, daß ich eine Geschichte erfinde, um Sie los zu werden, wie die Kinder sagen! Fragen Sie Benjamin da«, sagte der Doctor, an seinen Gehilfen appellierend, während seine Augen Miß Gwilt fixierten. »Fragen Sie Benjamin«, wiederholte er und legte auf die folgenden Worte den stärksten Nachdruck, »fragen Sie, ob sechs Dosen aus jener Flasche, von fünf zu fünf Minuten aufgegossen, unter den Ihnen erörterten Bedingungen nicht die Wirkung hervorbringen würden, die ich Ihnen geschildert habe.«

Der Apotheker, der Miß Gwilt aus der Ferne bescheiden bewunderte, stand erröthend auf, offenbar geschmeichelt von der kleinen Aufmerksamkeit, die ihn mit in das Gespräch gezogen hatte.

»Der Herr Doctor hat ganz Recht, Madame«, redete er unter seiner besten Verbeugung Miß Gwilt an; »das erzeugte Gas würde in einer halben Stunde vollkommen «seine Schuldigkeit thun. Und«, setzte er hinzu, um seinerseits einige chemische Kenntniß an den Tag legen zu können, »das nach Ablauf einer halben Stunde ausgeströmte Volumen des Gases würde, wenn ich mich nicht täusche, Sir, in weniger als fünf Minuten schon Jedem gefährlich werden, der das Zimmer beträte.«

»Ohne Zweifel, Benjamin«, entgegnete der Doctor. »Für jetzt aber, denke ich, haben wir genug der Chemie gehabt«, wandte er sich an Miß Gwilt. »So sehr mir am Herzen liegt, Verehrteste, jeden Ihrer selbst flüchtigen Wünsche zu befriedigen, erlaube ich mir doch ein erfreulicheres Thema vorzuschlagen. Ich dachte, wir verließen die Apotheke, ehe sie Ihrem forschenden Geiste noch andere Fragen eingibt. Nein? Sie wollen ein Experiment sehen? Sie möchten gern sehen, wie die kleinen Blasen erzeugt werden? Gut, gut! Da ist nichts Arges dabei. Wir wollen Mrs. Armadale die Blasen zeigen«, fuhr er im Tone eines Vaters fort, der einem verzogenen Kind den Willen thut. »Sehen Sie, ob Sie ein paar Stücke von dem, was wir brauchen, finden können, Benjamin. »Ich glaube wohl, die Arbeiter, die nachlässigen Burschen, haben etwas der Art im Hause oder im Garten zurückgelassen.

Der Hausapotheker ging aus dem Zimmer.

Sobald er den Rücken gewandt hatte, begann der Doctor mit dem Gebaren eines Mannes, der etwas eilig braucht und nicht gleich weiß, wo er es suchen soll, an verschiedenen Stellen der Apotheke eine Reihe von Kästen auf- und zuzuschließen. »Gott im Himmel!« rief er aus, plötzlich vor dem Kasten stehen bleibend, aus dem er gestern seine Einladungskarten herausgenommen hatte, »was ist das? Ein Schlüssel? So wahr ich lebe, ein zweiter Schlüssel zu meinem Räucherungsapparat oben! Ach Beste, Beste, wie nachlässig ich werde«, sagte der Doctor, sich rasch nach Miß Gwilt umdrehend; »ich habe auch nicht die leiseste Ahnung von der Existenz dieses zweiten Schlüssels gehabt; ich würde ihn nicht vermißt haben, ich versichere Ihnen, ich hätte ihn nicht vermißt, wenn mir ihn Jemand aus dem Kasten genommen hätte!« Ohne den Kasten zu verschließen oder das Schlüsselduplicat an sich zu nehmen, trippelte er geschäftig nach der andern Seite des Zimmers.

Schweigend hatte ihm Miß Gwilt zugehört, schweigend glitt sie an den Kasten, schweigend nahm sie den Schlüssel heraus und versteckte ihn in ihrer Schürzentasche.

Der Apotheker brachte in einer Schüssel die gewünschten Steinbrocken »Ich danke Ihnen, Benjamin«, sagte der Doctor »Gießen Sie gefälligst Wasser darauf, während ich die Flasche herunterhole.«

Wie manchmal in den bestorganisierten Familien böse Zufälligkeiten eintreten, so überkommt oft die Ungeschicklichkeit die vollkommenst geschulten Hände. Als der Doctor die Flasche vom Regale herunternehmen wollte, entglitt ihm die Flasche und zerschellte auf dem Boden in Stücke.

»Ach, meine Finger!« rief der Doctor in komischem Aerger. »Wie kann mir so ein fataler Streich passieren? Doch, doch – ’s ist nun nicht mehr zu ändern. Haben Sie noch etwas davon, Benjamin?«

»Nicht einen Tropfen, Sir.«

»Nicht einen Tropfen!« wiederholte der Doctor. »Meine beste Dame, wie kann ich mich bei Ihnen unschuldigen? Für heute hat meine Ungeschicklichkeit unser kleines Experiment unmöglich gemacht. Erinnern Sie mich daran, Benjamin, daß wir morgen wieder etwas bestellen und bemühen Sie sich nicht, die Scherben aufzulesen. Einer hölzernen Diele und einem drohenden Wischlappen gegenüber ist unser starker Freund harmlos genug! Es thut mir so leid, so aufrichtig leid, daß ich in Ihnen vergebliche Erwartungen erregt habe.« Mit diesen Beruhigungsworten bot er Miß Gwilt den Arm und führte sie aus der Apotheke hinaus.

»Sind Sie jetzt mit mir fertig?« fragte sie, als sie durch die Halle gingen.

»Ach, Gott, wie Sie das auffassen!« rief der Doctor aus. »Um sechs Uhr speisen wir zu Mittag«, setzte er in vollendeter Höflichkeit hinzu, als sie sich in schweigender Verachtung von ihm abwandte und die Treppe nach ihrem Zimmer hinaufstieg.

Eine Uhr der geräuschlosesten Art, unfähig, reizbare Nerven zu afficiren, hing auf dem ersten Treppenabsatz an der Wand. Im Augenblicke, wo die Weiser auf dreiviertel sechs zeigten, wurde das Schweigen des öden oberen Stockwerks durch das Rauschen von Miß Gwilt’s Kleide unterbrochen. Sie bewegte sich längs des Corridors der ersten Etage, blieb bei dem vor Nummer vier in der Wand angebrachten Apparat stehen, horchte eine Minute und schloß dann den Deckel auf.

 

Der offene Deckel warf einen Schatten auf das Innere des Behältnisses. Was sie zuerst sah, war nichts Anderes, als was sie schon gesehen hatte: der Krug, die Röhre und der im Korkstöpsel eingefügte Trichter. Sie entfernte den letzteren und bemerkte auf dem dicht daneben befindlichen Fensterstocke einen Stab, an dessen Spitze zum Anzünden des Gases ein Stückchen Wachsstock befestigt war. Diesen Stock nahm sie und ihn durch die vorher von dem Trichter geschlossene Oeffnung in den Krug einführend, bewegte sie ihn in diesem auf und nieder. Ein schwaches Plätschern und der kratzende Ton an harten Körpern, die sie umrührte, drangen an ihr Ohr. Sie zog den Stab wieder heraus und berührte das daran haftende Naß vorsichtig mit der Zunge. Diesmal war die Vorsicht unnöthig gewesen, die Flüssigkeit war Wasser.

Den Trichter wieder an seinem Platz befestigend, gewahrte sie in dem schwach beleuchteten Raume neben dem Kruge einen matt schimmernden Gegenstand. Sie hob ihn heraus und brachte ein Flacon von Rubinglas zum Vorschein. Die Flüssigkeit, mit der es gefüllt war, ließ sich durch das durchscheinende hellere Krystallglas erkennen; an der einen Seite der Flasche zeigten sich sechs dünne Papierstreifen angeheftet, welche den Inhalt in sechs gleiche Theile theilten.

Jetzt war es keinem Zweifel mehr unterworfen, daß der Apparat insgeheim für sie hergerichtet worden war, der Apparat, zu dem sie außer dem Doctor einzig und allein den Schlüssel besaß.

Sie stellte das Flacon wieder hin und verschloß den Kasten. Ein paar Sekunden blieb sie, den Schlüssel in der Hand, noch stehen und sah sich die Vorrichtung an. Mit einem Male kehrte die Farbe auf ihre Wangen und mit ihr ihre natürliche Lebhaftigkeit zurück. Athemlos eilte sie auf ihr Zimmer im zweiten Stocke; mit raschen Händen riß sie den Mantel aus dem Kleiderschranke und nahm den Hut aus der Schachtel. »Ich bin nicht im Gefängniß« brach sie heftig aus. »Noch habe ich den Gebrauch meiner Glieder! Sobald ich erst wieder aus diesem Hause bin, kann ich gehen, wohin ich will!«

Den Mantel um die Schultern, den Hut in der Hand schritt sie nach der Thür. Noch einen Augenblick, und sie wäre draußen auf dem Corridor gewesen. In diesem Moment trat ihr der Gedanke an ihren Gatten wieder vor die Seele, an ihn, den sie ins Gesicht hinein verleugnet hatte. Sofort hemmte sie ihren Lauf und schleuderte Mantel und Hut auf ihr Bett. »Nein«, sagte sie, »der Abgrund zwischen uns ist gegraben, das Schlimmste schon vollbracht!«

Da klopfte es an die Thür Höflich mahnte sie draußen die Stimme des Doctors, daß es sechs Uhr sei.

Sie öffnete die Thür und hielt ihn auf.

»Um welche Zeit trifft heute der Zug ein?« fragte sie flüsternd.

»Um zehn Uhr«, antwortete der Doctor so unbefangen und laut, daß alle Welt ihn hätte hören können.

»Was für ein Zimmer soll Mr. Armadale eingeräumt werden, wenn er kommt?«

»Welches Zimmer möchten Sie für ihn haben?«

»Nummer vier.«

Bis zuletzt wahrte der Doctor den Schein.

»Sei es denn Nummer vier«, sagte er verbindlich, »vorausgesetzt natürlich, daß Nummer vier zur Zeit unbesetzt ist.«

Der Abend verstrich und die Nacht brach herein.

Einige Minuten vor zehn war Bashwood wieder auf seinem Posten, um abermals den kommenden Zug abzuwarten.

Der dienstthuende Inspector, der ihn von Angesicht kannte und sich nachgerade überzeugt hatte, daß Bashwood’s regelmäßige Anwesenheit auf dem Bahnhofe keine Speculationen auf die Koffer und Geldbeutel der Reisenden involviere, nahm heute Nacht zweierlei wahr. Erstens sah Bashwood, anstatt seine gewöhnliche Heiterkeit zu zeigen, sorgenvoll und niedergeschlagen aus, und sodann wurde derselbe, während er auf den Zug lauerte, seinerseits von einem schmächtigen brünetten Mann mittlerer Größe belauscht, der den Abend vorher sein Gepäck das mit dem Namen Midwinter etikettiert war, im Zollhause zurückgelassen und vor einer Stunde sich eingefunden hatte, um es abzuholen.

Was hatte Midwinter nach dem Bahnhofe geführt und warum wartete auch er auf den Zug? Nachdem er in vergangener Nacht seine einsame Wanderung bis Hendon ausgedehnt, hatte er im Dorfwirthshause Unterkunft gesucht und war aus reiner Erschöpfung erst in jenen späteren Morgenstunden eingeschlafen, die seine Frau wohlweislich zu benutzen verstanden hatte. Als er nachher wieder in der Wohnung derselben erschien, konnte ihm die Hauswirthin blos mittheilen, daß ihre Mietherin bereits vor länger als zwei Stunden Alles abgemacht und sich – wohin, das konnte sie nicht sagen – alsbald wieder entfernt habe.

Nach einigen weiteren Erkundigungen mußte sich Midwinter leider überzeugen, daß er vor der Hand die Spur seines Weibes als verloren zu betrachten habe. Düster verließ er das Haus und setzte mechanisch seinen Weg nach den lebhaftem und centralern Theilen der Hauptstadt fort. Jetzt, wo sich ihm der Charakter seiner Frau enthüllt hatte, noch unter der ihm gegebenen Adresse ihrer Mutter nachzufragen, wäre ein vollkommen fruchtloses Beginnen gewesen. Entschlossen, sie trotz alledem aufzuspüren, durchwanderte er die Straßen, aber die Mittel dazu wollten sich nicht finden lassen, bis das Gefühl seiner Erschöpfung sich von neuem geltend machte. In das erste beste Hotel eintretend, an dem er vorüberkam, erinnerte ihn ein zufälliger Streit des Kellners mit einem Gaste wegen eines abhanden gekommenen Koffers an sein eigenes Gepäck, das er auf dem Bahnhofe gelassen, und sofort dachte er auch an die seltsamen Umstände, unter denen er Bashwood auf dem Perron getroffen hatte. Im nächsten Augenblicke leuchtete es ihm ein, wie vergeblich sein Suchen in den Straßen sei; noch ein paar Sekunden, und er beschloß, zu probieren, ob er den Verwalter nicht zufällig wieder auf dem Bahnhofe finden könne, wo der Mann augenscheinlich auf die Ankunft Jemandes lauerte, den er schon mit dem gestrigen, Tage erwartet hatte.

Von der Nachricht von Allan’s Wellentode nichts wissend, bei der gestrigen furchtbaren Unterredung mit seiner Frau unbekannt geblieben mit der Absicht, die sie mit ihrer Wittwentracht verfolgte, hatte Midwinter seinen ersten vagen Verdacht ihrer Untreue jetzt zu der unwandelbaren Ueberzeugung entwickelt, daß sie ihn betrog. Nur eine Auslegung aber vermochte er ihrem unerhörten Benehmen gegen ihn zu geben, nur einen Grund sah er dafür, daß sie den Namen angenommen, unter dem er sie geheirathet hatte. Aus ihrem Verhalten mußte er unvermeidlich folgern, daß sie in eine gemeine Intrigue verwickelt sei und daß sie schlau und gemein sich die Stellung zu sichern gewußt habe, in der, das wußte sie, wie in keiner andern es ihm widerstrebte, seinen Anspruch auf sie zu erheben. Mit dieser Ueberzeugung lauerte er jetzt auf Bashwood, im festen Glauben, daß dem feilen Diener ihrer Laster das Versteck seiner Frau bekannt sein müsse, und in dem unbestimmten Argwohn, der unbekannte Mann, welcher ihn gekränkt hatte, und der unbekannte Reisende, auf dessen Ankunft Bashwood harrte, möchten eine und dieselbe Person sein.

Der Zug kam spät heute Abend, und als er endlich in den Bahnhof einfuhr, war das Wagengedränge ärger denn je. Midwinter sah sich in die allgemeine Verwirrung auf dem Perron verwickelt und in der Anstrengung, sich aus ihr herauszuwinden, verlor er Bashwood zum ersten Male aus dem Gesichte.

Ein paar Minuten waren verflossen, ehe er den Verwalter wieder ausfindig machen konnte, wie derselbe sich eifrig mit einem Mann in einem zottigen Rocke unterhielt, der ihm den Rücken zukehrte. Alle Vorsicht und Zurückhaltung vergessend, die er vor Ankunft des Zuges sich selbst ausgelegt hatte, ging Midwinter sofort auf sie zu. Bashwood sah das drohende Gesicht des Nahenden und trat schweigend zurück. Der Mann im zottigen Rocke wandte sich um; er sah dahin, wohin der Verwalter seine Blicke richtete, und im vollen Lichte der Gaslaternen entdeckte Midwinter Allan’s Gesicht.

Für den Augenblick standen beide sprachlos da und sahen sich einander an. Allan war der erste, der sich von seinem Erstaunen erholte.

»Gott sei Dank!« sprach er warm. »Ich frage nicht, wie Du hierher kommst, es ist mir genug, daß Du gekommen bist. Ich habe schon jammervolle Nachrichten erhalten; nur Du kannst mich trösten und mir’s tragen helfen!« Bei den letzten Worten versagte ihm die Stimme; er mußte schweigen.

Der Ton, in dem er gesprochen, rüttelte Midwinter so weit auf, daß das alte Interesse für den Freund, – welches einst das höchste aller seiner Interessen gewesen, wieder in ihm erwachte. Zum ersten Male, seit dieser ihn befallen, beherrschte er seinen eigenen Kummer und fragte, Allan sanft beiseite ziehend, was geschehen sei.

Allan erzählte ihm von dem falschen Gerüchte seines Todes, das sich verbreitet habe und bis zu Miß Milroy’s Ohren gedrungen sei, und wie in beklagenswerther Folge dieses Schlags die Majorstochter in der Nachbarschaft von London habe in ärztliche Behandlung gegeben werden müssen.

Ehe er seinerseits das Wort nahm, sah sich Midwinter mißtrauisch um. Bashwood war ihnen gefolgt und lauschte, was sie nun sprechen würden.

»Hat er hier aus Deine Ankunft gewartet, um Dir’s von Miß Milroy zu erzählen?« fragte Midwinter und blickte von Bashwood zu Allan.

»Ja«, antwortete Allan. »Abend für Abend ist er so gut gewesen, hier zu warten, um mich zu treffen und mir die Nachricht schonend beizubringen.«

Midwinter schwieg. Umsonst suchte er den Schluß, welchen er aus seines Weibes Verhalten gezogen, mit der Entdeckung zu vereinbaren, daß Allan der Mann war, auf dessen Ankunft Bashwood gewartet hatte. Die einzige Aussicht, die sich jetzt ihm darbot, dem Geheimniß näher auf die Spur zu kommen, war, den Verwalter in dem einzigen Punkte zu attackieren, wo sich derselbe dem Angriffe bloßgestellt hatte. Gestern Abend hatte Bashwood unbedingt geleugnet, etwas von Allan’s derzeitigem Thun und Treiben zu wissen oder an dessen Rückkehr nach England ein persönliches Interesse zu haben. Hatte er somit Bashwood auf einer Lüge ertappt, so argwöhnte er auf der Stelle, daß jener jetzt auch Allan belüge. Unverzüglich ergriff er also die Gelegenheit, die hinsichtlich Miß Milroy’s gemachte Angabe näher zu prüfen.

»Wie sind Sie zu dieser traurigen Kunde gekommen?« forschte er, sich plötzlich an Bashwood wendend.

»Natürlich durch den Major«, erwiderte Allan, bevor der Verwalter antworten konnte.

»Wer ist der Arzt, der Miß Milroy behandelt?« fuhr Midwinter fort an Bashwood das Wort zu richten.

Wiederum gab der Verwalter keine Antwort, wiederum antwortete Allan für ihn.

»Es ist ein Mann mit fremdem Namen«, sagte Allan; »er hat ein Sanatorium bei Hampstead. Wie sagten Sie daß der Ort heiße, Mr. Bashwood?«

»Fairweather-Vale, Sir«, entgegnete der Verwalter, nothgedrungen, doch ersichtlich unwillig seinem Herrn Rede stehend.

Bei der Adresse des Sanatoriums fiel Midwinter unverzüglich ein, daß er gestern Abend seine Frau in einer von den Fairweather Villen ausgespürt hatte. Jetzt dämmerte ihm durch das Dunkel ein schwaches Licht auf. Der Instinct, der mit der Noth kommt, ehe noch der langsamere Proceß des Denkens sich vollziehen kann, führte ihn mit einem Schlage zu dem Schlusse, daß Bashwood, der gestern sicher unter dem Einflusse seiner, Midwinter’s, Frau gehandelt hatte, auch jetzt wieder das Werkzeug derselben sein dürfte. Mit der sich immer mehr in ihm befestigenden Ueberzeugung, daß Bashwood’s Angabe eine Lüge und seine Frau dabei betheiligt sei, beharrte er darauf, dieser Angabe näher auf den Grund zu kommen.

»Ist der Major in Norfolk«, fragte er, »oder ist er bei seiner Tochter in London?«

»Ja Norfolk«, sagte Bashwood, mehr Allan’s forschendem Blicke als Midwinter’s Frage antwortend. Dann sah er dem letzteren zum ersten Male ins Gesicht und setzte hastig hinzu: »Ich protestiere gegen ein Kreuzverhör, Sir. Ich weiß, was ich Mr. Armadale gesagt habe, mehr aber nicht.«

Die Worte und der Ton, in dem sie gesprochen wurden, waren gleich verschieden von Bashwood’s gewöhnlicher Sprache und gewöhnlichem Tone. In seinem Gesichte lag eine düstere Niedergeschlagenheit, in seinen Augen, als sie Midwinter ansah ein heimliches Mißtrauen und Mißvergnügen, wie es dieser noch nie an ihm bemerkt hatte. Ehe er aus die seltsame Rede Bashwoods antworten konnte, fiel Allan ein.

»Halte mich nicht für ungeduldig«, sagte er, »aber es wird spät und es ist ein weiter Weg nach Hampstead. Ich fürchte, das Sanatorium wird sonst schon geschlossen sein.«

Midwinter erschrak. »Du willst doch nicht heute Abend noch das Sanatorium aufsuchen?« rief er aus.

Allan nahm die Hand seines Freundes und drückte sie derb. »Hättest Du sie so lieb wie ich«, flüsterte er, »dann würdest Du nicht ruhen, könntest nicht schlafen, bis Du den Doctor gesehen und das Gute oder Schlimme gehört hättest, was er Dir mitzutheilen hat. Armes, liebes Herz! Wer weiß, wenn sie mich am Leben und gesund sieht —« Die Thränen traten ihm in die Augen und schweigend wandte er den Kopf ab.

 

Midwinter sah den Verwalter an. »Bleiben Sie zurück!« herrschte er. »Ich habe mit Mr. Armadale zu sprechen.« Bashwood zog sich aus Hör-« doch nicht aus Gesichtsweite zurück, und Midwinter legte liebevoll seine Hand dem Freunde auf die Schultern.

»Allan«, begann er, »ich habe Gründe —« Er hielt inne. Konnte er die Gründe angeben, bevor er sie selbst bestätigt gefunden hatte, dazu in der gegenwärtigen Stunde und unter diesen Umständen? Unmöglich! »Ich habe Gründe«, fing er wieder an, »Dir zu rathen, nicht zu bereitwillig zu glauben, was Bashwood sagt. Sage ihm das nicht, aber betrachte es als Warnung.«

Verwundert sah Allan seinen Freund an. »Du bist’s gewesen, der Mr. Bashwood immer gern hatte!« rief er aus. »Du hast ihm getraut, als er zuerst ins Herrenhaus kam!«

»Vielleicht habe ich damit nicht recht gethan, Allan, und vielleicht hast Du Recht gehabt. Willst Du nicht wenigstens warten, bis wir an Major Milroy telegraphiren und seine Antwort erhalten können? Willst Du nicht mindestens die Nacht vergehen lassen?«

»Ich werde wahnsinnig werden, wenn ich die Nacht über warte«, sagte Allan. »Du hast mich noch ängstlicher gemacht, als ich schon war. Wenn ich mit Bashwood nicht darüber sprechen soll, so muß und will ich nach dem Sanatorium gehen und vom Doctor selbst in Erfahrung bringen, ob sie dort ist oder nicht.«

Midwinter sah, daß er umsonst sprach. In Allan’s Interesse blieb ihm jetzt blos ein Weg übrig. »Willst Du mich mit Dir gehen lassen?« fragte er.

Allan’s Gesicht leuchtete auf. »Du lieber, guter Mensch!« rief er aus. »Gerade darum wollte ich Dich eben bitten.«

Midwinter winkte dem Verwalter. »Mr. Armadale geht nach dem Sanatorium«, sagte er, »und ich denke ihn zu begleiten. Holen Sie eine Droschke und kommen Sie mit uns.«

Dem Verwalter, dem streng eingeprägt war, wenn Allan käme, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und der in seinem eigenen Interesse Midwinter’s unerwartetes Erscheinen erklären mußte, blieb keine Wahl übrig, als zu gehorchen. In mürrischer Unterwerfung that er denn, was ihm befohlen war. Die Schlüssel zu Allan’s Gepäck wurden dem fremden Kurier übergeben, den er mitgebracht hatte, und dem Manne geboten, im Eisenbahnhotel die weiteren Befehle seines Herrn abzuwarten, und so fuhren Midwinter und Allan, Bashwood auf dem Bocke neben dem Kutscher, aus dem Bahnhofe.

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Zwischen elf und zwölf Uhr in dieser Nacht hörte Miß Gwilt, welche allein am Corridorfenster ihrer Etage stand, das Rollen nahender Räder. Es wurde lauter und lauter und am eisernen Gitter hörte es auf. Sie sah, wie eine Droschke hier hielt.

Gegen Abend war der Himmel umwölkt gewesen, jetzt bellte er sich auf und der Mond kam zum Vorschein. Um besser zu sehen und zu hören, machte sie das Fenster auf und sah Allan aus dem Wagen steigen und dann mit einer darin sitzenden Person sprechen. Ehe sie diese selbst noch wahrnehmen konnte, sagte ihr die aus dem Cab heraus antwortende Stimme, daß Allan’s Begleiter ihr Mann sei.

Dieselbe Betäubung, die sie gestern bei ihrem Wiedersehen befallen hatte, befiel sie auch jetzt. Bleich und still, hager und alt stand sie am Fenster, wie sie dagestanden hatte, als sie sich ihm in ihrer Witwenkleidung gegenüber befand.

Mr. Bashwood, der sich rasch die Treppe hinaufgestohlen hatte, um ihr seinen Rapport abzustatten, sah sofort, als er sie erblickte, daß dieser Rapport unnöthig sei. »Es ist nicht meine Schuld«, war Alles, was er sagte, als sie langsam den Kopf wandte und ihn ansah. »Sie haben sich getroffen und es war unmöglich, sie wieder zu trennen.«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und ersuchte ihn, still zu sein. »Warten Sie ein wenig«, sagte sie; »ich weiß bereits Alles.«

Darauf schritt sie langsam dem entferntesten Ende des Corridors zu, kehrte um und kam langsam mit finsterer Stirn und gesenktem Haupte wieder zu ihm; all ihre Anmuth und Schönheit war bis auf die ihr angeborene Grazie in ihren Bewegungen von ihr gewichen.

»Wollen Sie mit mir sprechen?« fragte sie. Ihr Geist schweifte weit von ihm weg und ihre Augen starrten ins Leere.

Wie noch nie« in ihrer Gegenwart raffte er seinen Muth zusammen.

»Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung«, schrie er mit fürchterlicher Heftigkeit. »Sehen Sie mich nicht so an, jetzt, wo ich’s entdeckt habe!«

»Was haben Sie entdeckt?« fragte sie mit der Miene momentanen Erstaunens, das indeß wieder verschwand, ehe er so viel Luft finden konnte, um ihr zu antworten.

»Mr. Armadale ist nicht der Mann, der Sie mir entrissen hat«, entgegnete er. »Mr. Midwinter ist es. Gestern habe ich’s bereits auf Ihrem Gesichte gelesen und jetzt lese ich’s wieder. Warum haben Sie »Armadale« unterzeichnet, als Sie mir schrieben? Warum nennen Sie sich noch immer Mrs. Armadale?«

In langen Zwischenpausen brachte er diese Worte heraus, und die Anstrengung, Her machte, ihrem Einflusse auf ihn zu widerstehen, war zugleich entsetzlich und kläglich anzusehen.

Sie sah ihn mit sanftem Blicken an. »Hätte ich Sie doch bemitleidet, als wir uns kennen lernten, wie ich Sie jetzt bemitleide!« sagte sie freundlich.

Verzweifelt mühte er sich ab, ihr zu sagen, was er auf der Fahrt vom Bahnhofe hierher ihr zu sagen sich vorgenommen hatte, Worte, welche dunkel andeuten sollten, daß er ihre Vergangenheit kenne, Worte, ihr anzukündigen, daß, was sie auch thun, auf welche Schandthaten sie sinnen möchte, sie doch zweimal überlegen solle, ehe sie ihn wieder hintergehe und verlasse. So hatte er sich gelobt mit ihr zu sprechen. Im Geiste hatte er sich schon Ausdrücke gewählt, hatte bereits die Sätze geformt und geordnet, nichts fehlte mehr, als durch das Sprechen selbst das Ganze zu krönen, und selbst jetzt, nach Allem, was er schon gesagt und gewagt hatte, ging dies über sein Vermögen! Trostlos stand er da und sah sie an, sodaß er ihr Mitleiden erregte, trostlos weinte er die stummen weibischen Thränen, die den Augen alter Männer entfallen.

Freundlich, doch ohne das leiseste Zeichen von Aufregung ergriff sie seine Hand.

»Auf mein Begehren haben Sie schon gewartet«, sagte sie mild. »Warten Sie bis morgen und Sie werden Alles wissen. Wenn Sie sonst nichts glauben, was ich Ihnen gesagt habe, dem, was ich Ihnen jetzt sage, können Sie glauben. Heute Nacht geht es zu Ende.«

Da ließ sich er Schritt des Doctors auf der Treppe hören. Mit in unsäglicher Erwartung klopfendem Herzen zog sich Bashwood zurück. »Heute Nacht gehts zu Ende!« sprach er zu sich selbst, während er sich nach der entgegengesetzten Seite des Corridors bewegte.

»Lassen Sie sich nicht stören, Sir«, sagte der Doctor verbindlich, als er eintrat. »Ich habe mit Mrs. Armadale nichts zu sprechen, was nicht Sie oder Jedermann sonst hören könnte.«

Ohne zu antworten, setzte Bashwood seinen Weg an das entfernteste Ende des Corridors fort, indem er bei sich immer wiederholte: »Heute Nacht geht’s zu Ende!« Der Doctor gesellte sich zu Miß Gwilt.

»Ohne Zweifel haben Sie gehört«, begann er in seinem sanftesten Tone, »daß Mr. Armadale angekommen ist. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, meine theure Dame, daß nicht der geringste Grund vorhanden ist, daß Sie sich nervös aufregen. Ich habe ihn auf das beste beschwichtigt und er ist so ruhig und traitable, wie sich es seine besten Freunde nur wünschen können. Ich habe ihm mitgetheilt, daß heute Abend ihm keine Zusammenkunft mit der jungen Dame gestattet werden könne, daß er aber darauf rechnen dürfe, sie morgen früh bei Zeiten, sobald sie aufgestanden sei, zu sehen, natürlich unter den erforderlichen Vorsicht Maßregeln. Da kein Gasthof in der Nähe und die günstige Stunde ganz plötzlich eintreten kann, verstand es sich unter den obwalte eigenthümlichen Umständen von selbst, daß ich ihm die Gastfreundschaft des Sanatoriums anbot. Mit der allergrößten Dankbarkeit hat er sie angenommen und mir zugleich höchst gentlemännisch und rührend für die Mühe gedankt, die ich mir gegeben, ihn zu beruhigen. Ganz erfreulich, ganz zufriedenstellend bis hierher! Doch gab es dabei noch einen kleinen Haken – jetzt ist er glücklich beseitigt – den ich zu erwähnen für nothwendig erachtet, ehe wir uns sämtlich zur Ruhe begeben.«