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Read the book: «Aus der Praxis», page 8

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»Paul,« rief sie flehend, die Hände vor der Brust übereinander gefaltet. Der Gesichtsausdruck des Bedauernswerten wurde immer drohender, seine abwehrenden Bewegungen wurden leidenschaftlicher, dringender. Emma stand ratlos vor der Tür, drückte dann die beiden Hände vor das Gesicht und sank darauf mit einem kurzen Aufschrei bewusstlos einem der Diener in die Arme.

VIII. Kapitel

»Wie fühlen Sie sich heute, lieber Paul?«

Diese Worte richtete Frau Bankier Weber an den auf einem Sofa ausgestreckten jungen Mann, indem sie ihm eine Tasse Fleischbrühe überreichte.

»O, es geht so weit besser,« erwiderte der Maler, die Tasse, die in seinen kraftlosen Fingern zitterte, auf den kleinen, neben dem Ruhebett stehenden Tisch setzend. Die junge Frau sah mitleidig auf den armen Menschen herab und, indem sie ihm halb lächelnd, halb wehmütig mit der Hand über die heiße Stirn fuhr, sagte sie:

»Wie gut, dass ich Sie pflegen durfte – ich begreife sehr wohl, in der Nähe jener anderen wären Sie uns nicht erhalten geblieben.«

Der Maler nickte stumm vor sich hin. Er hatte keinen wortreichen Dank für die Sorgfalt, mit der ihn eine fremde Frau gepflegt; die Enttäuschung, die ihm jene, die er geliebt, bereitet, legte noch immer einen schweren Schleier über sein Denken. Er wusste nun alles, seinen fortgesetzten Fragen hatte man nicht widerstehen können, er wusste, aus welchen Gründen Emma nach seiner Hand getrachtet.

Während seiner ganzen Krankheit hatte er unaufhörlich fortgewollt, es war ihm unerträglich gewesen, in ein und demselben Hause mit der zu wohnen, die ihn so schändlich erniedrigt. Der Arzt widersetzte sich dem Wunsch des Kranken auf das Standhafteste und erklärte, die Erschütterung des Tragens oder Fahrens – abgesehen von dem Fieber des Patienten – sei schon hinreichend, die allerschlimmsten Folgen herbeizuführen. So musste er sich fügen, litt aber nicht, dass Emma in seine Nähe käme; ja ihren Schritt vor der Türe zu hören, brachte ihn in Unruhe; ihre Stimme wirkte derart angreifend auf sein Nervensystem, dass sich das Fieber sofort steigerte und sein ganzes Wesen die höchste Exaltation verriet. Ja selbst, wenn er sie gar nicht hören konnte, ahnte sein gereiztes Gemüt ihre Nähe; es war mehrmals vorgekommen, dass er zu seiner Wärterin sagte: Emma solle gehen, sie befinde sich im Nebenzimmer und, als die Wärterin ihm solche Wahrnehmung ausreden wollte, und er auf seiner Behauptung bestand, und die Wärterin die Türe öffnete, stellte es sich heraus, dass er Recht gehabt. Emma, der man von diesem überreizten Gemütszustand Pauls Kunde gegeben, suchte sich zu fassen. Der junge Arzt deutete ihr schonend ihres Mannes seltsame Abneigung an; sie werde sich von jetzt an nur noch im unteren Teil des Hauses aufhalten, sagte sie, aber sie sagte es tonlos, mit weggewandtem Gesicht, so dass Herr Dr. Buchbaum es für gut fand, hinzuzusetzen: Mit krankhaften Aversionen und Passionen müsse man Geduld haben.

»Natürlich,« sagte Emma ruhig.

»Aber die Pflege?« wandte der Arzt ein.

Emma besann sich. Da wollte es der Zufall, dass sich Frau Bankier Weber in diesem Augenblick anmelden ließ, um sich nach dem Befinden des jungen Mannes zu erkundigen. Kaum hatte diese von der Sachlage gehört, als sie erklärte: Kranke zu pflegen sei von jeher ihre Lieblingspassion gewesen, sie werde, wenn man es ihr erlaube, hier bleiben, hier Wohnung nehmen und mit Freuden die Wartung des Hilflosen übernehmen. In der Tat entwickelte die hübsche Frau eine leidenschaftliche Sorgfalt, eine Aufopferungsfähigkeit, die selbst dem Arzt hohe Achtung abnötigte. Sie war unermüdlich, wachte und sprach zu, verrichtete jeden Dienst, selbst den widerwärtigsten, immer in derselben sanften Weise. Freilich lag etwas Affektiertes in der Art ihres einschmeichelnden Benehmens, etwas Katzenartiges, Weiches; man sah das Genusssüchtige, Lebenslustige ihres Charakters immer durch die ernsthafte Hülle durchschimmern, aber man sah gern über diese Schwäche weg, wenn sie ihr zartfühlendes Lächeln übertrieb, man überhörte den zitternden Ton ihrer allzu gefühlsseligen Stimme, denn die Unermüdlichkeit ihrer Hilfeleistungen ließ darauf schließen, dass es mehr als bloßes Mitleid war, was sie an das Krankenbett des Malers fesselte.

Paul, dessen Krankheit anfangs eine so gefährliche Höhe erreicht, dass er kaum bemerkte, wer um ihn bemüht war, erkannte allmählich, als der schwere Nebel des Fiebers, der ihm alle Dinge zuhüllte, gewichen war, mit welcher Hingabe er von diesem üppigschönen Weibe gepflegt wurde. Je klarer es in seinem Innern wurde, desto mehr schloss er sich, wie ein gekränktes Kind, an seine Wärterin an, aber desto heftiger ward die Abneigung, die er gegen jene andere empfand, deren Namen er nicht gern aussprach. Seine Empfindungen ihr gegenüber waren gänzlich umgewandelt. Nicht, dass sie seine Eigenliebe gekränkt, beleidigte ihn; der Betrug, den man gegen ihn, gegen sein Seelenleben ins Werk gesetzt, empörte ihn; bittrer Hass, Verachtung stieg in ihm empor, wenn er an sie dachte, ja mit Befremden fühlte er, dass er fast einen Ekel vor ihrer ganzen Erscheinung empfand. Denn sie, die er vorher vergötterte, war ihm herabgesunken zur schlauen, herzlosen Intrigantin, zur genusssüchtigen, geldgierigen Dirne, und er begann sich selbst zu verachten, da er sich von einer solch Niedrigen hatte umgarnen lassen.

»Wollen Sie Ihre Frau nicht einmal sehen?« frug ihn jetzt Frau Weber.

Er sah hastig auf.

»Meine Frau?« sagte er mit verächtlichem Lachen, »ist sie das noch?«

»Sie bat mich so dringend,« fuhr sie verlegen fort.

»Sie bat —?« fiel Paul ein.

»Ja, sie wollte nur einmal sehen, wie —«

Frau Weber brach ab, da sie des jungen Mannes nervöse Unruhe bemerkte, es schien fast, als seien ihm die Tränen nah, so verzerrten sich seine Gesichtszüge.

Sie sprach rasch von andern Dingen, dem Wetter, der Kunst und eilte dann zu Emma, die in den unteren Zimmern auf sie wartete. Frau Weber war halb und halb in das ganze Zerwürfnis eingeweiht worden; Paul konnte in seiner hingebenden Weise nicht leicht etwas verschweigen, wenn es sein ganzes Inneres in Erregung versetzte. Und die schöne Frau war gutmütig genug, trotz ihrer Leidenschaft zu dem Kranken, die Vermittlerin zwischen den beiden Gatten zu spielen. Manchmal freilich empfand sie eine grausame Lust daran, Emma zu quälen, ihr das Unrecht, das sie begangen, vorzuhalten. Sie fand Emma auf dem Diwan ausgestreckt liegen, die eine Hand hielt sie unter dem Kopf, die andere griff in ein zusammengefaltetes Buch. Frau Weber bemerkte, dass in diesem Heft eine Bleifeder lag und, als nun Emma, durch die Schritte der Eintretenden emporgeschreckt, dies Heft zu verbergen suchte, sagte die Bankiersfrau:

»Gewiss, Sie haben gedichtet – nicht wahr? Man weiß ja, dass Sie schriftstellerische Anlagen besitzen.«

Über Emmas Erscheinung lag eine auffallende Müdigkeit gebreitet. Sie setzte sich ein wenig empor, sah ausdruckslos mit gebrochenen Augenlidern durch die Glastüre in den Park hinaus und frug dann, ob ihr Gatte denn noch immer —, sie fand das rechte Wort nicht und stammelte, ob er noch immer so hochgradig nervös sei. Elisabeth fühlte mit der mühsamen Art, mit der sie diese letzten Worte betonte, Mitleid; ihr Auge blickte so fragend, ihr früher so stolzes Benehmen war einer scheuen Ruhe gewichen.

»Er will noch niemand sehen,« sagte Elisabeth ausweichend.

Emma presste die Unterlippe fest auf die Oberlippe und sah starr vor sich hin.

»Gedulden Sie sich noch ein wenig, liebe Frau —,« tröstete jetzt Elisabeth, »gewiss, wenn der erste Sturm vorüber ist, – gewiss, er ist so kindlich, gutmütig, er wird sich wieder mit Ihnen aussühnen.«

Elisabeth fühlte aufrichtiges Mitleid mit der bekümmert Daliegenden, dennoch mischte sich ein wenig Schadenfreude und Eitelkeit in dies Mitleid und schließlich gewann die Schadenfreude so sehr die Oberhand, dass sich ein feines ironisches Lächeln in ihren anfangs schmerzlichen Zügen Bahn brach.

»Er wird mir nie vergeben,« kam es nun leise über die Lippen Emmas. —

»Meinen Sie wirklich?« frug Elisabeth neugierig.

»Nie–.«

»Nun, die Zeit tut viel.«

»Hier nicht, ich fürchte – o ich fürchte —!«

Nun änderte die Bankiersfrau ihr Zureden und leise vom Dämon der Eifersucht gekitzelt, konnte sie nicht länger dem Reiz widerstehen, durchfühlen zu lassen, dass sie als Krankenpflegerin entschieden die Begünstigte sei.

»Allerdings —« warf sie zweideutig hin und zuckte die Achseln, »allerdings – hier —«

»Sie glauben also auch – ?« frug Emma kaum hörbar, scheu zu der Pflegerin des Gatten aufblickend.

»Wenn ich ihn so beobachte,« fuhr Elisabeth fort, »ich weiß in der Tat nicht, ob er jemals – aber verlieren Sie den Mut nicht, meine Liebe – freilich, freilich —!«

»Sie glauben, er werde mir nie mehr vergeben —?« frug Emma mit rauer, zitternder Stimme.

»O, regen Sie sich nicht auf,« erwiderte die andere scheinbar gutmütig, als sie bemerkte, wie ihre Freundin erbleichend das Buch, das sie in Händen hielt, zu Boden fallen ließ.

»Sie irren sich,« entgegnete Frau Steinacher, durch diesen gutmütig sein sollenden Ton gereizt, »Sie können sich irren —.«

»Wenn ich mich irre, umso besser,« erwiderte die andere, »aber bitte, regen Sie sich nicht auf; das schadet Ihnen —.«

»Ich sage Ihnen, Sie irren sich!« rief nun Emma leidenschaftlich, »er wird mich lieben, ich weiß, dass er mich stark, tief liebte, und solch eine Liebe kann sich nicht plötzlich in Hass verwandeln. Wenn er nur erst gesund ist, und ich ihn um Verzeihung bitte – o – dann verzeiht er mir!«

»Wenn Sie das wissen, ist es ja sehr gut,« sagte Elisabeth kühl, die Hand vor den gähnenden Mund drückend.

Emma brach ab, sah mit flammenden Augen um sich, stand auf und schritt an die Glastüre.

Nach einiger Zeit, während welcher Elisabeth mit verdutztem Unschuld heuchelndem Gesichte dasaß, wandte Emma ihr Gesicht wieder der Freundin zu.

»Ich bin Ihnen viel Dank schuldig,« sagte sie ruhig, »verzeihen Sie mir meine Herbheit! Ihre treue Wartung des Kranken verdient die höchste Anerkennung.«

Darauf schritt sie auf die Pflegerin ihres Gatten zu, fasste deren Hand und umarmte sie. Ihre Dankbarkeit kam aus dem Herzen und ging zu Herzen. Elisabeths eifersüchtige Regungen schmolzen allmählich, und als nun Emma, fast dem Weinen nahe, darüber klagte, dass sie die Pflege ihres Mannes Fremden überlassen müsse, erwiderte die kleine Bankiersfrau gerührt, sie wolle in Paul dringen, er werde es doch mit der Zeit zugeben, dass seine eigene Frau ihn besuche; auch hoffe sie, den Maler betreffs seiner Abreise umzustimmen. In der Tat schien die leicht Bewegliche nun wieder umgestimmt, die verschiedenen Seelenregungen schlugen nicht sehr tief Wurzel in ihrem Innern.

Emma verlor keinen Augenblick hindurch ihre ruhige Überlegung, der Schmerz riss sie nicht zur Unbesonnenheit hin; sie klagte sich zwar an, sie sprach auch einmal von ihrer Reue und es gewährte ein seltsames Schauspiel, die Charakterfeste mit ihrer inneren Ratlosigkeit ringen zu sehen; stets bewahrte sie jedoch äußerlich ihre Würde in solchem Grade, dass man sie fast für herzlos hätte halten können.

Erst als Frau Weber gegangen war, überließ sich Emma ihren Empfindungen, doch machten sich dieselben nicht etwa in Ausrufen oder heftigen Bewegungen Luft, ja sie traten selbst im Innern der Frau nicht stürmisch auf. Es lag auf ihren Zügen wie eine schwere Müdigkeit, sie schien ganz in sich versunken, bewegungslos saß sie auf dem Diwan und hob nur zuweilen die Hand an die Stirne.

»Wenn es mir nur nicht geht, wie der Mutter,« dachte sie manchmal, als sich die Gedanken in ihrem Kopf auf wahrhaft beängstigende Weise drängten und sich gegenseitig, sozusagen auf die Zehen traten. Das Schuldbewusstsein war in ihr zu einer so unerträglichen Höhe angewachsen, dass es sie zuweilen überfiel wie ein Seelenkrampf und sie sich sagte: könnte Paul in dein verwüstetes Innere blicken, gewiss, er würde dir verzeihen aus Mitleid, denn er würde nicht haben wollen, dass dich die Reue über das Geschehene bis zur Krankheit, bis zum Wahnsinn treibt. Ja zum Wahnsinn; es war ihr zu Mut, als habe sie einen Mord begangen. Und hatte sie nicht?

Ihre Phantasie begann sich Bilder auszumalen; sie fühlte, dass der Keim zu einer fixen Idee sich in ihr zu bilden begann: es setzte sich etwas Unbestimmtes in ihrem Kopfe fest, sie fühlte jetzt den Trieb, hell aufzulachen, indes ihr doch der Schmerz die Kehle zuschnürte. Selbst ihre angeborene Gabe, das Leben von höheren, philosophischen Gesichtspunkten aus aufzufassen, half gegen dies lästige, niederdrückende Gefühl wenig oder gar nichts, im Gegenteil, diese Gabe hielt ihr das Unwürdige, Unweibliche ihrer Handlungsweise nur mit desto quälenderer Deutlichkeit vor. Nun hatte sie Paul drei Wochen lang nicht gesehen und sie gestand sich, es zog sie eine verzehrende Sehnsucht zu ihm hin, den sie bisher so hochmütig behandelt und vor dem sie sich nun so gern gedemütigt hätte; es war ihr, als könne sie nicht ohne ihn leben, und doch trug sie das beschämende Bewusstsein in sich, dass er sie nicht einmal sehen wollte, dass sie ihm verhasst war. Und sie durfte ihm nicht einmal mehr zürnen; sie fühlte: was sie getan, durfte ein Mann nicht verzeihen; je feiner die Gemütsart dieses Mannes war, desto weniger konnte er die Art, wie sie in seinen Besitz gelangt war, billigen.

Nur zwei Mittel gab es vielleicht noch, das Herz des Getäuschten zu besänftigen: wenn sich dies beleidigte Herz davon überzeugen ließ, dass sie der Mutter zulieb so handeln musste, wie sie gehandelt, und dass seit einiger Zeit in dem Busen der Reumütigen das Gefühl eingekehrt war, welches der Betrogene früher gesucht und nicht gefunden hatte.

Aber würde Paul an diese Liebe glauben? Und wie ihm deutlich machen, dass sie ihn nun lieben gelernt? Ja sie gestand sich: sie war zu stolz dazu, ihn merken zu lassen, dass sie ihn liebe; sie gestand sich, dass nur außerordentliche Ereignisse sie dazu bewegen könnten, ihm mit klaren Worten ihre innere Umwandlung zu enthüllen, und doch erlag sie fast dem verzehrenden Bewusstsein, von ihm falsch verstanden zu werden, und doch saugte das Zurückdämmen einer plötzlich erwachten Leidenschaft an ihrem Herzblut.

Als es allmählich zu dunkeln anfing, eilte sie ohne eine Kopfbedeckung in den Park, schritt nach dem Walde zu, blieb dann aber vor einem Fenster des Hauses stehen, durch dessen blauen Vorhang das Nachtlicht gedämpft glomm. Hier oben, wusste sie, lag nun Paul, und es kam ihr auf einmal ganz kindisch vor, dass sie, die philosophisch gebildete, denkende Frau, zu diesem Fenster empor sah, wie ein schmachtender Jüngling, der vor der Kammer seiner Angebeteten Tränen vergießt; es war ihr, als sollte sie ihre Leidenschaft verachten, als sei dieselbe einer großdenkenden Seele unwürdig. Und doch konnte sie sich nicht über diese Kleinlichkeit erheben. Sie errötete vor sich selbst, als sie wahrnahm, dass eigentlich die Sinne die versteckten Triebfedern dieser Leidenschaft waren; ihr scharfer Verstand sagte ihr das, ihr fein entwickelter, durch das Studium von Kunstwerken erhöhter Schönheitssinn malte ihr die Gestalt des Gatten mit idealen Farben. Pauls edelgeformte Hand, sein Mund, seine Gesichtsform, auf die sie noch vor wenigen Wochen gar nicht geachtet, tauchten Sehnsucht erweckend in ihrer Phantasie auf, übten eine bestrickende Wirkung sogar auf ihr Gemüt aus. Was hätte sie darum gegeben, wenn diese Hand in ihrer Hand, dieser Mund auf ihrem Mund geruht —! Es überschauerte sie, wenn sie hieran dachte, und doch schämte sie sich, dass sie hieran denken musste. Ihr durch Eindrücke der Kunst und Wissenschaft geadeltes Innere bebte vor allem Unweiblichen, die Sinne Beschäftigenden zurück. Als sie länger zu dem Fenster hinaufblickte, konnte sie dem Drang nicht widerstehen, sie musste ihn sehen; ihre ganze, von Bildung gezügelte dämonische Natur war in ihr erwacht. Leise schlich sie sich die Treppe hinauf; Elisabeth war im Augenblick abwesend; die Tür zu Pauls Schlafgemach stand offen. Dort sah sie ihn liegen auf dem Bett; von der Lampe, die auf dem Nachttische brannte, milde beleuchtet, hob sich sein edelgeformtes Antlitz weiß aus den Kissen. Sie sah, dass er schlief; die tiefen Schatten, die sich um sein geschlossenes Lid lagerten, der schmerzliche Zug, der ihm die Mundwinkel herabzog, erfüllten sie mit Ehrfurcht; eigentümlich berührten sie die krankhaften, gelbblauen Schatten, die sein schwarzes Haar auf die elfenbeinweiße Stirne warf.

Leise schlich sie sich heran, setzte sich auf den neben dem Bett stehenden Stuhl und belauschte atemlos die Atemzüge des Schlummernden, während ihr tiefes Mitleid mit dem Hilflosen, das Gefühl, dass sie die Ursache seiner Leiden war, ihr Auge befeuchtete. Und wenn du ihn nun wirklich getötet? Sie verscheuchte diesen Gedanken und konnte sich, von verzehrender Sehnsucht erfasst, nicht enthalten, ihr Gesicht auf das des Kranken herabzuneigen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben schwellte ein hingebendes, fast mütterliches Gefühl ihren Busen; es war ihr, als müsse ihre Reue von dem Schläfer, ohne ihr Zutun, instinktiv empfunden werden, sobald sich ihr Odem mit dem seinen mischte; es war ihr, als müsse er im Traume ahnen, welche Veränderung in ihr Platz gegriffen. Ein etwas heftigerer Atemzug des Schlummernden scheuchte sie jedoch in die Höhe, aber es war zu spät, Paul hatte im Halbschlaf die Augen müde geöffnet, beider Blicke begegneten sich.

Emma fuhr tief erblassend zurück, Paul schnellte in den Kissen empor und, während sich seine Frau, zitternd, den feuchten Blick zu Boden schlagend, vom Stuhl erhob, starrte er sie finster, fast drohend, an.

Er sagte nichts, er wollte durch eine barsch abweisende Gebärde nach der Türe hin andeuten, sie solle gehen; als sie jedoch in diesem Augenblick die von Tränen verschleierten Augen langsam, wie flehend, unterwürfig zu ihm aufschlug, begnügte er sich damit, sich nach der Wand zu von ihr wegzuwenden.

Er sah noch, wie sie beschämt, mit gesenktem Haupte aus dem Zimmer schritt; dann lag er mit dem Gesicht nach der Wand.

IX. Kapitel

Da Paul sich allmählich im Lauf mehrerer Wochen vollständig erholt hatte, wollte er seine Abreise nicht länger verschieben, zumal, da ihn Frau Weber eingeladen, den Gartensaal ihrer nicht weit von der Stadt gelegenen Villa auszumalen. Der Herbst hatte bereits große Zerstörungsfortschritte im Park gemacht; die Bäume wurden immer gelber, der Wind wehte kühl ins Zimmer und Paul, dem die gewichene Krankheit immer noch in den Nerven lag, versank zeitweise in ein dumpfes Brüten, das ihm alle Sinne umschleierte. Im Ganzen hatte das Durchlebte seinem Charakter eine männliche Kraft verliehen, die jedoch bei seiner allem Reflektierenden abholden Natur kaum bis zur Verbitterung anwuchs, nur selten, dass er aus dem, was ihm widerfahren, Schlüsse zog, um sie auf das Leben anzuwenden. Als er sich zur Abreise fertigmachte und bereits unten am Tore den Wagen halten sah, der ihn nach jener Villa bringen sollte, überfiel ihn freilich eine seltsame lebensmüde Stimmung. Es war ihm denn doch, als sollte er, ehe er auf lange Zeit, vielleicht auf immer von hier wegging, noch einmal von seiner Frau Abschied nehmen, sei es auch nur mit ein paar trocknen Worten, die vielleicht einen bitteren Stachel betreffs des Geschehenen in ihrem Herzen zurückzulassen vermöchten.

Freilich schnürte ihm Unmut das Herz zusammen. Doch durchbrach diesen Trotz zuweilen eine Regung flüchtigen Mitleids, wenn er bedachte, dass sie ihr Unrecht wohl bereute. Unrecht? Sah er, was sie getan, denn mit milderen Blicken an? Ein Verbrechen hatte sie an ihm, an seiner Mannesehre begangen. Doch, gab es keine Entschuldigungsgründe? Vielleicht doch! Und dass sie bereute, schien ihm, nachdem er sie an seinem Bette weinen gesehen, wahrscheinlich. Doch was konnte ihm ihre Reue nützen? Hastig schritt er aus die Türe zu, deren Metallgriff er fasste, sie zu öffnen und zu Emma hinabzugehen, trotz allem Vorgefallenen sie noch einmal zu sehen. ›Nein! Sie hat mich zu tief verletzt,‹ rief eine Stimme seines Inneren; das Blut stieg ihm in die Wangen, wenn er sich ausmalte, welches Spiel dies kluge, schöne Weib mit ihm getrieben.

Wie kläglich-kindisch und schüchtern-schulbubenhaft stand er vor seiner eignen Phantasie da, wenn er sich jene Szenen im Geist zurückrief, da er um ihre höchste Gunst schamhaft geworden. Auf welch’ raffinierte Weise sie ihn demütigte —, wie sie seinen Wünschen so klug auswich, sie schürte und ihnen dann wieder Kälte entgegensetzte. Und welchen Wert besaß er in ihren Augen, war er ihr doch nur ein lästiges Mittel zum Zweck gewesen, die Angel, die man nach dem Goldfisch auswirft, und die man nach dem Gebrauch wegwirft. Nein, er wollte sie nie mehr sehen, oder noch besser, er wollte ihr Gleiches mit Gleichem vergelten. Und wenn sie bereute, wollte er ihr nicht verzeihen und wenn sie fußfällig darum bitten sollte, ja selbst, wenn sie ihm jetzt ihr Herz schenken würde, wollte er es ihr hohnlachend vor die Füße werfen.

Als er jetzt durch die Türe auf den Hausgang schritt, dachte er daran, dass sie ihm unterwegs begegnen könnte; er eilte noch einmal zurück, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel und freute sich, dass er in dem eleganten, schwarzen Anzug einen imponierenden Eindruck machen musste. Das kleine Bärtchen auf seiner Oberlippe hatte sich stattlich entwickelt; sein Gesichtsausdruck erinnerte in dem idealen Schwung der Linien, dem lebhaften Blick an denjenigen des unglücklichen Königs Ludwig II. von Bayern. Obgleich er sonsthin in Bezug auf Kleidung die Nachlässigkeit in Person war, zupfte er jetzt an seiner Krawatte und legte sogar die ihm verhassten gelben Handschuhe an.

Dann ging er festen Schrittes, das sichere Benehmen eines Weltmannes annehmend, manchmal ein wenig hüstelnd, die Treppe hinab und sah sich scheu um, der Scheuheit seines Blickes einen gekünstelten Trotz abzwingend.

Seine Vermutung bestätigte sich; als er durch das Vorzimmer ging, rauschte die schwere Samtportiere und Emma, die aus derselben hervortrat, tat, als ob sie aus Versehen hier erschienen sei und nun umkehren wolle. Sie neigte den Kopf zur Seite, so dass sich das delikat geschnittene, bleiche Profil von dem Purpur der Portiere aufs Pikanteste abhob; es lag ein melancholischer, fast tragischer Hauch über dieser Stirne, über diesen leise zitternden Lippen, die den Schmerz hinabzuschlucken schienen, ein Hauch von seelenvoller Schwermut, der seltsamer Weise im Busen Pauls eine gewisse Fröhlichkeit hervorrief. Er grüßte vornehm und wollte vorübergehen, unwillkürlich blieb aber sein Auge länger an ihrer eleganten, vom einfachen grünen Seidenkleid umspannten Gestalt haften, als es eigentlich beabsichtigte. Sie kam ihm in diesem Kleid unheimlich· fast märchenhaft beängstigend wie eine schaumumglänzte Seenixe vor und er musste sich gestehen, als sie nun das Profil noch schmerzhafter, schuldbewusster herabbeugte und mit der wundervoll geformten, vornehm-schlanken Hand eine Falte der Portiere fast über ihre Züge zog, er musste sich im verwundeten Herzen gestehen: sie war schön! von bestrickender, königlicher Schönheit. Selbst ihre Bewegungen, die früher ein wenig allzu frei anmuteten, waren ästhetisch schön geworden, atmeten eine pikante, geistreiche Schwermut.

»Ich gehe,« sagte er mit rauer Stimme, »leben Sie wohl.«

»Paul,« stammelte sie mit ihrem Anflug von Dialekt, »und du verzeihst mir nie?«

»Nie?« gab er mit bittrer Betonung zurück, »das ist lange. Jetzt gewiss noch nicht.«

»So bin ich dir verhasst?« frug sie, immer von ihm abgewendet.

»Hm!« stieß er achselzuckend hervor.

»Du liebtest mich einst,« hauchte sie errötend, und dies tiefbeklommene, schmerzliche Erröten machte auf Paul, der sie immer nur stolz gesehen, einen auf die Sinne wirkenden Eindruck.

»Mag sein,« warf er mit gekünstelter Gleichgültigkeit hin, »du selbst bist schuld daran, wenn das nun nicht mehr der Fall ist.«

Es entstand eine Pause. Er wollte rasch die Tür öffnen, um sich der Einwirkung ihrer Worte, ihrer vornehm-sinnlichen Gestalt zu entziehen, denn er fühlte, wie seine Phantasie ihn hier zu einer unverzeihlichen Schwäche verleitete; es begann, je länger er ihre von der Seite eng umstraffte Taille, ihr Profil, ihren runden Arm betrachtete, eine bestrickende Glut in ihm emporzusteigen, die ihn fast daran verhinderte, sich die Kränkung ins Gedächtnis zu rufen, die er durch dies Weib erfahren. Sie schien das mit weiblichem Instinkt zu ahnen, denn plötzlich lispelte sie ganz unvermittelt, den Kopf auf die Brust gepresst:

»Paul, bleibe hier.«

Er sah sie einen Augenblick hindurch fast erschrocken an.

»Was verlangst du!« stieß er barsch hervor und wandte sich zum Gehen.

Die Tränen brannten ihr in den Augen und verschönerten ihr erglühendes Gesicht; dennoch blieb er unerbittlich; die Beschämung, die er durch sie erlitten, brachte es mit sich, dass er noch kein wärmeres Gefühl für sie fassen konnte trotz aller Bewunderung ihrer Reize, dass zwischen ihm und ihr noch eine jedes tiefere gegenseitige Verhältnis abhaltende Scheidewand ragte.

»Bleibe hier,« hauchte sie noch einmal mit zerfließender tonloser Stimme, und dann fühlte Paul, wie ein leidenschaftlicher Schmerz in ihr zum Durchbruch kam. Sie verzerrte ihr Gesicht fast bis zur Unschönheit, ihr Busen hob sich gewaltsam, ihr Seelenjammer machte sich mit der Gewalt einer Naturerscheinung Luft. Paul bebte. Sie schlug jetzt beide Hände vor das Gesicht und sank einmal laut aufstöhnend in den Sessel, der neben der Türe stand.

»Ich weiß ja, dass ich gefehlt,« knirschte sie mit fast verzweiflungsvoller Stimme in sich hinein, »aber dennoch tue mir das nicht, verstoße mich nicht.«

Paul bemerkte mit Verwunderung, dass ihm dieser dämonische Gefühlsausbruch Emmas, ob er ihn gleich erschreckte, eigentlich keineswegs wärmere Empfindungen einflößte. Er bemitleidete die Reumütige sogar, aber es hielt ihn noch immer eine gewisse Scheu von ihr zurück, sein so schnöde gedemütigter Mannesstolz bäumte sich dagegen auf, mit ihr, die ihn zum Kinde herabgewürdigt, Frieden zu schließen. Er fühlte, dass er hier stark bleiben musste, wollte er seine Rechte wahren, dass er ihr seine ganze Männlichkeit entgegensetzen wusste, um nicht abermals einer Demütigung ausgesetzt zu sein.

»Ich hasse dich nicht,« sagte er endlich, als sie noch immer still, die Hände vor dem Gesicht, dasaß, »wir wollen Freunde bleiben, mehr kann ich beim besten Willen dir jetzt nicht sagen. Eine solche Wunde vernarbt langsam, vielleicht nie.«

Er setzte noch einiges hinzu, alles in einem ruhigen, lehrhaften, fast trocknen Ton. Dies kühle Benehmen gab Emma allmählich ihre Fassung zurück.

Sie unterbrach ihn, stand auf und zeigte ihm, indem sie auf die Portiere zuschritt, auf einmal ein so gleichmütiges, fast trotziges Gesicht, dass er denn doch anfing, sein kaltes Benehmen ein wenig zu bereuen.

»Du tust wohl daran, zu gehen,« sagte sie, den Kopf in den Nacken zurückgebogen, die Augen halb geschlossen, einen stolzen Schmerzausdruck auf den erblassten Zügen.

»Lebewohl.«

Er sah sie ratlos an und wollte erwidern; sie bemerkte dies und blieb stehen; als er schwieg, sagte sie noch mit tränenerstickter Stimme:

»Ich habe aufrichtig bereut, mehr kann ich nicht tun; lebe wohl.«

Dann verschwand sie hinter der Portiere.

Langsam wandte er sich der Türe zu. Wie gut ihm dieser stolze Schmerz gefiel, diese vornehme Resignation. Er sah die Portieren zufallen, lauschte ihren sich entfernenden Schritten und dachte daran, sie zurückzurufen oder ihr zu folgen. Abneigung und Zuneigung engten ihm zu gleicher Zeit die Brust er hätte sie küssen und zugleich beleidigen mögen und dieser Frost, der mit der innigsten Glut um die Herrschaft stritt, zerrüttete sein Gemüt derart, dass er sich innerlich erkrankt fühlte und dass er schließlich wünschte, sich selbst entfliehen zu können.

Noch immer, als er bereits im Wagen saß, stand ihr Gesichtsausdruck vor seiner Phantasie und zerquälte er sich mit der Frage, ob er vielleicht zu schroff gewesen.

Hinter den Jalousien sah ein tränenüberströmtes Auge dem abfahrenden Wagen nach, er aber wusste nichts davon.