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Read the book: «Aus der Praxis», page 11

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XIII. Kapitel

Als Paul wieder zu sich kam. fand er sich in seinem eignen Hause, auf seinem Bette liegend. Was war geschehen? Warum befand er sich hier? Er wusste nichts mehr von den Ereignissen, die ihm kaum eine Stunde vorher das Herz zerrissen! Doch! Jetzt dämmerte es! Aus der angenehmen Nacht, die ihm die Schläfen kühlte, drang wieder der grelle Strahl des Bewusstseins. Da lag es vor ihm; sein ganzes Elend grinste ihn hohnlachend an wie mit blutigen Zähnen, und er stand ihm machtlos, tat- und ratlos gegenüber! O, wenn er sich’s doch verbergen könnte, wenn er doch nicht daran zu denken brauchte! Und die Trostlosigkeit seiner Lage begann schließlich sein Vorstellungsvermögen zu lähmen. Eine Schwerbesinnlichkeit hatte ihn befallen, die, als sie gewichen, einer dumpfen Gleichgültigkeit Platz machte.

Es lag ihm an seinem, an Emmas Wohl nichts mehr, er wünschte ewig vor sich hin zu träumen. Endlich ermannte er sich und frug den scheu eintretenden Diener mit dumpfer, gleichgültiger Stimme, wie er hier her gekommen, und dieser berichtete, dass man ihn vor einer Stunde nebst der Verunglückten in zwei verschiedenen Wagen des Bankiers hierhergebracht.

»So hat man alle Belebungsversuche aufgegeben?« frug Paul tonlos.

»Aufgegeben?« gab der Diener erstaunt zurück.

Bebend, sich abwendend, als wolle er die Antwort absichtlich überhören, frug Paul noch einmal.

»Nein, die Dienerinnen haben Ihre Frau,« erklärte ihm der Alte, »auf Wunsch des Arztes ins Bett gebracht.«

»So ist meine Frau hier?«

»Gewiss, der Arzt fuhr mit ihr im Wagen her; der Arzt lässt Ihnen sagen —«

Paul wandte sich hastig um, die stumpfe Gleichgültigkeit wich aus seinem Innern.

»Sie sollten,« fuhr der Alte fort, »Sie sollten Hoffnung fassen, meint der Doktor, die Verunglückte beginne zu atmen.«

»Was?« rief Paul, »sie lebt?«

Er atmete auf, als sei er der Ertrunkene, der wieder zum Leben erwachte. Er wollte sich aufraffen und wie ein Besessener hinunter, zu ihr eilen, fühlte sich aber an allen Gliedern wie gelähmt, auch hielt ihn der Diener zurück.

»Jetzt noch nicht,« sagte er, »der Doktor meint, er wolle Sie später benachrichtigen, wenn Sie hinunter dürfen – jetzt noch nicht.«

»Es ist gut,« stammelte der Maler, nervös zitternd, wie von einem Krampf befallen, »es ist gut, gehe!«

So wäre dies Unheil nur ein Traum gewesen? Eine Prüfung des Schicksals? Vielleicht ein Mittel, um sie beide zu vereinigen? Und er hatte sie wieder? Sie war gerettet? Tausend Fragen bestürmten den Ungeduldigen – was sie von ihm denken mochte! Wie sie ihm begegnen würde! Ob sie ihn jetzt verabscheue, ihn hasse? O, war sie auch gerettet, er war es noch nicht, er war verlorener als je! Für ihn blieb sie tot! Schlimmer als tot.

War sie nicht in ihrer weiblichen Ehre verletzt? Zwar er hatte ihr viel zu verzeihen, doch durfte sie ihm offenbare Untreue verzeihen? Er kam zu keinem Resultat.

Als er, von diesen quälenden Vorstellungen gepeinigt, sich stöhnend an die Stirne griff, bemerkte er, dass der Diener noch nicht gegangen war; er fasste sich und blieb, den Ausdruck resignierten Leidens in den Zügen, aufrecht auf dem Bette sitzen.

»Was willst du noch?« sagte er rau.

»Der Doktor hat,« stammelte der Alte, »als er die Frau entkleiden musste, um die Atmungsbewegungen vorzunehmen, dies Notizbuch bei ihr gefunden. Er sagt, ich soll’s Ihnen übergeben.«

Paul griff mechanisch nach dem durchnässten Ledertäschchen, öffnete es und fand darin seine Photographie, die er, wie im Zorn, zu Boden warf. Die Seiten des Büchleins waren mit Blei beschrieben; er überflog sie: es schienen abgerissene philosophische Ideen, Kunstbetrachtungen, zuweilen kurze Reimzeilen zu sein. Eines der Blätter hing lose, und als er das Buch schließen wollte, fiel sein Blick auf die fast unleserlichen Worte:

»An meinen Mann!«

Das Blut schoss ihm in die Augen, zitternd überflog er das Blatt, vermochte aber die halb verwischten Schriftzüge mit dem besten Willen nicht zu entziffern. Offenbar hatte sie, ehe sie sich in die Wellen stürzte, an ihn schreiben wollen; ihre Aufregung schien dies Vorhaben unmöglich gemacht zu haben, die Buchstaben standen ordnungslos, oft sinnlos durcheinander.

In welchem Sinne hatte sie an ihn schreiben wollen? Wollte sie von ihrer Liebe, von ihrem Hass reden, verachtete sie ihn, oder wollte sie ihm vorm Tod verzeihen? Nur das einzige Wort: Schuld! ließ sich mit Mühe auf dem nassen Papier erraten, – in welchem Zusammenhang das Wort gebraucht war, blieb unklar. Dennoch saß Paul diesen ganzen Tag hindurch vor dem kleinen Blatt, das ihm so wichtige Rätsel aufgab, und erst, als ihm gegen Abend der Arzt melden ließ, Emma sei außer Gefahr und dürfe Besuche empfangen, riss er sich von den unentzifferbaren Buchstaben los. Sollte er jetzt zu ihr gehen? Das Herz zitterte ihm, wenn er daran dachte, sie zu sehen. Nein! Noch gab es ein Aushilfsmittel. Rasch entschlossen trat er an den Pult und schrieb ihr einen Brief, in welchem er mit fieberhafter Hast in den gesteigertsten Ausdrücken seinen ganzen Gemütszustand enthüllte. Sein Vergehen suchte er als die Folge ihrer eignen Schroffheit und Herzenskälte hinzustellen; er bewies ihr dies mit dem Scharfsinn der Verzweiflung und gab ihr zu verstehen, dass sie ihn zu diesem Äußersten durch ihr Benehmen getrieben. Der Brief atmete einen männlichen, selbstbewussten, wenn auch resignierten Ton und schloss mit der Bitte, sie möge ihm gewähren, sich auch mündlich zu rechtfertigen, sie würde sich alsdann überzeugen, wie sehr er sie verehre und liebe, wie sehr er jene andere, mit der er sich vergangen, verabscheue, ja verachte.

Als er diesen Brief an sie abgeschickt, wartete er vergebens; es erfolgte keine Antwort. Er sah Emma mehrere Tage hindurch nicht, obgleich sie, wie er wusste, völlig hergestellt war. Wieder kehrte jene trübe Gleichgültigkeit in ihm zurück, immer mehr verdüsterte sich sein Gemüt, und er beschloss, um der Sache ein für alle Mal ein Ende zu machen, weit weg nach Italien zu reisen, es schien ja offenbar, sie wollte ihm nicht verzeihen, sie verschloss sich in ihren Zimmern, ein Zusammenleben war unter solchen Umständen nicht möglich.

Am Tage vor seiner Abreise suchte er noch einmal einen Lieblingsort im Park auf, eine einsame, dicht am Weiher gelegene Bank. Jetzt freilich hatte der Novembersturm die vergilbten Bäume arg zerzaust. Der Kiesweg lag fußhoch mit farbigen Blättern bestreut; über den Spiegel des Weihers fröstelten die kalten Schauer des herannahenden Winters und zuweilen zitterte eine verlorene Schneeflocke wie ein Vorbote künftigen Gestöbers von den grauen Wolken herab. An sein zerstörtes Dasein denkend, sank der Maler auf die Steinbank, beugte das Haupt herab und spielte mit der Hand in den raschelnden Blättern am Boden. Eigentlich dachte er an gar nichts; es lag wie eine schmerzliche Schlaftrunkenheit über ihm, höchstens, dass ihm manchmal die Empfindung kam, Emma strafe ihn zu hart, doch blieben alle seine Reflexionen verschwommen; er gab sich seinem Gram auf träumerische Weise hin. Da das fahle Abendrot über den Teich herüberdämmerte und der Wind dringender über die schauernden Wellen strich, begann es ihn zu frieren. Er wollte aufstehen, aber das Rauschen der windbewegten Blätter fesselte alle seine Entschlüsse, es war ihm, als müsse er hier verbluten: Er schloss die Augen und dachte an den Schlaf der Erfrierenden. Wahrscheinlich wäre er auch wirklich eingeschlafen, plötzlich empfand er aber durch die geschlossenen Augenlider eine Verdunklung hindurch; es musste jemand zwischen ihn und die untergehende Sonne getreten sein. Ein jäher Stich durchbohrte ihm die Brust, er riss die Augen auf und stammelte verschlafen:

»Wie kalt es ist.«

Seine Ahnung betrog ihn nicht: Emma stand vor ihm.

»Du?« sagte er leise, indes ihm das Herz gefror und er fühlte, wie das Blut aus seinem Gesichte wich.

Ihr blasses Gesicht zuckte, als wolle sie sprechen, fände aber die Worte nicht. Tränen brannten in ihren demütig auf Paul gerichteten Augen.

»Paul,« flüsterte sie endlich mühsam, »dein Brief …«

Mehr brachte sie, da er sich schweigend, die Lippen aufeinanderpressend, abwandte, nicht hervor.

»Mein Brief?« flüsterte er dann fragend, als erwarte er, dass sie fortfahre.

»Paul,« setzte sie noch einmal tief aufschluchzend, mühsam an, »kannst du mir verzeihen —?«

»Ich dir? —« stotterte er ablehnend und setzte mit dringender Betonung hinzu: »Du mir.«

»Wir tragen beide Schuld —« hauchte sie mit hochwogendem Busen, »aber die meine ist die größere, ich weiß es – ich weiß es, dass du mich liebst, immer liebtest – nicht wahr? Selbst da liebtest als du —«

Sie brach ab. Sie hatte sich ihm genähert; er sah bebend zu ihr empor, streckte langsam den Arm aus und sie fiel ihm, in die Knie brechend, laut aufschluchzend, um den Hals.

»O Paul,« schluchzte sie, »wenn du wüsstest, wie ich dich jetzt, jetzt liebe —«

Er zog die vor ihm Kniende fester an seine Brust —

»Und meine Schuld,« flüsterte er stammelnd in sie hinein.

»Still,« hauchte sie, ihm mit Küssen den Mund schließend, »seitdem du mir das angetan – seitdem du mich so tief gedemütigt – liebe ich dich noch mehr – kannst du es glauben? Es ist so!«

»Wie glücklich werden wir jetzt leben,« flüsterte er strahlenden Auges ihr ins Ohr.

Ende