Die Bärin Roman

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Die Bärin Roman
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Wilhelm Thöring

Die Bärin

Ein Frauenschicksal der Nachkriegszeit

Roman

Die Bärin

Ein Frauenschicksal der Nachkriegszeit

Wilhelm Thöring

Copyright: © 2013 Wilhelm Thöring

Cover-Design: Aiga J. Janning

Foto: Photocase / table

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de 978-3-8442-4691-3

Prolog

Erlöst atmeten die Menschen in diesem Frühjahr neunzehnhundertfünfundvierzig auf, als es schließlich still geworden war. Fortdauernde Stille waren sie nicht gewohnt, und so sprachen sie von einer Friedhofsstille und wussten nicht, was sie davon halten sollten und was danach kommen würde. Wie wird es mit uns weitergehen, so dachten und fragten sie untereinander. Aus ihren Fenstern wehten eine Zeit lang weiße Laken oder Tischtücher, und das andere Tuch, das rote mit dem Hakenkreuz, das sie in den vergangenen Jahren heraushängen mussten, das arbeiteten sie zu Wäsche oder anderem um. Sie fühlten sich befreit, und sie sahen zweifelnd, jedoch ohne Angst auf das, was nach diesen Jahren kommen würde. Auch wenn sie sich in einem zerstörten Land zurechtfinden mussten, in dem alle Ordnung daniederlag und die alten Gesetze nicht mehr galten, weil andere das Sagen und neue Weisungen beschlossen hatten und streng auf die Einhaltung dessen achteten, was sie verfügten. Fremde, mit denen man es zu tun bekam, wurden misstrauisch beäugt, weil man nicht wusste, auf welcher Seite die einmal standen. Das, was sie jetzt erlebten, war noch nicht die ersehnte Freiheit, auch wenn es keinen Bomben-und Parteiterror mehr gab. Die Stille, die sich auf die Menschen legte und sie selbst still machte, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Denn diese Stille glich einer Leere. Auf vielen lag etwas, das ihnen den Hals zuschnürte, ihnen das Aufatmen schwer machte und sie mit Sorgen erfüllte und sie fragen ließ, ob ein geregeltes und geordnetes, wenn auch bescheidenes Leben, ein Leben in Sicherheit und Normalität überhaupt noch einmal im Bereich des Möglichen liegen würde.

Sie hatten sich einzurichten in einem persönlichen und allgemeinen Durcheinander. Mit dem Ende der Sperrstunden wurde es lebhafter, manchmal laut auf den Straßen, es wurde gerufen, geschrien, gezankt und geraubt, es wurde geklagt, geweint und getrauert, auch gestorben. Und nicht immer wurde der, der unter den Strapazen und Entbehrungen sein Leben verloren hatte, betrauert. Man tat mit ihm, was schicklich war – und tröstete sich mit den Worten: Wieder einer, der es hinter sich hat. Warum sollte er betrauert werden? Er war zu beneiden, so fanden nicht wenige! Millionenfach ist in der Vergangenheit gestorben worden, elender und bestialischer als hier auf der Straße zwischen Trümmern und Schutt und unter den Augen Umhergetriebener. Wer davongekommen war, dessen Gedanken kamen nicht los vom Fressen, weil der Magen Tag und Nacht brannte und bohrte und keine Ruhe gab; die Gedanken vieler kreisten um eine Bleibe, wo sie sich ausstrecken und ein wenig erholen konnten, wo sie Schutz fanden vor Regen und stechender Sonne, vor der Habgier des Stärkeren, der nach allem schielt, was der andere gerettet hat. Vor allem aber, unablässig, beschäftigte der Gedanke ans Essen die Gemüter und machte die Menschen unruhig und umtriebig.

Die Heimsuchung ist vorüber, doch was ist anders geworden? Nicht nur das Land und seine Städte sind geschändet, geschändet ist auch der Mensch, verwundet an Leib und Seele, und er fragt sich, ob es noch Sinn macht, sich einer solchen Ausweglosigkeit zu stellen und ein Kreuz auf sich zu nehmen, unter dem er am Ende nur zusammenbrechen wird. Andere wiederum entwickeln Kräfte, die sie über sich selbst hinauswachsen lassen, so dass mancher geneigt ist zu glauben, sie wären in ihrem Tatendrang, wären in ihrem Leben eingeschnürt gewesen. Die waren die ersten, die hervorkrochen, wenn die Sperrstunde vorüber war, die geschäftig bald hier, bald da zu sehen und zu hören waren und die es drängte, das Normale wieder auferstehen zu lassen. Um das zu erreichen, scheuten sie nichts, nicht einmal Unerlaubtes. Was sie trieb, das waren ihr starker Wille und ihre Entschlossenheit, dass die Welt in ihren alten und bewährten Zustand zurückversetzt werden müsste.

Frauen waren es und Mütter, die von einer geheimnisvollen Kraft getrieben wurden; die, die ihre Kinder in eine andere Welt hineingeboren hatten und die jetzt alles daransetzten, ihnen diese verlorene und untergegangene Welt neu zu schaffen. Frauen und Mütter mit Visionen, denen die Männer und Söhne genommen und vor einen Feind gestellt, die in fremde Erde gelegt oder verschleppt wurden in Strafgefangenenlager am äußersten Ende der Welt. Diese Frauen haben in doppelter Verantwortung Zukunft zu bauen: als Mutter und als Vater. Sie sind hart geworden, und wenn sie bestehen wollen, müssen sie hart bleiben: hart gegen sich selbst, gegen andere und hart gegen die, für die sie alles einsetzen.

Gekleidet in Strickjacke oder Mantel, wenn sie einen hat, an den Füßen polternde und scheuernde Holzpantinen, so huscht die Frau in den Trümmern herum, schleicht über den Schwarzmarkt und sucht die Nähe der Besatzungssoldaten. Wer Glück hat, lässt sich in einer verlassenen Wohnung nieder; die Erfolglose ist mit einem Erdloch zufrieden, in dem sie halbwegs trocken und windgeschützt unterschlüpfen und sich verstecken kann, und sie dankt Gott, dass sie nicht als Vertriebene mit wenigen Habseligkeiten von Ort zu Ort ziehen muss und fußlahme Kinder und Eltern im Schlepp hat.

Ja, wenn es gelingen sollte, die Vision von einer neuen und besseren, einer lebenswerten Welt Wirklichkeit werden zu lassen, wenn es gelingt, für sich selbst und die Kinder Zukunft aufzubauen – dann ist es diese zähe und harte Frau in ihrer elenden Schäbigkeit, die Frau mit ihrem zu kurz gekommenen Leben, die die Last trägt, für eine Generation Mutter und Vater zugleich sein zu müssen.

Kapitel 1

Der Geruch von Staub hat Ursula Andreae geweckt. Er liegt in einer dicken Schicht auf ihr und auf der Decke und brennt in der Nase. Sie kann sehen, wie der Wind ihn durch die Spalten um die Tür bis in den Winkel weht, in dem sie schlafen. Sie liegt zwischen ihren Kindern im Keller des zerbombten Hauses, so wie Tiere sich in Erdhöhlen verkriechen und auf die Zeit warten, die ihre Zeit ist. Hinten in der Ecke, wo es nicht durchregnet und nicht so sehr zieht, hat sie aus den umliegenden ausgebombten Wohnungen zusammengetragene Matratzen aufgeschichtet, auf denen sie mit ihren Kindern in diesem Keller schläft. Die Decken wärmen nicht. Seit Stunden liegt Wolfgang, ihr Ältester, auf ihrem Arm und sie fühlt sich, als hielte er sie gefangen. Einen Keller kann man diese Höhle nicht nennen – es ist ein dreckiges Loch zwischen Schutt, zersplittertem Holz und dem, was sie in den vergangenen Wochen, nachdem sie ausgebombt war, zusammengetragen hat. Ein Tisch ist da, mit einem zur Hälfte abgebrochenen Bein, unter das sie Steine gestapelt hat; seine Linoleumplatte zeigt große Löcher. Dazu besitzt sie drei verschiedene Stühle und ein paar Bretter, die sie mit Hilfe von Ziegelsteinen zu einem Regal zusammengestellt hat, in dem vier Blechtassen, zusammengesuchtes Geschirr und Besteck, zwei verbeulte Töpfe, eine Bratpfanne und ein Wasserkessel, eine brauchbare Kaffeemühle sowie ein paar Gläser mit Eingemachtem stehen, die sie hier im Keller gefunden hat.

Sie liegt reglos, um die Kinder nicht zu wecken. Durch die Scheibe der behelfsmäßigen Tür fällt Sonnenlicht: Ein gutes Zeichen, denkt Ursula, denn heute werden ihre Eltern zu ihr herüberkommen. Sie hausen mit vielen anderen Menschen in einer kleinen Wohnung, wo es Diebereien gibt, ständig Streit und auch Handgreiflichkeiten, und wo einer dem anderen das Leben schwer macht. Das sei die reine Hölle, sagten sie, und sie werden gehen und künftig bei ihr wohnen. Über aller Trostlosigkeit, nach den grauen und kalten Tagen zeigt wenigstens der Himmel heute ein freundliches Gesicht und lässt in ihr Freude und Hoffnung aufglimmen. Wenn die Eltern da sind, dann werden sie sich nach einer richtigen Wohnung umsehen. Der Vater ist geschickt, und er versteht es, zu reparieren und vieles von dem anzufertigen, was zum Leben notwendig ist. Auch gibt es mehr Sicherheit, wenn noch zwei Erwachsene dazukommen.

Sie verspürt das Verlangen aufzustehen und nach draußen in die Sonne zu gehen, um ihre steifen und durchfrorenen Glieder wärmen zu lassen. Doch der Junge hindert sie daran. So muss sie warten, bis er sich wegdreht oder aufwacht.

Vor der Nische, in der früher einmal Kohlen oder Kartoffeln lagerten, hat sie noch immer das weiße Laken hängen, den Siegeslappen, wie sie es nennt. Dieses Laken hat sie auf Geheiß der Behörde, die keine Behörde mehr war, beim Einmarsch der Amerikaner vor ihre provisorische Tür gehängt, als Zeichen dafür, dass sie sich mit ihren drei unmündigen Kindern der Besatzung ergibt. Sie, die kein Bett, keinen Herd, die nichts mehr hat als ihre Kinder und das Leben, sie muss auch das für andere sichtbar machen, dass in dieser Behausung weder Soldaten noch Waffen versteckt sind. Wie hat sie nach einem weißen Tuch in den leerstehenden Häusern und Trümmern gesucht! Jetzt hängt es vor der Nische und macht sie zu einem Raum, in dem sie sich ungesehen von den Kindern waschen kann. Eine Wanne hat sie nicht, nur eine verbeulte, fleckige Emailleschüssel, die auf einem Sockel von aufgeschichteten Steinen steht.

Im Sonnenlicht sieht sie dicke Wolken von Staub, die von etwas Übermächtigem in ihre Unterkunft geblasen werden. Wir leben nicht mehr wie Menschen, sondern wie Ratten, denkt sie, ja wie Ratten, versteckt und bedroht und immer auf dem Sprung, wie in der Zeit, als feindliche Bomber über uns hinwegdröhnten! Immerhin: Wir leben! Und Reinhold, das sagt ihr ihre innere Stimme, Reinhold lebt auch. Der Krieg ist zu Ende, so wird es nicht mehr lange dauern, und er kehrt heim. Ob die Kinder ihn wiedererkennen werden? Als er Fronturlaub hatte, haben die beiden Jungen sich von ihm ferngehalten. Sie waren ein Leben nur mit der Mutter gewöhnt, der Vater war fremd und störte. Und Marlene mit ihren eineinhalb Jahren hat ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Was kennt das Mädchen, was weiß es von einem Vater?

 

Der Krieg hat Reinhold fremd gemacht, auch für sie. Es gab nur noch wenig Gemeinsames zwischen ihnen. Sie konnten Stunden beisammensitzen und schweigen. Sie dachte an die zahllosen Bombennächte und ihr gehetztes Rennen mit den Kindern in den Bunker und daran, dass sie immer allein war, immer auf sich gestellt. Und er dachte an seine Erlebnisse an der Ostfront, von denen er anfangs stundenlang erzählte, bis sie es nicht mehr hören konnte. Haarsträubende Geschichten erzählte er, aber hatte sie in der Heimat nicht ebenfalls Vergleichbares erlebt? Wenn sie davon sprach, dann schwieg er und dachte an die russischen Dörfer, durch die er gezogen war. Er dachte an jene Menschen, an Frauen, an Kinder und Greise, und wozu deutsche Landser fähig waren. Er sagte ihr: Gott sei’s geklagt, Ursula, was diese Menschen erleiden! Wenn der Russe uns das heimzahlt! Gütiger Himmel! Sein Mitgefühl hat Reinhold nie verloren. Der Krieg hat ihn still gemacht, abwesend und noch empfindlicher für Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, aber roh oder gar brutal – nein, das ist er nicht geworden.

So aufgebracht hat sie Reinhold nie in ihrem Leben gesehen wie bei seinem letzten Fronturlaub, als vor ihrem Haus Fremdarbeiter von deutschem Wachpersonal geschlagen und malträtiert wurden. Es war eine Kolonne russischer Frauen, die im Schutt des zerstörten braunen Hauses – der örtlichen Parteizentrale, die bei einem der letzten Fliegerangriffe von einer Bombe getroffen worden war – aufzuräumen und alles Wichtige und Brauchbare auszugraben und zu bergen hatte. Ihr schwermütiger, zu Herzen gehender Gesang machte Reinhold auf sie aufmerksam und lockte ihn ans Fenster. Und was er sah, das empörte ihn derart, dass er Ursula zu sich rief. Aufgereiht, teilnahmslos wie Tiere sahen die Frauen zu, wie einige jüngere Leidensgenossinnen sich um eine ältere Frau bemühten, die auf der Straße lag. Ihre wattierte Jacke hatte sie aufgerissen, wie ein Fetzen Stoff hing eine Brust heraus, und ihr Kopftuch lag neben ihr auf dem Boden, auf das eine andere ihren Fuß gestellt hatte, um es nicht fortwehen zu lassen. Ein Schuh war auf die andere Straßenseite geflogen, aber dahin traute sich keine. Die Frau, die auf der Straße lag, bekam keine Luft. Sie bäumte sich auf, warf den Kopf nach hinten und zur Seite, knetete ihre Brust und trommelte darauf und riss den Mund weit auf, aber sie blieb still, so wie die anderen Frauen auch. Ungerührt standen zwei Wachsoldaten daneben, das Gewehr im Anschlag und sahen zu, wie die jüngeren Frauen sich abmühten, die Kranke wieder auf die Beine zu stellen und mitzuschleppen. Der Jüngere stieß die Alte mit dem Stiefel an, er trat nach ihr und brüllte, ungeduldig geworden, auf sie herunter. Sie schaffte es nicht hochzukommen. Die Wachsoldaten berieten sich kurz, die Frauen wurden in ihre Reihe zurückgedrängt, dann zog der jüngere Bewacher seine Pistole und erschoss die Frau auf der Straße. Wie einfach das ging! Er streckte seine Waffe nach ihrem Kopf hin und drückte ab. Der Kopf der Kranken fiel aufs Pflaster, sie versuchte noch einmal sich aufzubäumen, dann lag sie still, Mund und Augen immer noch weit aufgerissen. Wie ungerührt die Frauen dabei zusehen konnten! Und als sie weiterzogen, als die kräftigsten von ihnen die Tote mitschleppen mussten, da sangen sie wieder.

Außer sich vor Erregung hatte Reinhold das Fenster aufgerissen und den Bewachern etwas zugerufen, hatte geschimpft und ihnen gedroht, diesen Vorfall zu melden, so dass Ursula ihn ins Zimmer zurückreißen und das Fenster schließen musste. Es gehe hier nicht anders zu als an der russischen Front, hatte er ungläubig gestöhnt. Wie da, so würden auch hier Menschen mit Füßen getreten, würde Jagd auf sie gemacht und man schieße sie ab, wie anderswo die Hasen oder Enten. Drüben im Osten habe er Grausameres gesehen, viel Grausameres als das, was sie eben mit der Russin getan haben... Diese Frau sei nicht langsam und qualvoll gestorben, im Grunde sei sie ohne viel Aufhebens erlöst worden von ihrem jämmerlichen Dasein. Und das sagte er auch: Er glaube, dass jede Untat, die von einem Volk begangen werde, ein Spatenstich zu seinem eigenen Grabe sei.

Reinhold! Obwohl er verändert war und fremd bei seinem letzten Besuch – sie ist es auch, das weiß sie – so ist ihre Sehnsucht nach ihm an manchen Tagen so groß, dass sie seinen Namen hinausschreien möchte. Hier haust sie in einem Loch und ist voller Verlangen nach seinen Armen, nach seinem Körper, dass es schmerzt und sie verrückt werden könnte!

Und er? Steckt er auch wie eine Ratte in einem ähnlichen Loch wie sie? Und weiß auch er vor Verlangen nicht wohin? Wenn sie doch aufstehen und in die Sonne gehen könnte!

Ursula liegt in der Umklammerung ihres ältesten Sohnes und weint still, die Tränen verschmieren den Staub auf ihrem Gesicht. Und über ihr tickt der Wecker und erinnert sie daran, dass die Sperrstunde bald vorüber ist.

Der Vater hat sie zuerst erkannt. Ursula steht mit ihren Kindern auf den Trümmern vor ihrer Behausung und hält Ausschau nach ihren Eltern, nach Gottfried und Emma Straeten. Seitdem die Sperrstunde vorüber ist, sitzt sie wartend auf einem Mauerrest, denn hier draußen atmet sie frische Luft und wird von der Sonne gewärmt. Wenn sie jemanden entdeckt, der den Eltern ähnlich sieht, dann läuft sie ihm entgegen. Anfangs sind die Kinder mitgelaufen, jetzt bleiben sie, wo sie sind und sehen nicht einmal mehr auf, wenn die Mutter davonstürmt. Die kleine Marlene sitzt zwischen dem Schutt und spielt mit einer leeren Ölsardinendose, und Wolfgang und Achim, ihre beiden Brüder, schichten Steine aufeinander; sie bauen neue Häuser, sagen sie.

Und immer noch ziehen Flüchtlinge kreuz und quer durch die Straßen, als kämen die Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Wenn die Sperrzeit vorüber ist, dann kriechen sie aus ihren Verstecken und ziehen weiter, bis sie wieder gezwungen werden, in den Trümmern unterzutauchen und zu warten, bis eine neue Sonne über dem zerschlagenen Land aufgeht. Überwiegend sind es jüngere Mütter mit ihren Kindern, die die Straßen füllen, auch Alte sind dabei mit fragenden oder verständnislosen Blicken und mit leeren Gesichtern. Abgeschlafft und verdreckt sind sie und stumpf geworden von dem, was hinter ihnen liegt. Die einen schieben voll bepackte Kinderwagen oder ziehen Wägelchen hinter sich her, andere führen, vom weiten Weg krumm geworden, ihr Fahrrad, auf dem sie ihre Habseligkeiten festgezurrt haben.

Früher hat Ursula auch schon einmal einen dieser Umherirrenden angesprochen, hat ihn gefragt, woher er kommt und wohin er unterwegs ist.

„Ach, Gottchen ne, dahin, wo ich kann ausschlafen oder sterben“, war die Antwort. Jetzt fragt sie niemanden und beachtet keinen mehr. Aber sie überlegt manchmal, wo in diesem verwüsteten Land, in dem keine Nahrung und kaum Obdach zu finden ist, die Flüchtlinge denn bleiben wollen. Westwärts wollten sie; sie sind im Westen angekommen und sind noch immer unterwegs. Diese Gestalten werden nicht mehr wahrgenommen, werden nicht befragt, werden nicht angesehen. Wonach Ursula alle Tage Ausschau hielt und mancher Täuschung erlag, das war Reinhold. Heute guckt sie sich nach ihren Eltern die Augen aus dem Kopf. Die Frau aus der ersten Etage des Hauses gegenüber, eine Frau in ihrem Alter mit fünf Kindern, schleppt Holz herbei. Sie trägt Schwarz, weil ihr Mann in den letzten Kriegswochen gefallen ist. Ihre schwarze Kleidung hat der Trümmerschutt zu einem hellen Grau verfärbt. Die Frau klappt das Ende ihres Schals, den sie um den Kopf geschlungen hat, herunter, um Schweiß und Staub aus dem Gesicht zu wischen. Als sie Ursula sieht, hebt sie grüßend eine Hand und rät ihr, sich mit Brennholz einzudecken, denn es geht das Gerücht, dass wieder strenger Frost aufkommen wird. Ja, das wolle sie tun, ruft Ursula zurück, aber später, später. „Jetzt“, ruft sie voller Freude, „jetzt halte ich nach Besserem Ausschau: Meine Eltern werden heute zu mir kommen!“

Die Nachbarin nickt und lacht unter ihrer Last und geht ihres Weges.

Hinter ihr streiten sich die beiden Jungen. Achim, der Jüngere, der mit einem leicht verbogenen Rücken geboren wurde, brüllt und will den Hammer haben, den sein älterer Bruder Wolfgang in den Trümmern gefunden hat. „Er soll abhauen“, schreit der Ältere, er habe den Hammer gefunden. Der Hammer gehöre ihm! Der Achim ruft nach der Mutter, und als sie sich zu ihnen umdreht, fängt er an, herzzerreißend zu weinen. „Gebt endlich Ruhe“, mahnt die Mutter, der Wolfgang sei der Ältere, und der Ältere gibt nach!

Dass es zwischen den Jungen zu einer Prügelei kommt, das merkt sie nicht mehr – denn unten in der Straße, zwischen den Schuttbergen links und rechts, sieht sie den Vater winken. Er steht erhöht auf einem Mauerstück und schwenkt seinen Hut. Langsam und schwerfällig watschelt die Mutter, Emma Straeten, auf sie zu.

„Wie bin ich froh, dass ich das hinter mir habe! Urschel, es war die Hölle... Gott sei Dank, jetzt bin ich hier!“ Mit zitterndem Kinn stellt sie ihre Tasche ab, in die sie Dinge gepackt hat, die wichtig sind und die nicht verloren gehen dürfen, und laut schluchzend fällt sie der Tochter um den Hals. „Lieber in einem Erdloch hausen wie ein Vieh als in einem Schuppen bei solchem Pack!“ Und wieder weint sie.

„Ja, mehr als ein Erdloch kann ich euch nicht bieten, Mutter. Ihr werdet euch mit einem zusammengebrochenen Keller zufriedengeben müssen.“

„Was soll’s... Wenn ich nur meinen Frieden, meine Ruhe habe. Du lieber Gott, was haben wir bei dem Gesindel nicht alles durchgemacht!“

Auch der Vater trägt eine Tasche, größer als die der Mutter, in der es bei jedem Schritt klirrt und scheppert. Er geht aufrecht und forsch und nicht wie ein Endfünfziger; Haar und Bart sind gestutzt und haben Form. Ja, auf sein Äußeres hat der Vater immer mehr Wert gelegt als die Mutter. Trüge er nicht diesen zerschlissenen, ausgefransten Mantel, an dem es keine Knöpfe mehr, dafür reichlich Flecken gibt, und diesen sonderbaren steifen Hut – der Vater gäbe eine gute Figur ab und würde Eindruck machen. Jetzt sieht er nur wunderlich aus, wie jemand, der sich verkleidet hat. Den Kopf ein wenig vorgestreckt, hält er der Tochter seine Wange zum Kuss hin. Leise, in seiner bedächtigen Art sagt er: „Hier gibt es ja noch ganz leidliche Wohnungen. Hätte ich noch all mein Werkzeug, Urschel, glaube mir, ich könnte euch beiden und den Kindern eine Bleibe schaffen, auf die mancher scheel blicken würde! Nun, wir werden sehen, was sich machen lässt.“ Er zwinkert der Tochter zu: „Siehst du, der Krieg ist zu Ende, und jetzt scheint auch wieder die Sonne.“

Auf ihrer Kochstelle, die Ursula Andreae sich aus Steinen und einer dicken Blechplatte gebaut hat, hat sie für die Eltern Malzkaffee gekocht. Sie selbst trinkt selten Kaffee, sie trinkt meistens Wasser. Kaffee ist für die Kinder. Das Wasser holt sie aus dem Keller eines halb zerstörten Hauses. Seitdem sie einen Eimer besitzt, ist das Wasserholen für sie leichter geworden, denn sie muss über die Trümmer steigen, und mit der verbeulten Schüssel hat sie oft mehr als die Hälfte verschüttet.

Gleich, nachdem der Vater sich in ihrer Behausung umgesehen hat, ist er daran gegangen, einige Verbesserungen vorzunehmen. Zuerst hat er an einer Stelle, wo sie trocken sitzen können, den Boden geebnet, so dass Tisch und Stühle einigermaßen fest stehen. Als nächstes, hat er gesagt, werde er die Spalten und Ritzen um die Tür abdichten. Mit Mäusen kann er sich abfinden, aber nicht mit Ratten oder ähnlichem Kroppzeug.

Die alte Frau sieht müde und elend aus, und Ursula hat den Verdacht, dass sie eine Krankheit in sich trägt. Ihr Gesicht und ihre Hände sind gelblich, und sie ist so schlapp, dass sie, wenn sie aufstehen will, nur mühsam auf die Beine kommt. Wenn die Mutter zu ihr herübersieht, dann beginnt jedes Mal ihr Kinn zu zittern, und sie schämt sich deswegen und wendet sich schnell ab.

„Was fehlt dir, Mutter?“

Die Mutter schüttelt den Kopf. „Jetzt geht’s mir gut. Ach, Kind, wenn du wüsstest! Wie können Menschen nur so abscheulich zueinander sein! Sie sitzen da und denken darüber nach, wie sie böses Blut machen können!“ Sie nickt zu den Matratzen hin. „Wenn ich mich da einen Moment ausstrecken könnte...“

Es dauert nicht lange, und die Mutter ist auf dem Lager eingeschlafen; Ursula Andreae muss ihre Kinder ermahnen, Rücksicht auf die Großmutter zu nehmen, ruhig zu sein oder auf die Straße zu gehen.

 

„Vater, wissen die anderen, wo ihr jetzt Unterschlupf gefunden habt?“

„Freilich. Ich hab’s sogar draußen an die Wand geschrieben. Und neben die Tür unseres zerbombten Hauses habe ich ebenfalls geschrieben, wo wir jetzt wohnen. Wenn die beiden Jungen aus dem Krieg kommen, dann müssen die doch wissen, wo sie uns zu suchen haben!“

„Ja, Reinhold wird uns zuerst bei euch suchen“, murmelt sie. „Und der Bruno...“

Der Vater sieht sie sonderbar an. „Ja, ja, Bruno und Reinhold. Die Hoffnung hält uns auf den Beinen“, flüstert er. „Mehr ist uns nicht geblieben. Hoffnung! Ob die Jungen...“

„Vater, hast du sie aufgegeben?“

„Die Hoffnung? Nein, ganz und gar nicht. Weder die Hoffnung noch unsere Männer im Feld habe ich aufgegeben“, sagt der Vater und hält eine Hand wie einen Schirm an den Mund. „Aber dass sie alle wohlbehalten heimkehren – daran, Urschel, dürfen wir uns nicht klammern.“

Die Mutter in der Ecke wird unruhig, sie wälzt sich und jammert und ruft nach jemandem, den der Vater und die Tochter nicht kennen.

„So ging das Nacht für Nacht.“ Der Vater hat seinen wunderlichen Hut aufgesetzt und ist zur Tür gegangen. „Wie sollte ich dabei Schlaf finden? Immer klagte oder weinte sie und warf sich herum, und das ließ mich keinen Schlaf finden. Ich denke, dass sie und ich hier zur Ruhe kommen werden. Urschel, ich muss mich in der Gegend umsehen. Bis später.“

Sie sieht ihm nach, wie er, mit seinen Armen rudernd, in seinem absonderlichen Aufzug über die Trümmer stolpert. Der Wolfgang ruft sie und hält etwas in die Höhe: Es sind ein schwerer Hammer und eine Rohrzange.

„Wo hast du das gefunden, Wolfgang?“

Der Junge deutet auf einen Spalt zwischen den Steinbrocken. „Da unten.“

„Das ist genau das, was der Opa braucht! Vater! Warte einmal. Vater!“ Aber der Vater hört sie nicht mehr. Er hat die Straße erreicht und bleibt vor der Ruine des braunen Hauses stehen, und plötzlich ist er nicht mehr da.

„Wolfgang, geh und sieh nach. In dem Loch wird bestimmt noch mehr von dem Werkzeug liegen. Bring alles her“, fordert die Mutter ihn auf. „Der Opa kann das besser gebrauchen als du. Hörst du: Alles, was du da unten findest, bringst du zu mir in unseren Keller!“

Nein, der Junge möchte es behalten, als er aber das Gesicht der Mutter sieht, ihre zusammengekniffenen Augen und die Falten auf der Stirn, streckt er ihr gehorsam hin, was er gefunden hat. „Wolfgang, sei vorsichtig, wenn du in den fremden Keller steigst! Sieh dich um, ob da auch noch andere Sachen herumliegen.“

Sie steht auf den Trümmern und guckt in den hellen Himmel, freut sich an den unbeweglichen gleißenden Wolken im Südwesten. Was mögen die Wolken alles gesehen haben, fragt sie sich, und was decken sie zu? Ihr fällt ein Satz ein, den sie einmal von einer Frau hörte, die vor den Trümmern ihres Hauses stand und über diesen Verlust nicht mehr weinen konnte, weil sie am Tag zuvor ihren Mann verloren hatte: Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte... Sie sagte das so laut, als hielte sie eine Ansprache. Ja, wo sind sie geblieben, die Schuldigen, die Bösen und Ungerechten? Heute gibt es nur noch Ahnungslose und Opfer, selbst die unerbittliche und strenge Parteigängerin aus dem Nebenhaus, die von Untermenschen sprach und davon, dass lebensunwertes Leben wie Unkraut ausgerupft werden muss, die ist zwischen Trümmern und Entbehrungen zum Opfer geworden! Böse und Gute, Gerechte und Ungerechte – es ist schwer geworden, sich dazwischen zurechtzufinden! Und behutsam und so leise, wie es möglich ist, trägt sie Hammer und Rohrzange in ihre Behausung und verwahrt das Werkzeug zwischen den Gerätschaften im Regal.

„Wo ist der Vater?“ Die Mutter sitzt mit dem Rücken gegen die Wand auf den Matratzen. Ursula Andreae ist von der Sonne geblendet, dass sie nichts erkennen kann.

„Er wollte sich ein wenig in der Straße umsehen...“

„Ja, die Untätigkeit drüben war schlimm für ihn. Er kann nicht dasitzen, die Hände in den Schoß legen und in den Tag stieren... Er muss immer etwas zu werkeln haben. Na, dann wird er uns mit irgendeinem Einfall überraschen.“

Wieder und wieder prüft Gottfried Straeten mit leuchtenden Augen das Werkzeug, das der Enkel aus dem Kellerloch geholt und die Tochter vor ihm auf dem wackeligen Tisch ausgebreitet hat. Das sei ein Vermögen und mehr wert als der übliche Plunder, den die Menschen gewöhnlich aus den Trümmern ziehen, sagt er. Werkzeug, wenn es in die richtigen Hände komme – das sei die beste Versicherung fürs Überleben. Einen unbezahlbaren Schatz habe der Junge zusammengetragen! Er solle nur herausholen, was herauszuholen sei, er könne alles gebrauchen! Unermüdlich hat der Wolfgang sich durch den Spalt in den Keller gezwängt, in dem er am Vormittag Hammer und Rohrzange gefunden hat. Sogar einige Konservendosen mit Schrauben und Nägeln hat er zutage gefördert, und darüber hat der Großvater sich ebenso gefreut wie über Hämmer und Zangen, Meißel, Schraubenzieher, den nagelneuen Hobel und die verschiedenen Sägen. Wolfgang, du bist ein gescheiter und brauchbarer Junge, hat der Großvater zu ihm gesagt, und er werde nicht lange warten, um damit für die Großmutter, für Mutter und Geschwister eine ordentliche Wohnung herzurichten. Und dabei brauche er eine tüchtige Hilfe, einen geschickten Mann wie den Wolfgang brauche er. Seitdem hielt sich der Junge in der Nähe des Großvaters auf, aber als nichts geschah, ist er enttäuscht spielen gegangen.

„Was du dem Jungen erzählst! Wo willst du eine Wohnung herrichten?“ fragte die Großmutter. Und als der Großvater erzählte, was er gefunden habe und wo diese Wohnung liege, und dass sie sie gleich heute beziehen sollten, da seufzte sie und winkte ab. In diese Gegend lasse sie sich nicht mit zehn Pferden hinziehen, rief sie.

„Heutzutage können wir uns weder eine geeignete Wohnung noch die passende Gegend dazu aussuchen! Ich sage dir: Das, was ich gefunden habe, das ist eine günstige Gelegenheit, und wir müssen sie beim Schopfe packen!“ mault Gottfried Straeten, ohne sie anzusehen, auf die geschundene Tischplatte hinunter. „Gleich morgen früh geht’s los, sehr zeitig, bevor ein anderer sich in das Nest setzt. Willst du wie eine Ratte monateoder jahrelang in einem solchen Loch wie diesem hausen? Morgen ziehen wir hinüber! Für sechs Personen ist es hier zu eng. Heute darfst du noch auf diesem Matratzenlager schlafen, aber morgen packen wir alles zusammen und gehen!“

„Beim braunen Haus! Früher, ja, da habe ich immer einen großen Bogen um dieses Haus gemacht“, erklärt die Großmutter der Tochter. „Und jetzt will der Vater gleich dahinter seine Zelte aufschlagen...“

„Dahinter ist nicht darin!“ empört sich der Großvater. „Du musst heutzutage froh sein, Mutter, wenn du überhaupt ein Dach über dem Kopf hast! Es ist auch nur vorübergehend, ein Provisorium, aber ein besseres als das, aus dem wir kommen, auch ein besseres als das, in dem wir hier leben. Du musst ja nicht bis in alle Ewigkeit hinter dem braunen Haus wohnen bleiben! Das Haus an sich ist nicht schrecklich, und die, die dieses Haus zum Schrecken gemacht haben, die sind verschwunden und über alle Berge...“

Die Großmutter seufzt, ja, es stimmt, was der Großvater sagt, aber sie weiß nicht so recht. Sie hat sich geschworen, niemals in den Schatten dieses Hauses zu kommen, geschweige denn, es zu betreten. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, dann musste sie an der Parteizentrale vorbei, und immer stand einer von den aufgeblasenen Kerlen in seiner braunen Kluft, in Stiefeln und geschweiften Hosen, das Sturmband unterm Kinn, auf der Straße und versuchte, die Leute vom Kirchgang abzuhalten. Manches Mal kam sie nach Hause und sagte: „Heute habe ich wieder eine Sünde auf mich geladen: Ich habe darum gebetet, dass nicht immer unsere Häuser, die überhaupt nicht überflüssig sind, getroffen werden, sondern dass endlich einmal der braune Kasten von einer Bombe in die Luft gejagt wird! Es würgt in meinem Hals, wenn ich schon von Weitem diese braunen Kettenhunde sehe! Um nicht immer an ihnen und diesem scheußlichen Schuppen vorbeizumüssen, könnte ich unser geliebtes Viertel verlassen!“