Die Sprache des Traumes

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From the series: gelben Reihe #1
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Auf die weitere Bedeutung dieses Traumes und auf die Beziehungen von Angst und Wunsch will ich an dieser Stelle nicht mehr eingehen. Ich habe nur den Versuch gemacht, die Grundlinien der Traumsymbolik mit einigen Strichen zu zeichnen. Das Verständnis der Symbolik ist die Grundlage der Traumdeutung. Wir haben auch vor Freud eine Ahnung gehabt, welche Bedeutung die Symbolik im Leben des Menschen spielt. So hat Schubert und Kleinpaul auf die symbolische Auffassung des ganzen Lebens hingewiesen. Diese Forscher haben auch ungescheut auf die sexuelle Symbolik aufmerksam gemacht. Ist es nicht sonderbar, dass unsere Sprache die Worte nach dem Geschlechte unterscheidet? Erst wenn wir uns mit Traumanalysen beschäftigen, bemerken wir, wie unglaublich tief uns das symbolische Denken und besonders das sexualsymbolische Denken innewohnt. Im Traume kann alles Lange einen Penis und alles Runde eine Vagina repräsentieren. Aber nur im Traume? Man höre einmal, was Kleinpaul in dem Werke „Das Leben der Sprache“ (II. Band in dem Kapitel „Die Psychopathia sexualis des Volkes“, S. 490, 1. c.) ausführt. Er weist darauf hin, wie die ganze Sprache symbolisiert und sexualisiert ist. Die Sprache wimmle von sexuellen Symbolen. „Ja, die Menschheit“, sagt er, „ist liebestoll. Man kann nicht umhin, ihre ewige, auf das Geschlechtliche gerichtete Phantasie halb krankhaft, halb lächerlich, am Ende langweilig zu finden. Sie hat geradezu den Verstand verloren. Das Männliche, das Weibliche will ihr gar nicht mehr aus dem Sinn, sie kann keinen Stiel und kein Loch sehen, ohne daran zu denken — und wenn es ein Turm ist, darin die Gefangenen schmachten, so nennt sie ihn il maschio di Volterra.“ „Nicht deshalb, weil man ein Mädchen darin sieht, heißt der Augapfel: das Mädchen des Auges. Sondern die Iris ist selbst ein Mädchen. Weil sie in der Mitte ein Loch hat — dazu braucht es keine Anatomie, das Schwarze im Auge erschien eben als ein Loch im Auge. Loch, Τϱὺπα, Trou ist in allen Sprachen ein Name für das Weib, das schon in der Genesis (I, 27) die Gelochte heißt, und weil das Auge klein ist, betrachtete man das Auge als ein junges Mädchen.“



„Besonders nehmen die Gedanken diese erotische Richtung dann, wenn eine Hervorragung in die Höhlung passt, wie der Fuß in den Schuh oder wie das Messer in die Scheide, wenn beide Dinger für einander gemacht sind und ineinander stecken. Dann stellen sie das große Glück aller Geschlechtswesen, die geschlechtliche Vereinigung und das dar, was sie am Ganges Lingam nennen.“ „Qual Buco, tal Cavicchio“, sagen die Italiener sprichwörtlich, wie Fischart einmal bemerkt: Es war eben ein Zapff für diese Flasch, denn faul Eyer und stinkend Butter gehören zusammen, oder wie sich das Volk bei uns ausdrückt: Auf jedes Töpfchen gehört sein Deckelchen. Es ist eben recht dahinterher, und unzählige technische Ausdrücke lassen sich nur durch seine unablässige Adam- und Eva-riecherei erklären. So die vielen Mütter, Nonnen und Matrizen in den Gewerben.“



„Mutter, Nonne, Weib auch Schnecke; auf der anderen Seite Vater, Mönch und Mann stehen hier nur für den wesentlichen Teil. Das lässt tief blicken: Mönch und Nonne. Oft ist es so, dass die männliche Hälfte noch einen vernünftigen Namen führt, wie Stempel oder Spindel, und nur die bessere weibliche poetisch verklärt wird. Ein eheliches Verhältnis scheint für die Schraube zu bestehen (Spindel und Mutter).“



Wahrlich, Kleinpaul hat recht: die Sprache wimmelt von sexuellen Symbolen. Wir müssen eigentlich nur den Geist der Sprache erfassen, und wir können manche Träume deuten. Ein junger Bursche von 16 Jahren, dessen Vater ein berühmter Künstler und ein liebenswürdiger, von allen Frauen vergötterter Don Juan ist, erzählt mir einen Traum:



(10.) „Der Vater entdeckt in den Zimmern verschiedene Löcher. Ich ärgere mich, dass er sie alle allein verstopfen will.“



Als ich ihn frage, warum er sich geärgert habe, sagt er: Weil er sich der Mühe unterzieht. Ich konnte ihm ja helfen. Das ist keine passende Arbeit für einen so großen Künstler.“ Er rationalisiert — nach dem treffenden Ausdrucke von Jones seinen Traum. Aber wir fassen den Traum lieber wörtlich auf. Der junge Mann ist ein Alexander, der sich ärgert, weil Philipp ihm nichts zu erobern übrig lässt. Alle Frauenzimmer im Hause verehren den Vater: die Mutter, die Tante, die Französin, die Sekretärin. Er verdächtigt den Vater grob sexueller Beziehungen. Vielleicht nicht mit Unrecht. Die Löcher in der Mauer sind im Sinne Kleinpauls aufzufassen.



Wir haben mit der allgemeinen harmlosen Symbolik begonnen — man denke an die Garben im Felde (Vielleicht lässt auch der Traum Josefs noch eine zweite, erotische Bedeutung zu. Größenwahn und der Wunsch einer außerordentlichen Potenz, eines außerordentlichen Phallus gehen oft Hand in Hand. Paranoiker mit Größenwahnideen pflegen sich zu rühmen, sie hätten 1.000 Frauen, 1.000 Söhne und dergleichen Renommistereien mehr.) — und sind schon mitten in der tiefsten Erotik drinnen. Das ist schon das Schicksal der Traumdeutung. Wer sie betreiben will, muss sich auf ärgere Dinge gefasst machen.



Ich möchte hier noch einen Vorgänger Freuds anführen, den bekannten Traumforscher Scherner („Das Leben des Traumes“, Berlin, Heinrich Schindler, 1861.), der sich in die Hypothese verrannt hatte, alle Träume auf Leibreize zurückzuführen. Diese Hypothese hat sich als ganz unhaltbar erwiesen. Trotzdem drängte sich diesem Forscher die Sexualsymbolik in vollkommen richtiger Form auf. Manches mag lächerlich erscheinen. Aber Tatsachen verlieren dadurch, dass sie lächerlich erscheinen, nichts von ihrem Werte. Scherner bemerkt zum Thema der Sexualsymbolik: „Die Geschlechtsregung symbolisiert sich in Form von Nachbildungen des erregten Organs selbst oder in Bildern und Phantasieaktionen, welche das erregte Verlangen nach Geschlechtsbefriedigung ausdrücken. Auch hier herrscht aber das verhüllte Schaffen, welches die malerische Kraft der Phantasie aufrechterhält. Z. B. man findet auf der Straße des Ortes, wo man gerade geht, den oberen Teil einer Klarinette, daneben den gleichen Teil einer Tabakspfeife, daneben wieder einen Pelz (die oberen Teile von Klarinette und Tabakspfeife stellen unverkennbar die annähernde Form der vordringenden männlichen Gliedmasse dar, die röhrenartige Beschaffenheit des Gefundenen die durchgehende Röhre des Geschlechtorganes; die gefundenen Gegenstände sind aber doppelt gesetzt aus Anregung des paarigen Gesichtssinnes, welcher beim Erblicken des Gefundenen wesentlich interessiert ist. Endlich steht der wolligste Pelz für das Schamhaar, so wie die Bürste für die Augenbrauen und Wimpern sich vorfindet, anstatt des sonst üblichen symbolischeren Geästs; alle drei Bilder nebeneinander gefunden, bedeuten die Zusammenverbindung des dadurch Ausgedrückten). Oder man findet in Verbindung mit Harnreizen eine ganz kurios zusammengeschrumpfte kurze Tabaks- oder Zigarrenpfeife, womit sich der Gesamtriss der männlichen Organik versinnbildlicht. Schärfer ausgeprägt aber erscheint die Symbolik bei angespanntem Zustande der Sexualität, welcher gemeiniglich dem Harnreize folgt, und es steht der schärfere symbolische Ausdruck dem schärferen Reize kongruent. Z. B, man sieht durch das Geäst von Bäumen hindurch, unter welchen man steht, nach einem hochragenden Turm der Gegend, an dem (aus der Wirklichkeit bekannten) Turme gewahrt man zur Verwunderung, dass seine oberste Spitze eine abgestumpfte Gestalt angenommen habe und indes man die runde Kuppel darunter betrachtet, meint man, ein zweiter Knopf (der niemals in Wirklichkeit war) müsse herunter gefallen sein; während dieses aufmerksamen Hinsehens aber sieht man sich unter Frauen, oder solche an sich vorübergehen. Der hochragende Turm steht für die Gespanntheit des aktiven Organs, die Turmspitze erscheint abgestumpft der oberen Struktur des Organes gemäß; die Phantasie sucht mit Gewalt zwei Kuppeln, wo nur eine vorhanden ist, um die Paarigkeit des unteren Organes auszudrücken; sie lässt den Träumer unter dem Geäst hervor auf den ragenden Turm blicken, weil das aktive Organ aus dem umgebenden Schamhaar (Geäst) hervortretend gesetzt ist. Turm, Spitze, doppelte Kuppel, Baumgeäst aber drücken allzusammen nur einen zusammengehörigen Begriff aus, weil die Phantasie durch die Aktion des Sehens, welche aus dem Geäst hervor nach dem Ziele des Blickes verläuft, alle Bilder in eins verschmilzt.“ (Das Leben des Traumes, S. 197 l. c.)



Nun hören wir einmal einen Traum eines sitzengebliebenen 30 jährigen Mädchens an:



(11.) „Papa geht im Zimmer herum und schneidet allen Figuren die Spitzen der Blätter ab. Ich ärgere mich darüber und will es verhindern. Ich denke: Ist er denn verrückt geworden?“



Das Mädchen erzählt uns, ihr Papa wäre immer schrecklich eifersüchtig gewesen. Er hatte es nicht einmal geduldet, dass sie fremden Männern die Hand reiche. Es kamen nie junge Leute ins Haus. Sie durfte keinen Ball besuchen.



So kam es, dass sie sitzen blieb. Wir können auch diesen Traum grob sinnlich nehmen. Der Vater hat alle Spitzen entfernt und sie vor der Gelegenheit bewahrt, einen Phallus kennen zu lernen. Im Traume findet sie die Kraft, ihn deshalb zur Rede zu stellen, was sie im Leben leider nicht getan hat. Sie war der Typus einer gehorsamen Tochter. Sie denkt an eine Figur, die vorne ein Feigenblatt hat. Wir merken den Umweg, den die Traumgedanken machen. Wozu die Verhüllung? Wozu das Feigenblatt, wenn es der Spitzen beraubt erscheint? Sie merkt, wie sinnlos das Benehmen des Vaters gewesen. Sie erkennt das Krankhafte (Verrückte) seines Benehmens.



So haben wir an zwei Träumen gesehen, wie das „Loch" und die „Spitze“ aufgefasst werden. Die Sprache des Traumes benutzt die geheimen Kräfte, aus denen die Sprache des Tages geschaffen wurde.



Diese Symbolik gilt nicht nur für die Träume! Sie zieht sich durch die Märchen, Mythen, durch die Folklore und durch die Witze.

 



Am schönsten lässt sich die Symbolik am Märchen nachweisen. Traum und Märchen! Welche wunderbare Zusammenstellung! Was die Kinder erleben, das träumen die Alten. Neue Erkenntnisse tun sich auf. Wir kehren die alten Wahrheiten um und sagen: Umgekehrt ist's richtig: Was die Alten erleben, das träumen die Kinder. Das ist kein leeres Spielen mit Worten.



Freud hat uns einen Schlüssel zur Deutung der Träume gegeben. Mit diesem Schlüssel versucht Dr. Franz Riklin in den Zaubergarten des Märchens einzudringen. Und siehe da! Der Versuch gelingt. Es erweist sich, dass die Märchen der Kinder eine innige Beziehung zu den Träumen der Großen haben, dass sie durchsetzt sind von einer geheimen sexualen Symbolik die an Eindeutigkeit meistens gar nicht zu wünschen übrig lässt. Die „Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen“ von Riklin beweist: Das Märchen hat eine geheime sexuelle Bedeutung! Auch das Märchen bildet gleich dem Traum eine „Wunscherfüllung“ im Sinne Freuds.



Die einfachen Märchen stellen gewissermaßen die einfachen Wünsche des Volkes dar, Riklin führt eine Reihe sehr bezeichnender Beispiele vor. Wer kennt nicht das reizende Märlein vom „Tränenkrüglein“ aus Bechsteins Märchenbuch? Eine Mutter weint drei Tage und Nächte um ihr innigst geliebtes Kind. Da tut sich des Nachts leise die Tür auf und das tote Kind im Hemdlein erscheint mit dem Tränenkrüglein, in dem die Tränen der Mutter gesammelt sind. Noch einige Tränen und das Krüglein ist übervoll, und das Kind kommt um seine Ruhe und Seligkeit. „Drum weine nicht mehr, denn dein Kind ist wohl aufgehoben und Engelein sind seine Gespielen“, Das Kind verschwindet. Die Mutter hütet sich vor weiteren Tränen. Das Kind soll ja nicht um den Himmelsfrieden kommen. Riklin sagt mit Recht, das Märchen könnte ebenso gut die Erzählung eines wirklich von einer einzelnen Person erlebten Traumes sein. Nun ist es nicht ein einzelnes Erlebnis, sondern dies Heilmittel ist zum allgemeinen, psychisch zweckmäßigen Glauben geworden, dass die Toten durch übermäßige Trauer in ihrer Ruhe gestört werden. Das ist nicht für die Toten ein Heilmittel, sondern für die Überlebenden. Das Motiv zeigt sich in unzähligen Variationen. In einer japanischen Erzählung von der „Nonne des Tempels von Armida“; in anderer Fassung bei Grimm als „Totenhemdchen“; in den von Rittershaus herausgegebenen „Neuisländischen Volksmärchen". Immer ist der Wunsch der Erwachsenen, ihren Kummer rasch los zu werden, das geheime Motiv des Märchendichters gewesen.



Noch tiefer als die „Wunscherfüllung“ führt uns die sexuale Symbolik in das Wesen des Märchens. Hier lernen wir vorerst, dass die Alten dem Kinde das erzählen, was sie selber gern hören. Freilich in symbolischer, das heißt in versteckter Form.



Wir unterschätzen die Bedeutung symbolischer Handlungen und symbolischer Darstellung für das gewöhnliche Leben. In Wirklichkeit können wir ohne Symbole gar nicht existieren. Riklin sagt: „Ist nicht fast jedes Wort ein Symbol? Die Schriftzeichen sind Symbole, die Worte sind Symbole, unsere Mimik, unsere Gesten sind zum großen Teile symbolisch. Eine geographische Karte ist ein Symbol. Bemerkenswert sind die sinnfälligen Symbole für Abstrakta: das Auge Gottes, die Waage, das Kreuz; die Farbensymbole: schwarz, rot; die Uniformsymbolik usw." Welche ungeheure Macht hat erst die sexuale Symbolik! Sie durchsetzt unser ganzes Leben. Es gibt keinen Gegenstand, der nicht unter Umständen ein sexuelles Symbol darstellen kann. Eine besondere Betonung, eine bezeichnende Geste, ein gewisser Augenaufschlag können aus einer harmlosen Rede eine zweideutige machen. Man denke nur an die ordinäre Symbolik des „Telephonliedes", das eine Soubrette jahrelang unter tosendem Beifall vorgetragen hatte.



Mit dem Schlüssel der sexuellen Symbolik entschleiern sich uns die verschiedenen Mythen der Völker. Auch die religiösen Überlieferungen. Ein schönes Beispiel bietet die Schlange, die in vielen Märchen eine große Rolle spielt. Sie war es schon, die Eva im Paradiese verführte, Sie erscheint jungen Mädchen („Oda und die Schlange“, Bechstein), und wenn diese den Ekel überwinden und die kalte Schlange ins Bett nehmen..., nun da verwandelt sich die schreckliche Schlange in einen jungen Prinzen, der auf diese Weise entzaubert ist. Die schlüpfrige, kalte, hässliche Schlange ist ein sexuelles Symbol, gleich der hässlichen Kröte, die zur Königstochter ins Bett steigt. (Der Froschkönig“ und „Der arme Heinrich" bei Grimm.) Auch hier bringt der überwundene Ekel einen strahlenden Märchenprinzen. Weitere Beispiele müssen in Riklins Büchlein nachgelesen werden.



Was die Märchen für den einzelnen bedeuten, das stellt der Mythus für die sozialen Verbände dar. Der Mythus ist ein Völkertraum und enthält in einer geheimen symbolischen Sprache unbewusste Wunschregungen und Wunscherfüllungen des Volkes. Auch er enthält eine mehr oder weniger versteckte manchmal sogar offen durchbrechende Sexualsymbolik, die eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Traum zeigt, worauf Abraham in seiner interessanten völkerpsychologischen Studie: „Traum und Mythus“ (Wien und Leipzig, 1909) mit überzeugender Darstellungskunst hingewiesen hat.



Das Studium dieser Mythen war von jeher von den Völkerpsychologen eifrig gepflegt worden, da sie berechtigterweise hoffen konnten, vom Mythus aus einen Eingang in das Seelenleben der verschiedenen Völker zu finden. Denn so wie Träume des Menschen sein geheimes Gedankenleben verraten, müssen auch die Mythen uns in unwiderleglicher Weise die Ideale und Wünsche der Völker vor Augen führen. Es zeigte sich ja, dass eine Reihe von Mythen, die bei den verschiedensten Völkern zu verschiedenen Zeiten aufgetreten waren, eine auffallende Ähnlichkeit miteinander aufwiesen, so dass sich einigen Forschern unwillkürlich die Tatsache aufdrängte, die Mythenbildung beruhe auf einem für alle Menschen fast identischen Seelenvorgang. Dagegen glauben andere Mythologen, die Gleichheit der Mythen entstehe durch Überlieferung, Entlehnung oder Wanderung desselben Mythus. Was uns bisher jedoch bei der Mythenforschung fehlte, das war der Zusammenhang der Mythenbildung mit dem Seelenleben des Individuums. Sollte es einmal gelingen, die Brücke von den Traumen des Menschen zu den Träumen der Menschheit zu schlagen, so wäre damit ein bedeutender Schritt nach vorwärts in der Erforschung dieses dunklen Gebietes gemacht.



Man kann es mit Freuden begrüßen dass, diese Verbindung des Sozialen mit dem Individuellen Otto Rank, dem wir schon die feine Studie: „Der Künstler“ (Wien und Leipzig, 1907) verdanken, für ein beschränktes Gebiet der Mythen, nämlich für den „Mythus von der Geburt des Helden“ vollkommen gelungen ist. An einer Reihe von Geburtsmythen weist Rank das Typische, Übereinstimmende dieser Völkerphantasien mit den Phantasien des Individuums in überzeugender Weise nach.



Wir werden bei der Besprechung der Geburtsträume auf die Arbeit Ranks noch zurückkommen. Wir wollten hier nur bei Besprechung der Symbolik diesen Zusammenbang wenigstens streifen; denn Träume und Mythen, Märchen und Sagen, sie sind die gleichen psychischen Gebilde. Man kann einwenden, die Heldensagen seien von Dichtem erfunden, die Märchen habe der dichtende Genius des Volkes geschaffen. Auf diesen Einwand kann ich mit einem treffenden Worte Hebbels antworten: In den Dichtern träumt die Menschheit.



Eine schier unerschöpfliche Fundgrube für die Symbolik bieten die vom bekannten Folkloristen Dr. F. S. Krauss herausgegebene „Anthropophyteia" betitelten Sammelwerke. (Leipzig. Deutsche Verlagsaktiengesellschaft.) Das ungeheure, daselbst aufgestapelte Material bedarf noch der zusammenfassenden Bearbeitung im Dienste der Traumsymbolik. Ich will an einzelnen Stellen auf die Zusammenhänge zwischen der Sprache des Volkes und der des Traumes hinweisen. Auch die Witze bringen uns Kunde aus der Werkstatt des Unbewussten (Vergl: Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten F. Deuticke 1905).



Ich habe hier nur einige bescheidene Proben gegeben, die uns die Bedeutung der sexuellen Symbolik darlegen sollen. Wir können keine Traumanalyse schreiben, ohne die Erotik zu berücksichtigen. Es gibt eigentlich keinen anerotischen Traum.



So gewaltig ist die Macht des Geschlechtstriebes, dass er uns vielleicht keine Sekunde unseres Lebens aus seinem Bann lässt. Wir werden später an den plötzlichen Träumen, an den hypnagogen Bildern (Träumen vor dem Einschlafen) sehen, wie das Sexuelle eigentlich beständig auf den Moment lauert, sich des Menschen zu bemächtigen.



Die Symbolik des Traumes ist hauptsächlich eine sexuelle. Wenn in den folgenden Zeilen das Erotische die Hauptrolle spielen wird, so ist es nicht meine Schuld. Ich kann nichts anderes tun, als das Material, das ich habe, auszubreiten. Ich habe bis heute noch keinen Traum gefunden, der keine sexuelle Beziehung aufweist. Noch einen Faktor gibt es, der eine bedeutende Rolle im Traumleben spielt: Das Kriminelle. Der geheime Verbrecher in uns tobt sich im Traume ans. Doch das Kriminelle steht fast immer im Dienste des Sexuellen. Vielleicht ist jeder Verbrecher ein Sexualverbrecher — vielleicht. — Ich hoffe in den folgenden Kapiteln den Beweis zu erbringen, dass wir das Erotische nicht in den Traum hineinlegen. Wir unterstreichen es nicht einmal. Es ist einfach da. Wer offene Augen hat, der muss es sehen, dass die Symbolik in unserem Geistesleben die wichtigste Rolle spielt.



Warum gebrauchen die Menschen so selbstverständlich die Symbolik in den Witzen und haben ein so feines Verständnis für die symbolischen Anspielungen des Flirts? Mit Recht macht Hitschmann (Dr. Eduard Hitschmann, Freud‘s Neurosenlehre. Leipzig und Wien, Franz Deuticke 1911) aufmerksam, „dass dieselben Menschen in der zynischen Stimmung der Kneipe, des Kabaretts und bei der Lektüre des Witzblattes plötzlich ausreichend über das Verständnis für die Sexualsymbolik verfügen!"



Was für einen Sinn hätte es, sich vor den Tatsachen des Lebens zu verschließen, weil sie uns nicht passen? Dieses Buch ist eine Darstellung von Tatsachen. Wer es mit Phantasterei und Gedankenarbeit abtun wollte, täte mir und der Traumdeutung Unrecht...



Doch wiederholen wir die gewonnenen Erkenntnisse. Sie lauten: Der Traum ist eine Wunscherfüllung und ist deutbar. Der Traum spricht eine symbolische Sprache und ist erst in die Sprache des Alltags rückzuübersetzen. Der Inhalt der Träume ist fast immer ein sexueller.



Mit diesen Kenntnissen ausgerüstet wollen wir an die Analyse eines großen Traumes gehen.



* * *





Der Traum vom Telephon





(Analyse eines einfachen Traumes.)



Hebbel macht in seinen Tagebüchern die Bemerkung: „Wenn sich ein Mensch entschließen könnte, alle seine Träume ohne Unterschied, ohne Rücksicht, mit Treue und Umständlichkeit und unter Hinzufügung eines Kommentars, der dasjenige umfasste, was er etwa selbst nach Erinnerungen aus seinem Leben oder seiner Lektüre an den Träumen erklären könnte, niederzuschreiben, so wurde er der Menschheit ein großes Geschenk machen. Doch so, wie die Menschheit jetzt ist, wird das wohl keiner tun; im Stillen und aus eigener Beherzigung es zu versuchen, wäre auch schon etwas wert.“



Ich habe solche Tagebücher gesehen. Sie nützen uns nicht viel, weil wir die geheime Symbolik des Träumers nicht kennen.



Der große Fortschritt der Freudschen Traumdeutung besteht eben in dem Umstand, dass sie ein neues Hilfsmittel zur Deutung der Träume eingeführt hat; den Einfall des Träumers. Auf dem Wege der Assoziationen fällt dem Träumer das traumbildende Material ein. Doch der Einfall versagt manchmal. Dem Träumer fällt wiederholt aus Gründen innerer Widerstände gar nichts ein. Über diesen toten Punkt hilft uns die Kenntnis der Traumsprache und der Symbolismen hinweg. Je einfacher das Geistesleben eines Menschen ist, desto einfacher sind seine Träume. Es gibt eine große Zahl von Träumen, für die die Forderungen Hebbels passen. Kennt man das Leben der Träumer, so versteht man, was sie ausdrücken wollen. Es gibt auch Traume, die ihren Inhalt verraten, ohne dass man etwas aus der Lebensgeschichte des Träumers erfahren hat.



Hier zweigen meine Forschungen von Freud ab. Freud legt das größte Gewicht auf das Material, das hinter der manifesten Traumfassade aufgestapelt ist. Ich habe mich bemüht nachzuweisen, dass der manifeste Trauminhalt uns schon das Wichtigste vom Inhalt, von den latenten Traumgedanken verrät. Auf diesem Wege bin ich zu überraschenden Resultaten gekommen. Ich habe Zusammenhänge gefunden (z. B. die Symbolik des Todes), die ich nie und nimmer von den Einfällen des Träumers erfahren hätte. Ich habe die Traumdeutung unabhängiger vom Willen des Analysierten gemacht. Das geht nicht bei allen Träumen. Denn wie schon gesagt: Die Träume sind verschieden aufgebaut. Einfache Menschen haben andere Träume als komplizierte Naturen. Der Traum besteht aus einzelnen Traumstücken, die sich zu einem Ganzen — eben zum Traumbild zusammensetzen. Die Analyse eines Traumes muss von der Analyse der einzelnen Traumelemente ausgehen.

 



Doch wie ist das Traumelement zu deuten? Welchen Sinn bat es? Welchen Zusammenbang zur Wunscherfüllung?



„Es ist im Allgemeinen“, sagt Freud, „bei der Deutung eines jeden Traumelementes zweifelhaft, ob es:



a) im positiven oder negativen Sinne genommen werden soll (Gegensatzrelation);



b) historisch zu deuten ist (als Reminiszenz);



c) symbolisch, oder ob



d) seine Verwertung vom Wortlaute ausgehen soll. Trotz dieser Vieldeutigkeit darf man sagen, dass die Darstellung der Traumarbeit, die ja nicht beabsichtigt, verstanden zu werden, dem Übersetzer keine größeren Schwierigkeiten zumutet als etwa die alten Hieroglyphenschreiber ihren Lesern.“ (Traumdeutung S. 245.)



Die Träume sind eben verschieden. Manche sind dunkel und verworren und bedürfen mühsamer langwieriger Arbeit. Der Traum muss mit Hilfe aller Finessen in seine Elemente aufgelöst werden. Wir wollen als leichtes Schulbeispiel einen Phantasietraum analysieren, der sich eigentlich auf eine einzige Symbolisierung zurückführen lässt.



Es gibt nämlich auch solche Träume, die man mit einem einzigen Schlüssel auflösen kann. Wenn beispielsweise



(12.) eine Frau in die Fleischbank geht, um Einkäufe zu machen, die Fleischbank offen findet, ein großes hartes Stück Fleisch in Form einer Wurst wählt, es in die Tasche steckt, in die es kaum hineingeht, weil es in der Wärme der Tasche aufgeht, so wird jedes Detail des Traumes verständlich, wenn man weiß, dass es sich um fleischliche Gelüste und um Einkäufe auf dem Liebesmarkt handelt. Einen solchen Traum, bei dem das „Telephon“ eine erotische Bedeutung hat, will ich hier mitteilen. Er ist sehr lang und anschaulich, enthält eine Unsumme Details, die natürlich für die Analyse ebenfalls von Bedeutung sind und über die ich vorläufig hinwegsehen will. Bemerkenswert ist dieser Traum noch aus dem Grunde, weil er mit einer poetischen Produktion abschließt. Gedichte im Traume sind keineswegs sehr selten. Einzelne Verse kommen in Träumen vor und sind mitunter sehr gelungen. Ich will hier der Versuchung widerstehen, auf das interessante Kapitel von der Produktion im Traume einzugehen. Dichtung und Traum sind beide Produkte des wussten (Vergleiche meine Studie „Dichtung und Neurose“, Grenzfragen des Nerven und Seelenlebens. J. F. Bergmann 1909.) und zeigen natürlich eine innige Verwandtschaft.



Der lustige Traum der Frau „Alpha“ der mit einer Ballade abschließt, lautet also (Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, dass ich alle Traume in dem Wortlaute bringe, wie die Träumer sie mir niedergeschrieben haben. Die unscheinbarste Redewendung, ein Verschreiben, die Wahl der Interpunktionen — dass alles kann bei der Analyse eine große Bedeutung haben.):



(13.) „Ich mache bei meiner Schwester einen Besuch und treffe bloß meinen Schwager zu Hause. Es klingelt am Telephon. Erstaunt frage ich, seit wann ein solches in der Wohnung eingeführt wäre. Mein Schwager wirft mir einen geringschätzenden Seitenblick zu und sagt, ob ich denn keine Zeitung lese. Ich antworte, dass ich dies wahrscheinlich nicht mit gebührender Aufmerksamkeit besorge, und erkundige mich um den diesbezüglichen telephonischen Zusammenhang. Der Schwager erklärt mir, es sei jetzt eine Reform im ganzen Telephonwesen und dadurch, dass man die dummen, unverlässlichen Telephondamen durch Herren ersetzt hat, die den gebildetsten Ständen angehören, sich freiwillig angeboten haben und abwechselnd stundenweise den Dienst versehen, gibt es keinen Anlass zu Ärger und Beschwerde mehr. Es existiert bereits keine anständige Familie in ganz Wien, die nicht ihr eigenes Telephon hat, und die Gebühr ist dadurch, dass die Zahl der Teilnehmer ins Ungeheure gestiegen ist, bedeutend verbilligt. Mir leuchtet sofort die Notwendigkeit dieses Sprachrohres ein und mit Begeisterung entschließe ich mich auch zu dieser Anschaffung. „Ein Schuft, wer kein Telephon hat“, beteuere ich voll Eifer und frage nach der Gebühr. „Bloß 100 Kronen pro Jahr“, meint der Schwager. „Lächerlich, diese Kleinigkeit“, sage ich, nobel, wie ich schon bin, und zaubere sofort aus meiner an Leere gewohnten Tasche die genannte Banknote hervor. Mit Ungeduld dränge ich, dass nur rasch meine Teilnehmerschaft eingeleitet wird. Mein Schwager nimmt mir das Geld ab und ich höre ihn telephonisch unterhandeln. Da erscheint ein Herr, bartlos, schwarz, klein,