Die Chronik der Sperlingsgasse

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Die Chronik der Sperlingsgasse
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Impressum

ISBN 978-3-86408-083-8 (epub) // 978-3-86408-084-5 (pdf)

Digitalisat basiert auf der Ausgabe von 1938 aus der Bibliothek des Vergangenheitsverlags; bibliografische Angaben:

Raabe, Wilhelm, Die Chronik der Sperlingsgasse, Berlin 1938.

Digitalisierung: Vergangenheitsverlag. Herausgeberinnen und Bearbeitung: Imke Högden, Ann-Katrin Leefers, Marie Schubert, Finia Maria Schultz

Die Marke „100% - vollständig, kommentiert, relevant” steht für den hohen Anspruch, mehrfach kontrollierte Digitalisate klassischer Literatur anzubieten, die – anders als auf den Gegenleseportalen unterschiedlicher Digitalisierungsprojekte – exakt der Vorlage entsprechen. Antrieb für unser Digitalisierungsprojekt war die Erfahrung, dass die im Internet verfügbaren Klassiker meist unvollständig und sehr fehlerhaft sind.

Coverabbildung: zweifarbiger Lichtdruck des Bildhauers Prof. Ernst Müller aus dem Jahr 1909; Stadtarchiv Braunschweig, Signatur H XVI: G II 2 Raabe F.2

© Vergangenheitsverlag, 2012 – www.vergangenheitsverlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Wer ist Wilhelm Raabe?

Raabe und seine Zeit

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse

PRO DOMO

Am 15. November

Am 20. November

Am 30. November

Am 2. Dezember

Am Nachmittag

Am 3. Dezember

Am 5. Dezember

Am 10. Dezember

Am 24. Dezember

Am 1. Januar

Am 5. Januar

Am 10. Januar

Am 11. Januar

Am 12. Januar

Am 25. Januar

Am 10. Februar

Abends 11 Uhr

Am 7. März

Am 14. März

Am Abend

Am 21. März. Abend

Am 15. April

Am 1. Mai. Abend

Herausgeber

Quellen

Wer ist Wilhelm Raabe?1

Am 15. November 1854 nimmt das Leben des gerade einmal dreiundzwanzigjährigen Wilhelm Raabe eine bedeutungsvolle Wendung: Er beginnt in Berlin die Arbeit an seinem Erstlingswerk, der „Chronik der Sperlingsgasse”, das noch unter dem Pseudonym Jakob Corvinus veröffentlicht wird und ist von nun an freier Schriftsteller. Später wird er diesen Tag jedes Jahr als den „Federansetzungstag” zelebrieren. Wie es die Ironie des Schicksals will, stirbt Raabe genau am 56. Jahrestag dieses Ereignisses, nämlich am 15.11.1910, nach längerer Krankheit in Braunschweig. Vor allem die letzten Jahre seines Lebens sind geprägt von zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen um seine Verdienste als Schriftsteller, kurz vor seinem Tode verleiht man ihm sogar die Ehrendoktorwürde der Universität Berlin. Dabei hat Raabe selbst nie studiert: An der Berliner Universität ist er nur als Gasthörer zugelassen, als er im Jahre 1854 von Wolfenbüttel nach Berlin zieht. Er kommt in die Stadt als ein Gescheiterter, der weder die Schule in Wolfenbüttel, noch die Buchhändlerlehre in Magdeburg abgeschlossen hat. Geboren wird er am 8. September 1831 in Eschershausen, seine Kindheit verbringt er in den umliegenden Orten Holzminden und Stadtoldendorf, bevor die Familie nach dem Tod des Vaters nach Wolfenbüttel zieht. Später wird er mit seiner Frau und seinen vier Töchtern unter anderem in Stuttgart und Braunschweig leben – in Berlin aber hält er sich nur für jene zwei Jahre auf, in denen „Die Chronik der Sperlingsgasse” entsteht, das Werk, das ihn von einem Gescheiterten zu einem Gefeierten macht. Jedoch ist Raabes Leben als Schriftsteller nicht immer leicht: Oft ist es von Existenzängsten und finanziellen Nöten geprägt, denn schließlich muss er vom Schreiben seine sechsköpfige Familie ernähren. Hinzu kommen depressive Phasen und später der zunehmende Verlust schriftstellerischer Kreativität. Ab 1902 bricht er das Schreiben endgültig ab und bezeichnet sich als „Schriftsteller a.D.”, doch gleichzeitig steigt der Absatz vor allem seiner frühen Werke und er wird in zahlreichen Zeitungsartikeln gewürdigt; 1907 findet gar die erste akademische Lehrveranstaltung über Wilhelm Raabe statt. Die Wirkung seiner rund 70 Romane und Erzählungen hält bis heute an und besonders „Die Chronik der Sperlingsgasse” findet immer noch große Beachtung. Wilhelm Raabe wird neben Theodor Storm und Theodor Fontane zu den bedeutendsten Schriftstellern des Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezählt.

Raabe und seine Zeit

Mitte des 19. Jahrhunderts, ausgelöst durch den Aufstand der schlesischen Weber, der Hungerkrise und der wirtschaftlichen Krise2, kommt es in Deutschland zu einer Revolution. Zu dieser Zeit ist das Land geprägt durch eine Vielzahl von Einzelstaaten und Fürstentümer, in denen am Beispiel Frankreichs liberale Forderungen erhoben werden, wie der Anspruch auf gleiche Rechte, individuelle Freiheit und eine deutsche Einheit.3 Für ihre Rechte, wie beispielsweise die Aufhebung der Pressezensur,4 eintretend, gehen die Bürger auf die Straßen, wobei es teilweise zu blutigen Auseinandersetzungen kommt. Im Zuge dieser gelingt es der Bürgerschaft in Wien 1848 den Staatskanzler Metternich zu stürzen.5 In Berlin verpflichtet sich, nach ausgearteten Barrikadenkämpfen, denen über 300 Bürger zum Opfer fielen, 6 König Friedrich Wilhelm IV. sich für ein einheitliches Deutschland einzusetzen.7 Unter dem Druck der Revolution kommt es am 18. Mai 1848 zu der ersten gesamtdeutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main.8 Sieben Monate später verabschiedet diese das Gesetz über die Grundrechte, welches allerdings mehrere große Staaten nicht anerkennen. Anfang des Jahres 1849 wird die deutsche Reichsverfassung durch die Frankfurter Nationalversammlung angenommen.9 Im Rahmen dieser wird Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser gewählt, ein Amt, das er jedoch ablehnt, da er „die Kaiserkrone [nicht] aus der Hand der Revolution”10 entgegennehmen möchte. Damit ist das das Scheitern der Nationalversammlung beschlossen.11 Die Zerrissenheit nutzend gelingt es den alten Machthabern mithilfe des Militärs wieder zu Einfluss zu gelangen. Nach der fehlgeschlagenen Revolution werden zwar die errungenen Rechtsänderungen kaum angetastet, allerdings wird das Interesse der Bevölkerung an politischen und gesellschaftlichen Bereichen vorerst erstickt. Das Bürgertum gewinnt gleichzeitig an Einfluss durch die nach Deutschland gelangende Industrialisierung und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Neuerungen. Das Ende der 1850er Jahre ist geprägt von einem großen Wandel sowohl im politischen als auch im sozialen Bereich.

Aus diesen Umwälzungen heraus entsteht ein neues, transnationales Bedürfnis nach Literatur. Der neue realistische Stil zeichnet sich vor allem durch Nüchternheit und Sachlichkeit aus,12 wobei das Faktische wiedergegeben wird. Besonders nach der gescheiterten Revolution wird dieser zum dominierenden Stil. Sowohl Autor als auch Leser wenden ihr Interesse ab von Adel und Hof, hin zu bürgerlichen Figuren und deren, detailgetreu dargestellten, gesellschaftlicher Existenz.13 Dabei wird nicht nur dem Adel der Rücken zugewandt, sondern auch theologischen und revolutionären Themenkomplexen.14 Anstelle der kritischen Vorwürfe der Schriftsteller in der Literatur des Vormärzes, treten nun wieder optimistischere Weltanschauungen und der Wunsch nach bürgerlicher Ästhetik in den Vordergrund.15 Dies schließt allerdings keineswegs eine politische Literatur aus. Ebenso findet ein Wandel auf sprachlicher Ebene statt. Die gehobene Ausdrucksweise wird durch eine leichtverständliche ersetzt. Novellen und Romane bilden sich als bevorzugte Literaturformen des poetischen Realismus heraus, um eine erstarrte Wirklichkeit wiederzugeben.16

 

Auch im Literaturbetrieb findet, hervorgerufen durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, ein Wandel statt. Wirtschaftlich besonders prägend ist der Aufstieg des Kapitalismus, herbeigeführt durch die Industrialisierung. Doch auch im Schul- und Bildungswesen verändert sich Grundlegendes. Der Alphabetisierungsgrad erhöht sich rasant, wodurch ein neues Massenpublikum entsteht.17 Dies geht mit der strengen Befolgung der Schulpflicht einher. Das Gymnasium, welches hauptsächlich Offiziers- und Beamtensöhne besuchen, wird zentraler Ort der Literaturrezeption.18 Somit entwickeln sich die Städte, die durch Urbanisierungsprozesse immer größere Einwohnerzahlen vermerken können, zum zentralen Ort der Literaturverbreitung. Gegenwärtig ist Literatur zudem in Cafés und Salons.19 Durch Neuerungen in der Literaturproduktion wird eine größere und vielfältigere Auswahl geschaffen, welches einen viel umfassenderen Zugriff auf Literatur zum Ergebnis hat. Innovationen im Druckverfahren und neue Rechtslagen, wie etwa ein den Autor begünstigendes neues Urheberrecht, führen nicht nur zu erschwinglicheren Buchpreisen, sondern auch zu einem neu definierten Buchmarkt.20 Darunter fallen Veränderungen im Buchhandel und im Verlagswesen, getrieben durch die Massenproduktion und den vom Kapitalismus verbreiteten Wunsch nach Profitmehrung. Das wachsende Interesse an Literatur in dieser Zeit wird ebenfalls daran deutlich, dass trotz sinkender Buchpreise, die Nutzung von Leihbibliotheken ansteigt.21 Dies weist darauf hin, dass auch die Teile des Bürgertums, denen aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Literatur zuvor verwehrt geblieben ist, aktiv nach Möglichkeiten der Literaturaufnahme suchen. Weitere Anzeichen des vermehrten Wunsches nach Bildung sind das Entstehen eines Zeitungswesens, zu welchem ebenfalls andere Massendrucke, wie Familienzeitschriften, Kalender, Pamphlete und Kolportagen zählen. In diesen Zeitungen werden Kurzgeschichten und Novellen abgedruckt,22 die bald ein solches Interesse bei den Lesern hervorrufen, dass die jeweiligen Novellisten den Zeitungsverlagen ihr Gesicht leihen.23

Raabe ist Hausautor einer solchen Zeitschrift, den „Westermanns Monatsheften”, in denen seine Erzählungen kontinuierlich von 1857 bis 1866 abgedruckt werden.24 Diese werden von der Leserschaft positiv aufgenommen, im Gegensatz zu seinem ersten, heute bekanntesten und erfolgreichsten Werk, Die Chronik der Sperlingsgasse, 1856 verfasst. Diese erntet bei den Lesern anfangs vergleichsweise wenig Popularität, obwohl der Roman von den Kritikern mehrheitlich positiv rezipiert wird. Erst nach knapp 20 Jahren, einhergehend mit einem Verlagswechsel 1876 vom Stage- zum Grote-Verlag, können die Absatzzahlen einen Aufschwung vermerken. Bis zum Tod Raabes werden 70.000 Exemplare der Chronik aufgelegt. Bis heute werden die Absatzzahlen auf mehr als 500.000 verkaufte Einzelexemplare eingestuft, wobei allein innerhalb dreier Monate 1931 Die Chronik der Sperlingsgasse, anlässlich Raabes 100. Geburtstages, 120.000-mal verkauft wird.25 Doch warum der anfänglich ausbleibende Erfolg?

Raabes außergewöhnliche Fähigkeit war es, anhand der überschaubaren Berliner Sperlingsgasse die Probleme und Geschehnisse der damaligen Zeit zu dokumentieren. Kombiniert mit der Wahl einer ungewöhnlichen bildhaften Schreibform, dem ständigen Wechsel zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sowie verschiedenen Ebenen der Rückblende, die es teilweise erschweren dem Roman zu folgen, muss Die Chronik der Sperlingsgasse für den zeitgenössischen Leser recht ungewohnt gewesen sein.26 Jedoch liegt genau darin Raabes innovative Fähigkeit als Schriftsteller. Gleichzeitig ist darin wahrscheinlich ebenfalls die Begründung seiner anfänglichen Erfolglosigkeit zu finden.

Wilhelm Raabe, Die Chronik der Sperlingsgasse
PRO DOMO

Vorrede des Verfassers

Wenn es gewittert, verkriechen sich die Vögel unter dem Busch. Das wäre fast als ein gutes und warnendes Beispiel auch für dieses kleine Buch zu nehmen; es will sich aber nicht warnen lassen, und vielleicht darf es auch nicht.

Als vor zehn Jahren hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen, da regte es zum ersten Male seine Flügel und flatterte unbesorgt aus, wie finster auch der Himmel sein mochte. Mancherlei Wechsel der Zeit erfuhr es, und es wäre kein Wunder, wenn so viele fallende Trümmer es längst mit tausend Genossen unter berghohem Schutt begraben hätten; aber es fand seinen Weg, kam zu vielen Leuten, und sie nahmen es gut auf mit allen seinen Fehlern und Wunderlichkeiten.

Wenn es aber auch nur unter einem Dach eine trübe Stunde verscheucht, eine schwere Stunde sanfter gemacht hätte, wie Herr Hartmann von Aue sagt; wenn es nur ein Lächeln, nur eine Träne hervorgerufen hätte, so wäre sein Wirken und Sein nicht vergeblich gewesen.

Nun hängen wieder die Wolken drohend herab; der Krieg schlägt mit gewappneter Faust dröhnend an die Pforten unseres eigenen Volkes, und es ist niemand, so hoch oder niedrig ihn das Leben gestellt habe, der sagen kann, welch ein Schicksal ihm die nächste Stunde bringen werde. Es steht zu keiner Zeit ein Glück so fest, dass es nicht von einem Windhauch oder dem Hauch eines Kindes umgestürzt werden könnte; wie viel weniger jetzt! In solcher Zeit ständen die Menschen am liebsten mit leeren, müßigen Händen, horchend und wartend; aber das ist nicht das Rechte. Es soll niemand sein Handwerksgerät, die Waffen, mit welchen er das Leben bezwingt, in dumpfer Betäubung fallen lassen. Ein Geschlecht gebe seine Arbeit an das folgende ab, und, gottlob, jener Epochen, in welchen die Menschheit ihre Mühen ganz von neuem aufnehmen musste, weil die Sturmflut alles vorige fortgespült hatte, sind wenige.

Auch in diesem Sinne ist nichts zu hoch und nichts zu gering, und in diesem Sinne finden auch diese Blätter die Berechtigung, ihren Flug durch die stürmische Welt abermals vertrauensvoll zu beginnen. Mögen sie neue Freunde zu den alten gewonnen haben, wenn wieder zehn Jahre ihres flüchtigen Daseins dahingegangen sind!

Stuttgart, im Februar 1864

Der Verfasser

Am 15. November

Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil. Auf der Ferne liegen blutig dunkel die Donnerwolken des Krieges, und über die Nähe haben Krankheit, Hunger und Not ihren unheimlichen Schleier gelegt — es ist eine böse Zeit! Dazu ist’s Herbst, trauriger, melancholischer Herbst, und ein feiner kalter Vorwinterregen rieselt schon wochenlang herab auf die große Stadt — es ist eine böse Zeit! Die Menschen haben lange Gesichter und schwere Herzen, und wenn sich zwei Bekannte begegnen, zucken sie die Achsel und eilen fast ohne Gruß aneinander vorüber — es ist eine böse Zeit! — Missmutig hatte ich die Zeitung weggeworfen, eine frische Pfeife gestopft und ein Buch herabgenommen und aufgeschlagen. Es war ein einfaches altes Buch, in welches Meister Daniel Chodowiecki gar hübsche Bilder gezeichnet hatte: Asmus omnia sua secum portans, der prächtige „Wandsbecker Bote” des alten Matthias Claudius, weiland Homme de lettres zu Wandsbeck, und recht ein Tag war’s, darin zu blättern. Der Regen, das Brummen und Poltern des Feuers im Ofen, der Widerschein desselben auf dem Boden und an den Wänden — alles trug dazu bei, mich die Welt da draußen ganz vergessen zu machen und mich ganz in die Welt von Herz und Gemüt auf den Blättern vor mir zu versenken.

Aufs Geratewohl schlug ich eine Seite auf: Sieh! — Da ist der herbstliche Garten zu Wandsbeck. Es ist ebenso neblig und trübe wie heute; leise sinken die gelben Blätter zur Erde, als breche eine unsichtbare Hand sie ab, eins nach dem andern. Wer kommt da den Gang herauf im geblümten bunten Schlafrock, die weiße Zipfelmütze über dem Ohr? — Er ist’s: Matthias Claudius, der wackere Asmus selbst! — Bedächtiglich schreitet er einher, von Zeit zu Zeit stehenbleibend; jetzt ein welkes Blatt aufnehmend und das zierliche Geäder desselben betrachtend; jetzt in die nebelige Luft hinaufschauend. Er scheint in Gedanken versunken zu sein. Denkt er vielleicht an den Vetter oder den Freund Hein, an den Invaliden Görgel mit der Pudelmütze und dem neuen Stelzbein; denkt er an die neue Kanone oder an das Ohr des schuftigen Hofmarschalls Albiboghoi? Wer weiß! — Sieh! Wieder bleibt er stehen. Was fällt ihm ein?! Lustig wirft er die weiße Zipfelmütze in die Luft und tut einen kleinen Sprung: ein großer Gedanke ist ihm „aufs Herz geschossen” — das große neue Fest der Herbstling ist erfunden — der Herbstling, so anmutig zu feiern, wenn der erste Schnee fällt, mit Kinderjubel und Bratäpfeln und Lächeln auf den Gesichtern von jung und alt! —

Wenn der erste Schnee fällt — wie ich in diesem Augenblick wieder einmal einen Blick zur grauen Himmelsdecke hinaufwerfe, da kommt er herunter — wirklich herunter, der erste Schnee!

Schnee! Schnee! Der erste Schnee!

In großen wässrigen Flocken, dem Regen untermischt, schlägt er an die Scheiben, grüßend wie ein alter Bekannter, der aus weiter Ferne nach langer Abwesenheit zurückkommt. Schnell springe ich auf und ans Fenster. Welche Veränderung da draußen! Die Leute, die eben noch mürrisch und unzufrieden mit sich und der Welt umherschlichen, sehen jetzt ganz anders aus. Gegen den Regen suchte sich jeder durch Mäntel und Schirme auf alle Weise zu schützen, dem Schnee aber kehrt man lustig und verwegen das Gesicht zu.

Der erste Schnee! Der erste Schnee!

An den Fenstern erscheinen lachende Kindergesichter, kleine Händchen klatschen fröhlich zusammen: welche Gedanken an weiße Dächer und grüne funkelnde Tannenbäume! Wie phantastisch die Sperlingsgasse in dem wirbelnden weißen Gestöber aussieht! Wie die wasserholenden Dienstmädchen am Brunnen kichern! Der fatale Wind!

„Gehorsamster Diener, Herr Professor Niepeguk! Auch im ersten Schnee?”

„Ärztliche Verordnung!” brummt der Weise und lächelt herauf zu mir, so gut es Würde und Hypochondrie erlauben.

Auf der Sophienkirche schlägt’s jetzt! — Erst vier? Und schon fast Nacht! — „Vier!” wiederholen die Glocken dumpf über die ganze Stadt. Jetzt sind die Schulen zu Ende! Hurra — hinaus in den beginnenden Winter! Die Buben wild und unbändig, die Mädchen ängstlich und trippelnd, sich dicht an den Häuserwänden hinwindend.

Hier und dort blitzt nun schon in einem dunklen Laden ein Licht auf, immer geisterhafter wird das Aussehen der Sperlingsgasse.

Da kommt der Lehrer selbst, seine Bücher unter dem Arm; aufmerksam betrachtet er das Zerschmelzen einer Flocke auf seinem fadenscheinigen schwarzen Rockärmel. Jetzt ist die Zeit für einen Märchenerzähler, für einen Dichter. — Ganz aufgeregt schritt ich hin und her, vergessen war die böse Zeit; auch mir war, wie weiland dem ehrlichen Matthias, ein großer Gedanke „aufs Herz geschossen”. — „Ich führe ihn aus, ich führe ihn aus!” brummte ich vor mich hin, während ich auf und ab lief; wie verwundert mich auch alle meine Quartanten und Folianten von den Büchergestellen anglotzten, wie spöttisch auch das Allongeperückengesicht auf dem Titelblatt der dort aufgeschlagenen Schwarte hergrinste!

„Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse!”

„Eine C h r o n i k d e r S p e r l i n g s g a s s e ! “

Ein Kinderkopf drückt sich drüben im Hause gegen die Scheibe, und der Lampenschirm dahinter wirft den runden Schatten über die Gasse in mein dunkles Fenster und über die Büchergestelle an der entgegengesetzten Wand. Ein gutes, ein glückliches Omen! Grinst nur, ihr Meister in Folio und Quarto, ihr Aldinen und Elzeviere! Ein Bilderbuch der Sperlingsgasse, eine Chronik der Sperlingsgasse! Ich musste mich wirklich setzen, so arg war mir die Aufregung in die alten Beine gefahren, und benutzte das gleich, um ein Buch Papier zu falzen für meinen großen Gedanken und einen letzten Blick hinauszuwerfen in den ersten Schnee. Bah! — Wo war er geblieben? Wie ein guter Diener war er, nachdem er die Ankunft seines Meisters, des gestrengen Herrn Winters, verkündet hatte, zurückgekehrt, ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

Ich bin ein einsamer alter Mann geworden! Die bunten, ewig wechselnden, ewig neuen Bilder dieses großen Bilderbuches, Welt genannt, werden meinen alten Augen dunkler und dunkler; mehr und mehr schwimmen sie, mehr und mehr fließen sie ineinander. Ich bin mit meinem Leben da angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet. Ich bin alt und müde; es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.

Schaue ich auf aus meinen Träumen, so sehe ich zwar das gleiche Lächeln, das gleiche Schmerzenszucken auf den Menschengesichtern um mich her wie vor langen, blühenderen Jahren. Aber wenn auch Freude und Leid die gleichen geblieben sind auf der alten Mutter Erde: die Gesichter sind mir fremd — ich bin allein! — Allein — und doch nicht allein. Aus der dämmerigen Nacht des Vergessens taucht es auf und klingt es; Gestalten, Töne, Stimmen, die ich kannte, die ich vernahm, die ich einst gern sah und hörte in vergangenen bösen und guten Tagen, werden wieder wach und lebendig; tote, begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu blühen; vergessener Kindermärchen entsinne ich mich; ich werde jung und — fahre auf und — erwache!

Versunken ist dann die Welt der Erinnerung, mich fröstelt in der kalten traurigen Gegenwart, drückender fühle ich meine Einsamkeit, und weder meine Folianten noch meine andern mühsam aufgestapelten gelehrten Schätze vermögen es, die aufsteigenden Kobolde und Quälgeister des Greisenalters zu verscheuchen. Sie zu bannen, schreibe ich die folgenden Blätter, und ich schreibe, wie das Alter schwatzt. Für einen Freund will ich diese Bogen ansehen, für einen Freund, mit dem ich plaudere, der Geduld mit mir hat und nicht spöttelt über Wiederholungen — ach, das Alter wiederholt ja so gern! —, der nicht zum Aufbruch treibt, wo die vertrocknete Blume irgendeiner süßen Erinnerung mich fesselt, der nicht zum Bleiben nötigt, wo ein trübes Angedenken unter der Asche der Vergessenheit noch leise fortglimmt. Eine “Chronik” aber nenne ich diese Bogen, weil ihr Inhalt, was den Zusammenhang betrifft, gar sehr jenen alten naiven Aufzeichnungen gleichen wird, welche in bunter Folge die Begebenheiten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählen; die jetzt eine Schlacht mitliefern, jetzt das Erscheinen eines wundersamen Himmelszeichens beobachten, die bald über den nahen Weltuntergang predigen, bald wieder sich über ein Stachelschwein, welches die deutsche Kaiserin im Klostergarten vorführen lässt, wundern und freuen. Und wie die alten Mönche hier und da zwischen die Pergamentblätter ihrer Historien und Messbücher hübsche, farbige, zierlich ausgeschnittene Heiligenbilder legten, so will ich ähnliche Blätter entflechten und durch die eintönigen farblosen Aufzeichnungen meiner alten Tage frischere, blütenvollere Ranken schlingen.

Ich, der Greis — der zweiten Kindheit nahe, will von einem Kinde erzählen, dessen Leben durch das meinige ging wie ein Sonnenstrahl, den an einem Regentage Wind und Wolken über die Fluren jagen, der im Vorbeigleiten Blumen und Steine küsst und in derselben Minute das glückliche Gesicht der Mutter über der Wiege, die heiße Stirn des Denkers über seinem Buche und die bleichen Züge des Sterbenden streifen kann. Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern; was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefasst, zusammenheften, und bin ich müde — nun, so schlage ich dieses Heft zu, wühle weiter in meiner schweinsledernen Gelehrsamkeit und kompiliere lustig fort an meinem wichtigen Werke „De vanitate hominum”, einem ausnehmend — dicken Gegenstande.