ECHNATON

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Wieland Barthelmess

ECHNATON

oder: Die Abschaffung des Bösen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: Ein Tag im Leben des Ani, Sohn des Imenhotep

Malqata: Glanz des Aton, Haus des Jubels

Achmim: Weiße Schönheit in der Wüste

Das Sed-Fest: Die Macht Pharaos

Merit-amun: Das Licht der Sonne

Das Tal der Könige :Niemand kehrt wieder

Amenhotep, der Vierte: Gott und Herrscher von Waset

Echnaton: Der, durch den Aton wirkt

Achet-aton: Horizont des Aton

Neuanfang: Der Umzug der Tausende

Kija: Große geliebte Gemahlin des Königs

Tut-anch-aton: Lebendes Abbild des Aton

Götterdämmerung: Niemand nimmt dereinst mit sich, woran er gehangen.

Epilog: Achet-atons Ende

ANHANG

Echnaton: Der Große Sonnenhymnus

Stammbaum Echnaton und Nofretete

Glossar

Karte von Ägypten

Karte von Achet-aton

Impressum neobooks

Prolog: Ein Tag im Leben des Ani, Sohn des Imenhotep

Wer die Lüge vernichtet, fördert die gerechte Ordnung,

wer das Gute fördert, macht das Böse zunichte,

wie Sattheit den Hunger vertreibt,

Kleidung den Nackten bedeckt,

wie der Himmel heiter ist nach heftigem Sturm.

Die Klagen des Bauern

oder: Die Geschichte vom beredten Oasenmann

Ägypten, ca. 2000 v. Chr.

Der Charakter eines Mannes wird bestimmt durch seine Familie.

Altägyptische Weisheit

Breit und braun schob sich der Nil durchs Land.

Ani spürte einen Kloß im Hals. Würde er doch noch eine Zeit lang das mit ihm dahinrasende und dabei auch noch unberechenbar strudelnde Wasser unter sich ertragen müssen. Am frühen Morgen hatte ihn der Vater geweckt. Im Stall! Dorthin hatte man ihn zum Schlafen geschickt, weil Mutter schwer in den Wehen gelegen war. Anfangs hatte sie noch geschrieen, so dass Vater meinte, es sei besser, wenn Ani im Stall schliefe. Später hörte Ani nur noch ab und zu ein schwaches Wimmern, das er aber fast noch schlimmer fand als Mutters anfängliche Schmerzensschreie. Als der Vater ihn dann am Morgen sanft wachrüttelte, hatte Ani ihm nur ins Gesicht blicken müssen, um zu wissen, was geschehen war.

Kaum dass Ani ins Haus hinüberlaufen wollte, sah er das bereits ausgehobene Grab. Er erfror in seiner Bewegung und schlich sich schließlich langsam näher. Eine kleine zierliche Figur lag darin, eingewickelt in leinenen Tüchern. In ihren Armen ein ebenfalls in Leinen gewickeltes Bündel. Ani spürte wie sein Vater ihn von hinten fest umarmte. Er wäre sonst sicherlich gefallen.

Mit bloßen Händen hatten Vater und Sohn die trockene Erde in die Grube zurück gescharrt. Wie im ganzen Land war auch hier der Boden mehr Staub als Erde, wenn er denn nicht vom alljährlich herbeigesehnten fruchtbaren Nilschlamm bedeckt worden war. Zudem war er durchsetzt mit zahllosen Steinen, deren Geräusch, wenn sie auf die toten Körper fielen, Ani jedes Mal erschaudern ließ. Am Ende standen Vater und Sohn über und über mit Staub bedeckt und sahen aus wie graue Statuen aus Stein. Nur die Rinnsale, die aus ihren Augen drangen, schienen als Einziges auf Leben in diesen versteinerten Menschen hinzudeuten. Braun glänzte ihre feuchte Haut an den von den Tränen frei gewaschenen Stellen, die im Zickzack ihre Wangen hinunterliefen.

Seit zwei Tagen schon hatte Vater an dem Papyrusboot geflochten, das sie nun den Nil hinunter trug. Denn dass er würde fahren müssen, war klar: Entweder um der Göttin Mut für eine gesunde Geburt zu danken oder um Gott Amun zu besänftigen, der ihm in seinem Zorn Frau und Kind genommen hatte. So fuhren sie nun die etwas längere Strecke flussabwärts, um Amun ihr Opfer zu bringen. Ani hielt den Korb, in dem die dem Gott zugedachten Gaben verborgen waren, krampfhaft fest, damit sie nur nicht im Nil versanken. Der Fluss war in diesen Tagen derart reißend, dass Vater gemeint hatte, die Rückfahrt flussaufwärts sei ohne jeden Zweifel ausgeschlossen. Ihnen würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als das Papyrusboot schließlich gegen etwas Essbares einzutauschen und dann zu Fuß wieder nach Hause zurückzukehren.

Obwohl Ani schon oft auf dem Nil unterwegs gewesen war, sei es zum Fischen, um Verwandte zu besuchen oder um Besorgungen zu erledigen, so war er doch nie bis in die große Stadt gekommen. Er staunte, als an ihr vorüberfuhr, weit genug entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, doch nah genug, um zu spüren, dass die Stadt brodelte. Der Gute Gott, der Pharao, lebte dort und wachte über seine Kinder. Doch seine Mutter, so dachte Ani trotzig, würde er ihm dennoch nicht zurückgeben können. Obwohl die Tempel, in deren Inneren die Götter wohnten, dort tatsächlich wie weiße Berge in den Himmel ragten.

Noch bevor Atons Scheibe am höchsten stand, sah Ani sie: Irgendwo in weiter Ferne, am Rand des überschwemmten Landes, umwimmelt von Häusern und Hütten ragten die Pylonen der Tempel empor, an denen lange Stangen mit schlanken Bannern angebracht waren, die in der nahenden Mittagsglut tanzten. Der Wind, der in großer Höhe steter wehte, wie sein Vater ihm erklärt hatte, ließ sie sich winden wie lange Schlangen, die das Heiligtum bewachten. Soeben glitt ihr Boot am Tempel der Mut vorbei, wie Vater einsilbig anmerkte. Welch prächtiger Bau! Ani hatte noch nie ein derart großes Gebäude gesehen, das überdies noch mit bunten Reliefs geschmückt war. Doch der nur ein weiteres kurzes Stück flussabwärts gelegene Tempelbezirk des Amun übertraf Muts Heiligtum noch bei Weitem an Wucht und schierer Größe. Ani blieb der Mund offen stehen. Die beiden vor Jahrhunderten errichteten Obelisken überragten die Anlage, so dass ihre goldenen Spitzen das Sonnenlicht fingen und gleißend widerspiegelten. Fast konnte man meinen, eine kleine Sonne throne auf jeder der Spitzen. Diese Obelisken hatte Pharao Hatschepsut aufstellen lassen, von dem man sich erzählte, dass er eigentlich eine Frau gewesen sei. Aber gerne sprach man nicht darüber, denn allzu groß war die Verehrung und Hochachtung, die man diesem großen Herrscher entgegenbrachte, als dass man sie mit derart ungehörigen Dingen beflecken wollte.

Anis Vater ließ das Boot ans Ufer treiben, noch lange bevor sie die Anlagestelle des Amun-Tempels erreicht hatten. „Da sind mir zu viele Menschen unterwegs“, sagte er nur. „Nachher ist unser Boot noch verschwunden. Hier in der Stadt klauen sie alle wie die Paviane!“ Und in der Tat: Es herrschte quirliges Treiben am Bootssteg flussabwärts. Ein prächtiges Schiff, bewacht von mehreren Bewaffneten, lag dort vertäut. Es musste einem Fürsten gehören, so verschwenderisch war es bemalt und mit bunten Stoffen geschmückt. Es standen Dutzende von Leuten herum, die gafften und schwatzten. Unter ihnen priesen Wasserverkäufer ihr kühles Gut an, eine Frau mit schriller Stimme versuchte auf sich aufmerksam zu machen, um ihre Amulette zu verkaufen und eine Menge neugieriger Kinder wuselte herum.

So nah der dichte Schilfgürtel es zuließ, steuerte der Vater das Boot ans Ufer und befestigte es an einem aus dem Schlick heraus ragenden Ast. Ani erschrak, als er ins Wasser sprang und spürte, dass seine Füße sogleich im Schlamm versanken. „Ja, hier kannst du nicht stehen bleiben“, sagte der Vater, „hier musst du laufen!“ und reichte ihm den Korb mit den Opfergaben. Ani musste aufpassen, dass er sie auch sicher an Land brachte, denn nur so würde der zornige Gott zu besänftigen sein. Er merkte das Gewicht der Verantwortung, das auf seinen Schultern lag. Doch schließlich spürte er wieder festen Boden unter den Füßen. Zufrieden drehte der Vater sich um. „Unser Boot wird hier so schnell niemand entdecken“, meinte er halblaut. „Ich hoffe nur, dass wir selbst es nachher auch wieder finden.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wollte der Vater sich schon auf den Weg in Richtung Anlegestelle machen, als er mitten in der Außenmauer des Tempels eine kleine Pforte entdeckte. Sie war kaum auszumachen gewesen, war sie doch mit Mauerwerk bemalt, das sich aufs Genaueste dem echten Gemäuer anpasste. So war es nur aus allernächster Nähe möglich, sie tatsächlich auch als Täuschung zu erkennen. Prüfend klopfte der Vater dagegen - und in der Tat: Es klang, als ob es hohl dahinter wäre. Er drückte dagegen – und tatsächlich: Sie war nicht verschlossen. Vorsichtig drückte er sie auf, wobei sie seltsamerweise keinen Ton von sich gab. Also, dachte Ani, dürfte es nicht allzu selten geschehen, dass sie benutzt wurde. Hinter der Pforte war es stockdunkel und Ani konnte fühlen, wie kühle Luft aus dem Inneren des Tempels zu ihnen in die Mittagsglut strömte, angefüllt mit dem Duft von Weihrauch und Myrrhe. Ani erschauderte, denn er spürte, dass er dem Gott nahe war.

 

„Ja, hier haust Amun“, nickte der Vater wie zur Bestätigung, der ebenfalls den Duft des Gottes gerochen hatte. „Der Herrscher der Orakel, der Zürnende. Und keiner weiß so recht, warum er überhaupt zürnt.“ Vater nahm Ani den Korb aus den Händen. „Ich erledige das hier jetzt gleich. Und du bleibst auf der Stelle stehen und wartest, bis ich wiederkomme.“

„Nimm mich mit!“, flehte Ani, doch der Vater schüttelte den Kopf und sah ihn streng an. Schon war er im Dunkel des Tempels verschwunden, während Ani ihn noch rufen hörte: „Ihr heiligen Männer, wo seid ihr, um meine Gaben zu empfangen? Wo seid ihr, ich höre doch eure Stimmen?“ Nach einer Weile Grabesstille konnte Ani den Vater wie aus weiter Ferne abermals rufen hören: „Ihr heiligen Männer, für Gott Amun bringe ich meine Opfergaben. So zeigt euch und nehmt sie entgegen!“ Auf einen Wimpernschlag absoluter Ruhe folgte ein Schrei - dann noch einer und dann noch einer, gurgelnd und erstickend. Ani schreckte derart zusammen, so dass er unwillkürlich einen Schritt nach hinten tat. Er stolperte, er fiel, er hörte Schritte und Stimmen, er sprang auf, lief fort. Wohin nur? Wohin?

Plötzlich stand er vor ihm: Ein Junge – etwa in seinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Nur so ganz anders sah er aus. „Verpetz mich nicht!“, sagte der andere außer Atem, was Ani zunächst verwirrte, klang es doch eher wie ein Befehl und weniger wie eine Bitte. Doch Ani spürte eine seltsame Komplizenschaft in sich aufkeimen, denn auch er wollte nichts anderes, als schleunigst wegzukommen von diesem grauenhaften Ort. „Komm!“, winkte er dem Jungen zu. „Im Schilf, da liegt unser Papyrusboot.“

Als Ani dem Jungen ins Boot half, sah er die schlammverschmierten goldene Sandalen an dessen Füßen. So etwas hatte er noch nie gesehen! Also nahm er die Füße des Jungen, einen nach dem anderen, und schwenkte sie im Flusswasser ab. „Du kannst mich doch nicht einfach anfassen“, staunte der fremde Junge, schaute dann aber doch ganz zufrieden drein, als seine Füße wieder sauber waren.

“Wieso denn das nicht?“, fragte Ani verwundert. Erst jetzt bemerkte er, was den Jungen so vollkommen anders aussehen ließ. Es war weniger die erlesene Kleidung, wie die goldenen Sandalen, der Schurz aus allerfeinstem Leinen, der breite Sonnenschutzkragen aus bunten Perlen oder das aufs Peinlichste in Falten gelegte Tuch, das von einem Goldreif auf dem Kopf des Jungen gehalten wurde. Diese Aufmachung erschien Ani schon eigentümlich genug, allein, weil sie von einer derartigen Gediegenheit war, wie er sie noch nie gesehen hatte. Was Ani sein Gegenüber so fremdartig erscheinen ließ, war vielmehr der gepflegte und wohlgenährte Körper des Jungen. Zudem war seine Haltung eigenartig gekünstelt. Er hockte nicht einfach auf den zu einem Boot gebundenen Papyrusstängeln, sondern er thronte geradezu auf ihnen. Es war offensichtlich, dass seine Haut nie lange der Sonnenglut ausgesetzt war. Sie war zwar nicht wirklich hell, allerdings auch keineswegs verbrannt, wie bei den Menschen zu Hause, die auf den Feldern arbeiteten. Außerdem war sie sauber und ohne jegliche Schrammen, Narben oder Pusteln. Und als Ani die gepflegten Hände sah, zischte er unwillkürlich mit den Zähnen.

„Was glotzt du denn so blöde?“ Der andere fühlte sich begutachtet, was ihm offenbar wenig behagte. „Ist das überhaupt dein Boot? Oder bist du so was wie ein Dieb?“

„Ich bin kein Dieb“, entgegnete Ani entrüstet, „genauso wenig wie ich ein Verräter bin.“

Erst jetzt nahmen sie die Priester wahr, die aus der Pforte hervorgequollen kamen und spähend sowie Verwünschungen ausstoßend an der Tempelmauer standen oder das Ufer absuchten. Der komische Junge schien Freude an der Szene zu haben, denn er duckte sich hinter das Schilf wie eine Katze, die sich auf einen Leckerbissen freut.

„Sollten wir nicht lieber abhauen?“, fragte Ani besorgt. „Der Fluss ist so reißend, dass wir längst weit weg sein werden, bis sie uns überhaupt gesehen haben.“

„Und dann?“, kam die Antwort. „Bis nach Malqata werden wir’s mit deinen armseligen Schilfbündeln wohl kaum schaffen.“ Dabei deutete der Junge auf ein in weiter Ferne liegendes flaches, aber weiträumiges Gebäude auf der anderen Seite des Nils.

„Was?!“, rief Ani fast ein wenig zu laut, um nicht die Priester auf sich aufmerksam zu machen. „Auf die andere Seite des Nils, in die Duat sollen wir fahren? Ins Reich der Toten und der Götter? Du bist doch nicht recht bei Trost?“

„Was für einen Blödsinn redet er daher?“ Der Junge funkelte ihn herrisch an. „Wer ist er überhaupt? Und was hat solch ein Bauernlümmel hier am Allerheiligsten des Tempels zu schaffen?“

„Dich in mein Boot retten.“ Ani blickte ihm fest in die Augen. „Wenn du willst, kannst du gerne aussteigen und zu deinen Priestern rübergehen.“

„Das sind nicht meine Priester. Das sind Amuns Priester.“

Ani meinte, etwas Feindseliges in der Stimme des Jungen zu hören. Und um der Maat Genüge zu tun, die Ausgewogenheit in allen Lebenslagen forderte, raunte er dem Jungen versöhnlich zu: „Ich bin übrigens Ani, der Sohn des Imenhotep.“

„Das passt ja gut!“ Der andere lachte. „Ich bin Amenhotep, der Sohn des Amenhotep.“ Stolz richtete er sich auf.

„Ja, komisch. Klingt ähnlich. Imenhotep – Amenhotep.“ Ani zuckte mit den Schultern.

„Du bist ja ein richtiger Bauerntrampel!“ Der Junge war begeistert und strahlte ihn an. „Imenhotep – Amenhotep. Das ist doch ein und dasselbe. Nur, dass ihr Bauern eben eine nachlässige Aussprache habt und euch schließlich auch noch an euer Genuschel gewöhnt habt und die Sprache verhunzt.“

„Warum beleidigst du mich?“ Ani wurde ärgerlich.

„Mein lieber Ani, das ist keine Beleidigung, sondern lediglich eine Feststellung.“

„Na, dann wirst du ja froh sein, wenn der Bauerntrampel dich von seinem verdreckten Papyrusboot runterschmeißt.“

„Ganz und gar nicht“, sagte Amenhotep versöhnlich. „Ich hab nämlich noch nie mit einem echten Bauerntrampel gesprochen. Meine Schwester Sit-amun und meine Base machen gerne eure Sprache nach und wir haben immer viel Spaß daran.“

„Wozu? Wenn ihr euch was zu sagen habt, dann sagt es in der Sprache, die ihr versteht. Und wenn ihr euch nichts zu sagen habt, dann haltet lieber das Maul.“ Ani war nun wirklich verärgert.

„Wie redest du mit mir?!“ Der fremde Junge wollte gerade vor Empörung aufspringen, als Ani ihn glücklicherweise noch rechtzeitig am Schurz packen und nach unten ziehen konnte, bevor er vom Ufer aus gesehen wurde.

„Pst! Sei still!“, wurde er von Ani angeherrscht. „Du willst doch unerkannt hier fortkommen. Was hast du überhaupt angestellt da drinnen? Vielleicht bist du der Dieb von uns beiden und hast dem Gott etwas von seinen Opfergaben stibitzt?“

„Ich darf doch bitten!“ Amenhotep sagte dies mit einer derartigen Entrüstung in der Stimme, dass Ani ihm augenblicklich glaubte, dass solch ein Gedanke ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre. „Ich habe der Wahrheit ins Gesicht geblickt“, sagte Amenhotep fast ehrfürchtig.

„Das ist meistens keine angenehme Begegnung.“

„Nein, meistens nicht. Aber man hat danach wenigstens Klarheit. Man weiß, von wem man belogen wird.“

„Ach komm, Amenhotep! Jeder von uns hat seine eigene Wahrheit. Ich hab meine, du hast deine, mein Vater hat seine und dein Vater ebenso.“

„Bauerntölpel-Blödsinn! Wir müssen uns nur trauen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Wenn die Sonne aufgeht, ist die Nacht vorbei. Das ist die Wahrheit. Die Nacht ist voller Schrecken, Angst und Tod. Die Sonne ist Wahrheit und bringt sie ans Licht.“

„Oh je!“, Ani kicherte verhalten. „Da haben wir’s. Du bist der Sohn eines Priesters und redest deswegen solch ein Zeug daher. Womöglich bist du noch der Sohn eines Oberpriesters einer dieser verrückten Sekten.“

„Fast richtig!“, erwiderte Amenhotep und kicherte ebenfalls.

Plötzlich zogen sich die Priester zurück. Einer nach dem anderen verschwand wieder hinter der Pforte. Kaum war sie geschlossen, als sie abermals geöffnet wurde und zwei Priesterschüler etwas Schweres herausschleppten, ein Dritter hinterher.

Jetzt war es Amenhotep, der seinen neuen Freund im Boot zurückhalten musste. Und da er fürchtete, Ani könne jeden Augenblick anfangen, wie von Sinnen zu schreien, überlegte Amenhotep einen kurzen Atemzug lang, ob es denn nicht eine allzu widerwärtige Entweihung seiner selbst wäre, wenn er Ani den Mund zuhielte. Schließlich entschied er sich jedoch dafür, dass dies eine mit einem Kriegsfall vergleichbare Situation sei, die somit derartige Mittel erlaubte. Gerade noch rechtzeitig, denn Ani krümmte sich vor Schmerz, als hätte man ihm in den Magen getreten. Anis Tränen liefen über seine Hand, die er mit aller Kraft vor den Mund seines neuen Freundes hielt, während Amenhotep etwas Eigentümliches verspürte. Es war ein Gefühl, dass er bislang nur gegenüber seinen Eltern, Geschwistern, Verwandten und Freunden gekannt hatte. Außenstehende oder gar Fremde waren davon ausgeschlossen. Denn mit Menschen, die man nicht berührte, hatte man dort, wo er herkam, nur äußerst selten Mitgefühl.

Die Priester schleppten einen übel zugerichteten Toten heraus und schmissen ihn etwas flussabwärts wie ein Stück Abfall in den Nil. Ani krümmte sich vor Schmerz und versuchte, sich aus Amenhoteps Armen zu befreien, die bereits drohten, ihre Kraft zu verlieren. Also nahm Amenhotep Ani einfach fest in die Arme und strich ihm tröstend über den Kopf.

Schon längst waren die Priester wieder hinter der geheimnisvollen Pforte verschwunden, als Ani sich soweit beruhigt hatte, dass er versuchen konnte, sich zu erklären. „Das war mein Vater. Sie haben meinen Vater erschlagen! Warum nur? Warum? Er wollte Opfergaben bringen für Gott Amun, der in seinem Zorn mir erst heute im Morgengrauen die Mutter und die neugeborene Schwester genommen hat.“

Amenhotep hielt das schluchzende Bündel Mensch fest in seinen Armen, das binnen eines Tages alle seine Lieben verloren hatte. Fast meinte er, dieselben Schmerzen fühlen zu können wie Ani. Nur dessen langsam aufziehende Angst vor dem Morgen kannte er nicht. „Er hat das Allerheiligste betreten“, versuchte Amenhotep zu erklären. „Keiner darf das, nur der Pharao und der Oberpriester. Darauf steht der Tod.“

„Woher weißt du denn das?“

„Oh, so etwas bringt man mir im Unterricht bei. Und noch etliches anderes mehr…“

„Nein!“, unterbrach ihn Ani. „Ich meine, woher weißt du, dass mein Vater das Allerheiligste betreten hat? Er wollte nur Gott Amun opfern, um ihn gnädig zu stimmen.“

„Na, ich war doch dabei!“ sagte Amenhotep verwundert. „Plötzlich stand er da, wie aus dem Erdboden gewachsen und hatte einen Korb mit sich.“

„Ja, die Opfergaben. Hat Amun sie bekommen?“

Amenhotep stutzte. „Ja, sicher. Natürlich hat er sie bekommen. Dein Vater hat sie ihm direkt vor die Füße gelegt. Verstehst du denn nicht? Dein Vater ist mir nichts dir nichts in das Allerheiligste des Gottes Amun gelaufen, des Dunklen, den niemand erblicken darf. Er hat dem Gott ins Angesicht geschaut. Also musste er sterben.“

Ani wurde bleich vor Schrecken. „Aber er wollte doch nur die Opfergaben bringen. Und was hast du getan? Du hast einfach zugesehen, wie man einen unbescholtenen Mann umbringt?“

„Ich wusste ja nicht, dass es dein Vater war. Und dich kannte ich ja auch noch gar nicht. Er war einfach nur ein Mann, der am falschen Ort war.“

„Er ist tot! Für dich ist es lediglich ein Missverständnis, eine Bagatelle! Aber für mich war er der letzte Mensch, den ich noch hatte.“ Ani wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Jetzt sag mir, warum hast du dich dann überhaupt verborgen?“

 

„Der Gang führt direkt ins Allerheiligste.“

„Na und?“ Ani verstand nicht. „Du warst doch längst schon draußen.“

„Sicher. Aber wer durch diesen Gang kommt, war vorher zwangsläufig im Allerheiligsten.“

„Aha…“ Ani begann zu verstehen. „Warst du es etwa, der meinen Vater getötet hat?“

„Blödsinn! Ich hatte gerade eine Unterweisung durch den Oberpriester. Die letzte Tempelkammer vor dem Allerheiligsten ist von diesem nur durch einen halbdurchsichtigen Vorhang getrennt. Und hinter dem thront Gott Amun. Plötzlich stand dein Vater direkt neben dem Gott und legte ihm seine Gaben zu Füßen. Es gab einen unglaublichen Tumult. Ich habe ihn genutzt. Ich bin durch den Vorhang geschlüpft und habe Amun endlich ins Gesicht geschaut. Und soll ich dir sagen, was ich erblickt habe? Eine lächerliche Statue aus schwarzem Stein, leblos und starr. Ohne jedes Leben. Sie war noch nicht einmal von besonders erlesener Qualität. Irgendeine Statue wie sie in jedem Provinz-Tempel herumsteht. Ein Popanz, ein Mummenschanz, ein Spuk, um kleinen Kindern Angst zu machen.“

„Lass mich gehen, ich muss Vater suchen, damit ich ihn wenigstens richtig bestatten kann.“ Schon war Ani aus dem Boot gesprungen und hatte den Morast mit schnellen Schritten durchquert, um am Ufer entlang zu laufen bis zu der Stelle, wo die Priester den Leichnam ins Wasser geworfen hatten. Obwohl der Nil schnell dahinströmte war der Körper des Vaters nicht allzu weit abgetrieben worden. In einem Gestrüpp, das kaum noch aus der Flut herausragte, war er hängen geblieben. Schnell war Ani dorthin gewatet. Doch so sehr er auch zog und zerrte, das Wasser drückte den Leichnam immer stärker ins Gebüsch. „So hilf mir doch!“, rief er Amenhotep zu, der inzwischen ebenfalls das Boot verlassen hatte und am Ufer stand.

„Lass das!“, kam Amenhoteps Antwort. „Ich hole Hilfe. Und dann bekommt dein Vater die ihm gebührende Bestattung.“ Schon war er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in Richtung der Anlagestelle gelaufen. Ani sah ein, dass all seine Versuche nichts weiter bewirken würden, als dass der Leichnam vom Druck des Stroms nur noch tiefer ins Gebüsch gedrückt werden würde. So setzte er sich ans Ufer, aufmerksam darauf achtend, dass der Fluss den Körper nicht doch noch mit sich riss oder gar Krokodile sich daran zu schaffen machten.

Da saß er nun. Heute Morgen erst hatte er Mutter und Schwester in der kargen Erde begraben und nun starrte er auf den toten Vater, der der letzte Mensch war, den er auf dieser Welt noch hatte. Mit seinen ausgebreiteten Armen, die sich mit der Strömung bewegten, erinnerte ihn der tote Vater an einen Falken, der nahezu bewegungslos hoch über der Wüste schwebte. Ani fühlte sich einsam und verlassen. War er doch wie das Stück Treibholz, das er gerade vorbei strudeln sah. Es gehörte niemandem mehr und es trieb sinn- und zwecklos ins Nirgendwo. Wozu sollte er noch zurück in die elterliche Hütte? Das Land bebauen? Das konnte er niemals allein. Hatte es doch schon sein Vater kaum geschafft. Man würde ihn einfach von dem Stück Land fortjagen, das man seinem Vater zur Bewirtschaftung zugeteilt hatte. Er war jetzt wie einer der Köter, die ziellos umherstreiften und darauf hofften, von einer gnädigen Seele etwas Essbares zugeworfen zu bekommen.

Plötzlich schob sich ein mächtiger Schatten stromaufwärts. „Ani!“, hörte er rufen. „Ani, komm an Bord!“ Das prächtige Boot, das vorhin an der Anlegestelle dümpelte, hatte Segel gesetzt und war direkt auf ihn zugekommen. Eine Strickleiter hing an seiner Bordwand herunter, auf deren Höhe Amenhotep über die Reling lugte. Zwei Soldaten kletterten die Leiter hinunter und machten sich daran, Anis Vater aus dem Gestrüpp zu befreien. Sie legten ihn auf eine ebenfalls herabgelassene Bahre, die sogleich wieder an Bord gehievt wurde. Alles war so schnell vor sich gegangen, dass Ani seinem toten Vater kaum hatte ins Gesicht blicken können.

„Ani, komm mit an Bord!“ Amenhoteps Stimme war voller Mitgefühl. „Wir bringen ihn ins Einbalsamierungshaus, wo er siebzig Tage bleiben wird. Danach kannst Du ihn bestatten. Der Gute Gott hat sicherlich noch irgendwo ein freies Grab für einen verdienten Mann. Und du, komm mit und bleib bei mir. Hörst du, Ani? Wo sonst willst du denn hin? Du bist doch nun ganz allein. Und berührt hast du mich sowieso schon. Also kannst Du auch mein Diener sein.“

„Dein Diener?! Ich bin ein freier Mensch und diene nur dem Guten Gott!“

„Dann diene halt eben ihm!“, lachte Amenhotep vergnügt.

„Außerdem kann ich die Priester und Einbalsamierer überhaupt nicht entlohnen. Und was wird schließlich dein Vater sagen, wenn du noch einen weiteren Fresser anschleppst, der nichts Rechtes kann?“

„Du solltest dir eher Gedanken wegen meiner Mutter machen. Aber lass das alles mal meine Sorge sein. Und nun komm!“ Amenhotep machte Anstalten als ob er die Strickleiter hinunterklettern wollte. „Ich kann dich einfach auch abführen lassen. Ein Wort von mir und die Bewaffneten kommen dich holen.“

„Das traust du dich nur, weil ich ohne Vater und Namen wehrlos bin und niemand mehr für mich einsteht!“

„Du irrst dich, Ani. Ich bin es, der jetzt für dich einsteht.“

Ani stockte. Denn wieder hatte Amenhoteps Stimme denselben Klang lauterer Wahrheit, wie vorhin, als Ani ihn des Opferdiebstahls bezichtigt hatte. „Warum solltest du das tun? Ich bin doch nur ein Bauerntrampel?“

„Eben drum, Ani, eben drum. Komm! Und jetzt gib mir deine Hand.“ Amenhotep beugte sich weit nach unten, so dass man ihm sogleich zur Hilfe eilen wollte und ein gewaltiger Aufruhr an Bord entstand. Der wurde von Amenhotep jedoch schnell mit einem herrischen „Fort mit Euch!“ weggezischt.

Und da Ani keinerlei Ahnung hatte, was er überhaupt hätte tun sollen - sich den Nil hinab treiben lassen, in der Stadt um milde Gaben betteln oder nach Hause zurücklaufen, wo sowieso niemand mehr auf ihn wartete -, ergriff er Amenhoteps Hand. „Ich freue mich, dass du sie mir reichst“, sagte der, als er seinen neuen Freund an Bord zog.

Kaum hatte Ani die Planken des Schiffes betreten, meinte er, sich in einem Traum wieder zu finden. Eine Reihe Bewaffneter stand bereit, die ihn, einer wie der andere, misstrauisch, ja, feindlich beäugten. Und dennoch war die Schönheit, die ihn plötzlich umgab, dasjenige, was Anis Sinne am meisten beschäftigte. Unter einem weiten Baldachin lagen auf einem Podest, zu dem drei Stufen hinaufführten, Berge von Kissen. Saubere Kissen wohlgemerkt - die aussahen wie neu. Davor stand auf einem hohen Piedestal ein Räuchergefäß, das schwere, süße Düfte verbreitete. Auf einem mit bunten Einlagen geschmückten Tischchen leuchtete ein gefüllter Krug aus blauem Glas im Sonnenlicht, an dessen Außenwänden Wassertropfen perlten - so kühl war das Getränk in seinem Inneren! Gleich daneben stand in einem riesigen Topf ein seltsamer Baum, an dem bunte Schleifen zitternd im Flusswind flatterten. Ein aufgeregter Mensch, Ani konnte sich nicht recht entscheiden, ob er ihn für einen Mann oder eine Frau halten sollte, kam mit einer riesigen goldenen Wasserschale in Händen und einem blendendweißen Tuch über dem Arm auf ihn zu. Er trug ein golden gegürtetes dunkelviolettes, bodenlanges Gewand, in das man die Umrisse von Mandragora-Früchten eingewebt hatte sowie eine übertrieben gelockte Perücke, die ein prächtiger goldener Stirnreif krönte. Sein stark geschminktes Gesicht zeigte nichts als Unwillen. „Du hast ihn berührt, junger Herr“, sagte er vorwurfsvoll zu Amenhotep und hielt ihm die Wasserschale entgegen. Und als der nicht reagierte, versuchte er es abermals. „Du reichtest deine Hand, junger Herr. Dieser Mensch ist unrein, denn er ist nicht von deiner Art…“

„Lass das Wasser und gieß den Weihrauchbaum damit. Er sieht aus als ob er’s nötig hätte“, sagte Amenhotep bestimmt. Und da der Andere zögerte und den Eindruck machte, als habe er nicht recht verstanden, setzte Amenhotep nach. „Na los!“, lachte er und klatschte in die Hände, woraufhin der Violette unterwürfig davonlief. Die Soldaten grinsten. Und nachdem Amenhotep ihnen zugenickt hatte, verteilten sie sich zwanglos auf Deck.

„Ich will meinen Vater sehen!“, sprach Ani seinen Freund plötzlich an.

„Geduld! Komm jetzt, sei vernünftig und setz dich zu mir“, sagte Amenhotep freundlich. „Heute Abend kannst du deinen Vater noch einmal sehen. Wir bringen ihn jetzt sofort ins Einbalsamierungshaus. Lass sie ihn dort ein wenig vorbereiten, damit du dann heute Abend geziemend Abschied nehmen kannst.“

Gemächlich drehte das Schiff im Wind und trieb dem gegenüberliegenden Ufer des Nils entgegen, während die beiden neuen Freunde miteinander plauderten, Amenhotep auf den blitzsauberen Kissen sitzend und Ani auf einer der drei Stufen, die zum Podest emporführten. Amenhotep ließ den Violetten sogar noch ein zusätzliches Glas holen, was dieser eher widerstrebend tat. Ani hatte noch nie etwas derart Köstliches geschmeckt. Es war, als ob sich in seinem Mund eine Lotusblüte öffnete und schwere, süße Aromen freisetzte.